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12.
Die Lüge

Inspektor Montrose hatte erst unmittelbar vor dem Eintritt Warrens das Zimmer des Polizeichefs verlassen.

Die Konferenz der beiden war ziemlich kurz gewesen und hatte sich eigentlich nur um die Erschießung des »Mappen-Gusset« in der Murdockschen Villa gedreht. Derjenige Teil des Gespräches, der auf Roger Warren Bezug hatte, wurde von Inspektor Montrose folgendermaßen eingeleitet:

»Es ist zufällig einer Ihrer Leute von der Zentrale gewesen, der heute nacht in meinem Distrikt einen Mann getötet hat.« Montrose gab die weiteren Einzelheiten des Falles. »Was ich jetzt gern fragen möchte: pflegen alle Ihre Leute zwei Revolver zu tragen?«

»Nicht daß ich wüßte, Montrose. Auch was Warren anbetrifft, weiß ich nichts davon. Aber wie kommen Sie darauf, daß er zwei Revolver bei sich gehabt hat?«

»Er behauptet, den Einbrecher niedergeschossen zu haben. Zunächst habe ich keinen Grund gesehen, Zweifel in seine Aussagen zu setzen, aber wenn er ihn wirklich erschossen hat, dann – bitte, sehen Sie sich mal das hier an!« Damit überreichte er dem Chef die drei aus dem Körper des Toten entfernten Revolverkugeln. Er wies besonders auf das aus der Stirn hervorgeholte Geschoß und deutete zugleich auf einen Rapport mit der Überschrift: »Mikrometrischer Befund.«

Der Polizeichef war ein wenig verwundert. »Die eine Kugel ist 0,750kalibrig, während die beiden anderen das Kaliber 0,75 aufweisen«, las er. »Dementsprechend dürfte Warren im Besitze von zwei Revolvern gewesen sein, mit denen er geschossen hat, oder –«

»Er hat Gusset nicht erschossen, sondern glaubt nur, daß er es getan hat«, bemerkte Inspektor Montrose lakonisch. »Aber weiter, wenn Warren es nicht gewesen ist, wer ist es dann gewesen? Meiner Ansicht nach keine sehr schwere Frage. Der Betreffende, der ihn getötet hat, hat mich beschwindelt, und der Betreffende war James Murdock.«

»Glauben Sie wirklich?«

»Sie mögen selbst beurteilen, ob ich recht habe oder nicht. Die Sache ist höchst einfach. Ich habe Murdock aufgefordert gehabt, mir die Worte zu wiederholen, die der Einbrecher zu ihm gesagt hat, als er in sein Bibliothekzimmer eindrang und ihm die Pistole vor die Nase hielt. Murdock behauptete, sich nicht erinnern zu können. Er hat gelogen. Ich kann mir vorstellen, daß man den Namen seiner Mutter oder meinetwegen sogar seinen eigenen Namen vergißt, aber Murdock soll eine halbe Stunde, nachdem ihn der Mann mit dem Tode bedroht hatte, die Worte vergessen haben, die ohne Warrens Dazwischentreten die letzten gewesen wären, die er in seinem Leben gehört hätte?«

»Die Logik spricht allerdings dagegen«, meinte der Polizeichef. »Aber gesetzt den Fall, Gusset hätte tatsächlich nichts gesagt?«

»Dann wäre Gusset eben mit der unabänderlichen Absicht erschienen, Murdock zu erschießen und hätte ihn nicht um Geld gebeten, wie Murdock behauptet, obwohl er sich angeblich seiner Worte nicht zu erinnern vermag. Wenn das aber der Fall ist, und es kann gar nicht anders sein, dann hat Murdock seine Gründe, uns die Worte, die Gusset gesagt hat, vorzuenthalten.«

»Haben Sie Murdock gegenüber etwas von Ihrer Auffassung geäußert?« fragte der Chef.

