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Führen Sie Brownie Joe Goodman in die Leichenhalle. Er soll sich den ›Masken-Micky‹ und die ›Haken-Mary‹ ansehen!« ordnete der Polizeichef an. »Und dann bringen Sie den edlen Herrn zu mir herauf. Wir wollen ihn alle gern kennenlernen.«
Brownie Joe war durchaus nicht mehr so selbstbewußt wie bei seiner Verhaftung. Das Erscheinen Salomon Chattertons in einer Reihe mit ihm und den übrigen Mordverdächtigen, und nunmehr der grauenvolle Anblick der Leichen waren nicht gerade danach angetan, das Selbstvertrauen dieses wortkargen Mannes zu steigern.
»Seien Sie so liebenswürdig und lesen Sie Mr. Goodman die von Rechtsanwalt Chatterton unter Eid abgegebenen Erklärungen aus Ihrem Stenogramm vor«, sagte der Polizeichef. »Sie können sich neben den Stenographen setzen, Joe, damit Sie nicht etwa glauben, daß die Sache Schwindel ist. Es liest sich wie ein Bombenschlager. Aber mir scheint, die Bombe ist geplatzt. Aber vielleicht können Sie uns dabei behilflich sein, den Kunden herauszufinden, der die Rechnung zu bezahlen hat. Dem ›Salpeter-Ede‹ und seinen beiden Spießgesellen können wir sie leider nicht mehr präsentieren, es sei denn daß wir sie ihnen in die Hölle nachschicken. Und dem ›Masken-Micky‹ auch nicht. Der tanzt jetzt auch auf einem vermutlich recht heißen Parkett. Sie müssen schon die Suppe auslöffeln, die Ihnen Ihr Freund ›Schaum-Schmul‹ eingebrockt hat.«
Der Polizeichef schwieg, und das Stenogramm wurde verlesen. Brownie Joe saß wie auf Kohlen, während der Schreiber eintönig Seite auf Seite herunterhaspelte.
»Was blüht mir?« fragte Joe knurrend, als das Schriftstück zu Ende gelesen war.
»Ja, Joe,« entgegnete ihm der Polizeichef, »Sie können sich das Dokument selber durchlesen, wenn es abgeschrieben und von Ihrem Anwalt beschworen und unterzeichnet ist. Mehr als lebenslängliches Zuchthaus wird Ihnen vermutlich nicht blühen. Vielleicht noch ein paar zwanzig Jahre extra. Sie wissen ja, alles hat seine Grenzen, auch bei der Polizei. Und wir haben die Grenze langsam erreicht, was?«
»Wie lange«, fuhr er fort, »sind Sie mit diesem Harry Gregory bekannt? Und was für ein Schnittchen haben Sie denn bei dem Seidenraub auf dem Hudson gemacht, den Sie mit Leonard Grove und Harold Yates gefingert haben?«
Das war ein Schuß ins Dunkle. Die Zielscheiben, nach denen die Kriminalpolizei manchmal zu schießen hat, sind nicht immer allzu sichtbar aufgestellt, und für den Seidenraub auf dem Hudson fehlte bisher noch jedes Zentrum. Aber Brownie Joe knurrte:
»Noch gar kein Schnittchen habe ich gemacht. Gregory hat mich vertröstet. Der Draht wäre noch nicht rein, hat er behauptet.«
»Ich freue mich, Ihnen Mr. Gregorys Behauptung uneingeschränkt bestätigen zu können. Leider ist er nicht anwesend, um es persönlich tun zu können«, erwiderte der Polizeichef. »Mehr noch, ich kann Sie in ihrer Sorge um das Geld endgültig beruhigen. Harry Gregory wird nicht einen Groschen von der Seidenfirma Molando & Co. sehen, der er ihre eigene Ware verkauft hat. Aber das braucht Sie ja nicht weiter zu interessieren. Aber was Sie interessieren dürfte: Mr. Gregory wird sich sehr bald wieder in der Zelle neben Ihnen befinden, aus der wir ihn für ein paar Stunden wieder freigelassen haben. Wir haben ihn wegen des Einbruchs bei Mrs. Winthrop bereits fest. Benny Smart hat Detektiv Warren den entsprechenden Wink gegeben gehabt. Sie werden sich ja wohl erinnern, daß Sie Mr. Warren in dem Hause gesehen haben. Ihr Pech, daß er im Gesellschaftsanzug war, und daß Sie ihn nicht erkannt haben. Sie müssen das nächste Mal schon etwas vorsichtiger sein, Joe. Na, Sie können es ja Mr. Warren nicht übelnehmen, daß er Sie bei Chatterton hat festnehmen lassen.«
»Ich hab' die ganze Sache satt. Ich mache nicht mehr mit«, erklärte Brownie Joe.