»Nein! Das wäre mir denn doch für die Fifth Avenue etwas zu riskant gewesen! Warren hat mir in Murdocks Gegenwart berichtet, daß er den Einbrecher getötet habe, und er hat mir genau gezeigt, wie und an welcher Stelle. Seine Angaben waren absolut einwandfrei, soweit er die Geschichte selber beurteilen konnte. Aber ganz abgesehen davon, konnte ich Murdock verdächtigen, ohne daß ich entsprechende Beweise in Händen hatte? Und ich hatte wirklich noch keinen Anhaltspunkt für die Tatsache, daß er gelogen hatte. Ich hatte nur ein unbestimmtes Verdachtsgefühl, und aus diesem Grunde habe ich den Leichnam hierher beordert und Sachverständige mit dem Fall behelligt. Ich wollte jeden Schnitzer vermeiden.«

»Sehr vernünftig von Ihnen, Inspektor.«

»Danke sehr. Aber warten Sie nur, ich komme jetzt erst richtig in Zug. Also unten in Murdocks Villa war eine tolle Abendgesellschaft. Murdock hat nämlich eine ganz entzückende Tochter. Schutzmann Sanders hat mir inzwischen erzählt, daß Warren vom Haupteingang aus die Treppe hinaufgelaufen ist, während er selber auf seinen Befehl hin stehenbleiben und das Hinterfenster, durch das Gusset eingestiegen war, beobachten sollte. Aber Sanders ist durch dasselbe Fenster geklettert, – was Warren aber nicht weiß, – um ihm rechtzeitig beistehen zu können. Also Sanders rannte die Treppen hinauf, immer hinter Gusset her, dem er gern den Weg abgeschnitten hätte. Der Radau, den die Gesellschaft gemacht hat, muß einfach fürchterlich gewesen sein. Na, in der Treppenhalle jedenfalls fand Sanders keine Menschenseele. Nicht ein einziger Dienstbote war zu sehen. Sie waren samt und sonders unten bei den Gästen. Als Sanders zu der Halle kam, an die das Bibliothekzimmer anstößt, sah er Warren ein paar Schritte vor sich. Es war gerade in dem Augenblick, als Warren den ersten Schuß abfeuerte, mit dem er Gussets Arm traf. Dazu gehört also eine von den beiden 0,75-Patronen.«

Montrose machte eine kleine Pause. Der Polizeichef nickte und sagte: »Weiter bitte.«

»Also Gusset warf sich auf die Erde und, statt auf Murdock zu schießen, feuerte er seinen ersten Schuß gegen Warren, verfehlte ihn aber und hätte beinahe Sanders getroffen, der ganz hinten in der Halle Posten gefaßt hatte. Sanders konnte von seinem Platz aus Gusset nicht sehen, wagte auch nicht seinerseits zu schießen; denn da Warren keine Ahnung hatte, daß er sich bereits im Hause befand, mußte er fürchten, ihn durch einen Schuß von hinten irrezumachen. So liegt die Geschichte. Außerdem hat Sanders bei seinem Verhör angegeben, er habe in der Bibliothekswand einen Einschuß bemerkt, als Warren ihn nach unten schickte, um die Gäste, die natürlich nach oben drängten, zurückzuhalten. Damit ist also auch erklärt, wohin Warrens dritter Schuß gegangen ist. Also nicht in Gussets Schädel, wie er glaubt. Ich weiß übrigens selbst erst seit heute morgen genau Bescheid, und auch Sanders hat keine Ahnung, daß wir drei Kugeln aus dem Leichnam entfernt haben. Daß Murdock bis zu dem Augenblick, wo die Schießerei angefangen hat, allein in seinem Zimmer gewesen ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Wer soll also auf Gusset geschossen haben außer Murdock und außerdem noch mit einer Patrone, deren Kaliber eine Gradeinteilung auf Tausendstel statt auf Hundertstel aufweist. Daher nämlich die 0,750!«

»Eine ganz vorzügliche Überlegung, Inspektor. Und haben Sie sonst noch etwas?«

»Jawohl. Sanders erklärt, daß alle Gäste Warrens Anordnung befolgten und unten blieben, bis er ihre Namen und Adressen notiert hatte, mit Ausnahme der jungen Dame, Miß Audrey Murdock! Sie ist die andere Treppe zum ersten Stock hinaufgeschlüpft. Sanders hat sie zwar nicht hinaufgehen, wohl aber herunterkommen sehen, als ich nachher das Haus betrat und hinaufging.«

»Sie nehmen also an, daß das junge Mädchen mit der Schießerei irgendwie im Zusammenhang stand?«

»Ich möchte nichts annehmen, was sich nicht stützen läßt. Und ich sehe wirklich keinen Anhaltspunkt dafür, um so mehr ja Sanders erklärt, er habe im ersten Stock keine Menschenseele bemerkt gehabt. Ich erwähne diesen ganzen Punkt auch eigentlich nur wegen dessen, was dann geschah. Ich habe selber fünf Töchter großgezogen. Ich weiß also ein klein bißchen Bescheid. Das junge Mädchen nämlich bestand nachher darauf, Warren in ihrem Auto nach Hause zu fahren. Schön, aus Dankbarkeit, weil er ihrem Vater das Leben gerettet hatte. Vorher hatte sie ihm schon den Arm verbunden. Er hat nämlich einen kleinen Streifschuß abbekommen. Warren erklärte Doktor Dell ausdrücklich, daß er schon verbunden sei. Na schön, auch aus Dankbarkeit. Aber ich habe die junge Dame beobachtet, als sie Warren gegenüber darauf bestand, ihn nach Hause zu fahren. Sie ist ein junges, leicht entzündbares Ding. Warren ist der Held in ihren Augen. Also brennt's lichterloh. Ich hoffe nur, Warren hat keine Funken gefangen. – So, das wäre so ziemlich alles. Aber wir scheinen da einen Fang gemacht zu haben, wie man ihn selten an die Angel kriegt. Auf dem Hudson haben sie heute nacht ja einen mächtigen Seidenraub gedeichselt. Dieser Yates ist nun, wie ich von Inspektor Coghlan hörte, ein alter Komplize von unserem Freund Gusset. Beide haben vor zwölf Jahren etwa »in Auftrag« einen Kassenboten geplündert. Gussets Visage und seinen Daumenabdruck hatte ich schon identifiziert, bevor man Yates eingeliefert hatte. Wenn nun Gusset wirklich nicht in Murdocks Villa gegangen ist, um ihn zu berauben, sondern ihn wirklich hat umbringen wollen? Wie reimt sich das zusammen? Ich glaube, es ist nicht schwer zu sagen. Entweder haben Murdock und Gusset, ehe er ins Kittchen gegangen ist oder vielleicht auch nachher – denn er ist schon an die vier Jahre wieder draußen –, direkt oder indirekt was miteinander zu tun gehabt. Wenn die Sache aber, was mir am wahrscheinlichsten vorkommt, vor Gussets Zuchthauszeit gelegen hat, dann hat der Bursche Rache gebrütet. Ich habe mir übrigens gar nicht erst die Mühe gemacht, in Murdocks Villa nach dem 0,750-Revolver lange zu suchen, denn ein Mann von seiner Klugheit hat sicherlich daran gedacht, das Ding loszuwerden, ehe ich wiederkommen konnte. Außerdem hat er, wie ich festgestellt habe, einen Waffenschein. Aber wenn ich mich nicht sehr irre, ist der Revolver inzwischen in einem seiner Bureaus oder wird zum mindesten im Laufe des heutigen Tages dort zu finden sein. Aber eine Spur von einer Entladung wird keinesfalls mehr an der Waffe zu finden sein. So, da wären wir!«

»Sie haben Warren doch wohl nichts von alledem erzählt?«

»Noch keinem Menschen außer Ihnen. Und außerdem habe ich Ihnen lediglich das erzählt, was ich genau weiß, und nichts von dem, was ich außerdem noch vermute.«

»Ich danke Ihnen ganz besonders dafür, Inspektor. Ich muß mir die Geschichte noch einmal überdenken. Würden Sie wohl so freundlich sein und den diensttuenden Beamten in der Zentrale bitten, er möchte Warren mal zu mir schicken? Außerdem tun Sie bitte, was Sie können, daß Warren möglichst rasch auch formell wegen des Totschlags im Dienste entlastet wird. Und wir beide wollen hübsch für uns behalten, was wir wissen, nicht wahr?«


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