»Auch das kann ich nur bestätigen. Aber nun mal raus mit der Sprache. Was wissen Sie von James Murdock? Wie lange haben Murdock und der ›Masken-Micky‹ schon zusammen gearbeitet?«
Brownie Joe Goodman entschloß sich nunmehr, seine Kenntnisse auszukramen. Aus dem Dunkel längst begrabener Zeiten holte er die Geschichte jenes Raubes mit Bernard Gusset und Harold Aales hervor. Was er erzählte, stimmte genau mit dem überein, was Benny Smart angegeben hatte. Brownie Joe wurde immer beredter. Er sprach so rasch, daß der Stenograph verschiedene Schreibkrämpfe überwinden mußte.
Als Joe zu Ende war, wurde er in seine Zelle zurückgebracht, wo er reichlich Zeit zum weiteren Nachdenken hatte. Zehn weitere Jahre stehen ihm zu diesem Zweck auch jetzt noch zur Verfügung.
Inspektor Montrose wandte sich an den Polizeichef:
»Ich denke, jetzt holen wir uns den Hauptgoldfisch. Wenn ich bloß eine Ahnung hätte, in welchem Glas er sich zur Zeit befindet.«
»Wen meinen Sie?« fragte Inspektor Raynor.
»James Murdock. Das ist ohne Zweifel der Hauptmacher.«
»Der ist heute nachmittag in Hoboken gewesen,« entgegnete Raynor, »und er hat gesagt, daß er nach Newark fahren wollte.« Er berichtete im Anschluß an diese Bemerkung, was ihm von Detektiv Hartley berichtet worden war, vor allem auch, daß Murdock wenige Stunden vor dem Attentat auf Warren in der Gesellschaft des ›Masken-Micky‹ beobachtet worden war.
»Gregory befindet sich in der Murdockschen Villa auf Long Island, nicht wahr?« fragte der Polizeichef Roger Warren.
»Als ich von draußen wegfuhr, war er jedenfalls da.«
»Sie sind ja nun einmal so auf Arbeit versessen, Warren. Wollen Sie den Burschen übernehmen?«
»Auf der Stelle.«
»Soll ich Warren nicht Dean und Daniels lieber mitgeben?« fragte Montrose.
»Nicht nötig. Warren kann ja Murdock ebenfalls verhaften, wenn er draußen ist oder zurückkommt. Ich nehme an, daß er spätestens morgen früh in seiner Villa erscheinen wird.«
»Wenn er nicht wieder den Entfeßlungskünstler spielt, wie vorgestern in Washington«, knurrte Montrose. »Dank der Zeitungsmeldungen wird er vielleicht auskneifen, und wir haben dann die schönsten Scherereien mit seiner Auslieferung.«
»Sie können ja Dean und Daniels nach Newark schicken, damit die dortige Kriminalpolizei mit uns zusammen arbeitet und gegen Murdock entsprechend mobil macht,« meinte der Polizeichef, »wenn ihn Warren in Long Island erwischt, schlägt er am besten die beiden Fliegen mit einer Klappe.«
»Soll ich Murdock ebenso wie Gregory wegen des Seidenraubes verhaften?« fragte Warren. »Eigentlich liegt doch gegen Murdock außer den Aussagen, die wir hier gehört haben, keinerlei Beweis vor.«
»Nein. Verhaften Sie ihn wegen Ermordung des ›Mappengusset‹. Sie haben ihn nämlich nicht erschossen, wie Sie glauben. Inspektor Montrose hat mir die Beweise dafür erbracht. Ich bin darüber bereits seit dem Morgen nach der Mordnacht orientiert.«
Warren war mehr als überrascht. Aber die Ereignisse häuften sich so ungeheuerlich in diesen wenigen Stunden, daß ihm keine Zeit blieb, seiner Überraschung nachzuhängen oder gar sie genügend auszukosten.
»Nehmen wir an,« fuhr der Chef der Polizei fort, »ich säße hier an meinem Pult vor einem Goldfischglas und beobachtete den blanken Fisch. Wenn ich durch die Seitenwand des Glases sehe, habe ich einen Goldfisch vor mir, und, wenn ich gleichzeitig von oben her in das Wasser schaue, sehe ich einen zweiten. Mit der Hand würde ich stets nur einen einzigen Fisch entdecken. Mit den Augen sehe ich zwei. Zweifach die schimmernden Schuppen, zweifach die Bewegung. Ich kann mir nicht helfen, ich sehe zwei Fische, und beide gleichen sich absolut. Wer hat nun recht? Meine Hand, die sich für einen Goldfisch verbürgt, oder meine Augen, die zwei zu sehen behaupten? Und wenn es wirklich nur ein Fisch ist, der in dem Glase schwimmt, welcher von den beiden, die ich sehe, ist der leibhaftige, und welcher existiert nur in meiner Vorstellung? Selbst die photographische Linse würde zwei Fische auf die Platte bringen, während eine Wage mit ihrem Gewicht beweisen würde, daß nur ein einziger vorhanden sein kann. Ich hoffe, Sie verstehen meinen Vergleich, Warren. Habe ich recht?«
»Ich verstehe vollkommen. Bis zu dieser Stunde habe ich mich lediglich durch meinen Verdacht gegen Gregory leiten lassen. Ich bin Ihrem Auftrag gefolgt.«
»Und Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht. Wenn Sie nicht Miß Murdock verhaftet, Benny Smart aus seinem Schlupfwinkel geholt und dank seinem Wink die Juwelen von Mrs. Winthrop in Sicherheit zu bringen geholfen hätten, dann säßen wir ohne jeden neuen Beweis da.«
Es klopfte an die Tür. Ein Beamter der Personalabteilung trat ein.
»Es wird Sie interessieren,« wandte er sich an den Polizeichef, »daß wir soeben drei aus dem Zuchthaus entsprungene Mörder haben identifizieren können. Der erste ist ein Eisenbahnräuber und Mörder aus Wyoming, mit Namen Peter Forsythe. Der zweite heißt Pietro Mancucino, und der dritte ist Bad Jim Lynch. Die beiden letzteren sind aus dem Gefängnis in Michigan ausgebrochen, wo ihnen wegen Mordes, anläßlich eines Bankraubes, der Prozeß gemacht werden sollte. Die Beschreibungen stimmen und die Fingerabdrücke schalten jeden Zweifel aus.«
»Wer hat denn die Kerle verhaftet?«
»Detektiv Warren. Sie waren bei demselben Schub mit dem ›Masken-Micky‹ alias Michael Le Mar.«
»Benachrichtigen Sie die betreffenden Behörden. Sie sollen ihre Beamten nach New York schicken. Inzwischen lassen Sie die Halunken ins Gefängnis bringen. Sonst noch etwas?«
»Jawohl. Leonard Grove wünscht eine Erklärung zu Protokoll zu geben. Er sagt, daß er mit Harold Yates und Goodman bei dem Hudsonraub beteiligt gewesen ist.«
Der Polizeichef schickte den in dieser Nacht schwer beschäftigten Stenographen zur Aufnahme von Groves Geständnis an dessen Zellentür. Das würde den anderen Gaunern und Halunken etwas aufhelfen, falls sie sich später einmal in weniger reuiger Stimmung nicht mehr recht an ihre ersten Aussagen erinnern sollten. Das kommt ja manchmal vor. Je größer die Verbrecher, um so schwerer ist es meist, sie zur Verurteilung zu bringen. Der Polizeichef erinnerte sich wohl in diesem Augenblick an James Murdock, von dem er wußte, daß er als Millionär zweifellos Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, um seine Handlanger freizubringen und sich selbst dadurch vor einer Verurteilung wegen des Mordes an dem ›Mappen-Gusset‹ zu schützen.
Harold Yates wurde auf ein drahtloses Telegramm hin auf seinem Dampfer im Panamakanal verhaftet und nach New York zurücktransportiert.
*
Roger Warren verließ die Hauptpolizei und fuhr mit einem Auto zu der Murdocks Landbesitz am nächsten liegenden Bahnstation. Er hatte seinen Revolver frisch mit Patronen gefüllt und sich auch mit Reserven versorgt.
Er näherte sich nicht auf der breiten Straße dem Hause, in dem Harry Gregory nichtsahnend der Ruhe pflegte, sondern nahm seinen Weg über unbebautes Gelände zwischen den herrlichen Bäumen hindurch. Immer und immer wieder fragte er sich, welchen Abschluß diese Tragödie wohl für Audreys Vater und – nicht zuletzt auch für sie selbst nehmen würde.
Warren sah empor zu den blinkenden Sternen. Um Audreys willen quälte ihn der Gedanke an die grenzenlose Unbestimmtheit des Alls. Die Zeit schien ihm bar jedes hellen Augenblicks. Kalt und gefühllos hatten die hohen Himmelswächter von Ewigkeit her Millionen Sterbliche sich erheben und niedersinken sehen. Vor ihren Augen waren ganze Völker emporgewachsen und wieder verschwunden. Ganze Welten waren unter ihrem Schein in Feuerstaub zerfallen und zerborsten, um niemals wieder zu erstehen.
»Nichts ist zu seltsam, um wahr zu sein«, murmelte er vor sich hin, und es war nicht froher Glaube, sondern düsterste Verzweiflung, die aus ihm sprach. Er wünschte, daß Benny Smarts Kugel ihn getroffen haben möchte an Stelle der armen, verlorenen ›Haken-Mary‹, deren letzter Erdengedanke Seligkeit gewesen war, und deren letztes Lächeln wie ein Triumph des Geistes über das Fleisch auf ihren kalten Lippen stand.
Warren sah helles Licht in einem Fenster der unteren Räume der Murdockschen Villa. Es mußte also noch jemand wach sein. Er rekognoszierte mit aller Vorsicht. Sein Fuß stieß gegen irgend etwas. Er sah zu Boden. Wachtmeister lag vor ihm, alle viere von sich gestreckt. Auf seinem Kopf entdeckte Warren etwas Schwarzes. Es war für ihn ein mehr als bitterer Schlag, daß sein Gefährte während seiner Abwesenheit umgebracht worden war.
Warren spähte vorsichtig durch das Fenster. Er sah Murdock deutlich vor einem Wandschrank stehen, der in die Eichentäfelung des Zimmers eingelassen war. Das Fenster stand zwar nicht sehr weit offen, aber Warren konnte nirgends eine Waffe in dem Zimmer entdecken.
Plötzlich war Wachtmeister neben ihm und leckte ihm die Hand. Es war eine Liebkosung, die Warren nicht geringer berührte als der letzte zärtliche Händedruck der ›Haken-Mary‹ in der dunklen Straße.
Das kluge Tier setzte sich. In seinen Augen glomm ein Lachen, als wenn er sagen wollte:
»Ich habe ihnen einen netten Streich gespielt, nicht? Sie haben auf mich geschossen. Aber ich habe nur so getan, als ob ich tot wäre. Was soll denn jetzt geschehen?«