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Stumm und starr vor Entsetzen und in einem Schrecken, den sie nie für möglich gehalten hatte, sah sich Audrey Murdock unter dem festen Griff des auch seinerseits überraschten Schutzmannes. Ohne Mantel und Hut mußte sie Sanders zu dem Alarmtelephon an der Straßenecke folgen und warten, bis der Polizeiwagen erschien.
Daß ihre Verhaftung nur eine List Warrens war, daß er sie nur durch dies Hilfsmittel gegen einen tödlichen Schuß vor seinen Augen und, wie es sich ja so rasch herausstellte, aus seinem eigenen Revolver hatte schützen können, davon hatte Audrey natürlich keine blasse Ahnung. Sie wußte nichts weiter, als daß Warren sie hatte verhaften lassen, daß der junge Detektiv, der sie unter Liebesschwüren geküßt hatte, ein völlig anderer geworden war und daß seine Liebe unmöglich echt gewesen sein konnte.
Warren war ihr nicht zur Polizeistation gefolgt. Er hatte es nicht gekonnt. Seine Pflicht verlangte von ihm, daß er den düsteren Mordgesellen zur Strecke brachte, der sich hinter dem Purpurvorhang versteckt gehalten hatte.
Audrey brach fast zusammen unter der Doppellast des Schmerzes, der ihr Herz und Sinne lähmte. Sie war so benommen auch von den rein äußeren Begebenheiten, daß sie nicht einmal Freddy Carringtons gewahr wurde, der wieder einmal sternhagelbetrunken im Zickzackkurs quer durch die gaffende Menge auf Schutzmann Sanders zusteuerte.
»Pla–atz!« rief Carrington, und die Zuschauer machten dem Herrn im Gesellschaftsanzug willfährig Raum, der direkt auf Sanders zutrat. Er erkannte Audrey Murdock. Sie war doch so ein »lieber, netter Kerl!« Freddys Gehirn war völlig außerstande, die Situation zu begreifen. Das einzige, woran er sich erinnerte, war, daß er König Tut war, und daß sich »Kleopatra« in Not befand.
»Guten Abend, Wa–achtmeister! Was i–ist denn hier los?« fragte er.
»Gehen Sie weiter!« erwiderte Sanders streng.
»Ei–einen klei–einen Augenblick, up! Freue mich, Sie wiederzusehen! Wir kennen uns doch, up. King Tu–ut, wissen Sie nicht? Was machen Sie denn hier mit Kle–up–atra? Eine liebe Freundin von mir. Lieber, netter Kerl, was? Das ist, up, wirklich nicht schön von Ihnen, eine Königi–in hier so ohne Mantel stehen zu lassen. Sie gestatten?«
Ohne Sanders Erlaubnis abzuwarten, legte er Audrey seinen Mantel um die ausgeschnittenen Schultern, und sie zog ihn ganz instinktiv fest um sich. Sie sah Freddy Carrington weder, noch hörte sie seine Stimme.
»Wa–as ist denn hier los?« fragte Carrington. »Ich bin König Tut. Ich muß wissen, was in Äg–ypten los ist.«
Die Menge amüsierte sich. Sanders sah ihn mit durchdringenden Blicken an.
»Gehen Sie weiter! Ich habe es Ihnen schon mal gesagt. Soll ich Sie verhaften wegen Eingriffs in die Polizeigewalt? Haben Sie mich verstanden?«
»O–ob ich Sie verstanden habe! Wir sind beide – up – in Ägypten. Tu–un Sie mir einen Gefallen, ja? Sagen Sie, haben Sie Lord Carnarvon und Aphrodite gesehen? Ich suche sie schon lange. Aphrodite hat mir gesagt, sie wollte sich – up – mit Carnarvon treffen. Ich muß ihn auch treffen. Bei mir gibt's was Besseres als Moskitostiche, up. Ich versetz ihm was, daß er – up – in seiner Pyramide schlafen gehen kann! Ich will Carnarvon haben, sofort, up! Ich will ihn niederknallen, up. Verstanden?«
Der Polizeiwagen kam, und die Menge machte Platz. Sanders schob Audrey tief in das Innere des Gefährtes und flüsterte dem Begleitbeamten ein paar Worte zu. Dann packte er King Tut beim Kragen und schob ihn hinterher. Im nächsten Augenblick schoß der Polizeiwagen die Straße hinab, bog um die Ecke und verschwand in der Richtung nach der Polizeistation in der östlichen 67. Straße, wo sich gerade Inspektor Montrose mit Kommissar Marsh besprach. Sie zerbrachen sich den Kopf darüber, wie und wohin sich der größeren Wahrscheinlichkeit nach James Murdock aus dem Staube gemacht haben mochte.
Die beiden saßen in dem Separatzimmer des Inspektors, als der Polizeiwagen vorfuhr und unter den überneugierigen Blicken einer neuen Zuschauermenge, umdrängt von einigen rasch herbeigeeilten Zeitungsreportern seine ungewöhnliche Fracht ablud: zwei Häftlinge, einen Herrn und eine Dame in höchst moderner Gesellschaftstoilette.
Einige wenige Sekunden später wurde Inspektor Montrose gerufen. Audrey war einem völligen Zusammenbruch nahe, und es mußte eine Krankenschwester für sie geholt werden. Auf Wunsch des Inspektors wurde sie in sein Zimmer gebracht, während er noch mit dem Beamten sprach, der sie von Schutzmann Sanders übernommen hatte.
»Wer ist die Person? Unter welchem Verdacht?«
»Sanders hat mir gesagt, sie sei Roger Warrens Gefangene. Ihr Name ist ›Haken-Mary‹ Mallory. Altbekannt. Die Akten sind in der Zentrale. Mordverdacht. Sanders sagt, sie wäre neulich abend in der Murdockschen Villa gewesen. Sie wissen doch Bescheid?«
»Sehr schön. Und wer ist der Herr?«
»König Tut. Sanders hat ihn festgenommen, weil er betrunken war, und weil er ihn hat hindern wollen, die ›Haken-Mary‹ festzunehmen. Er hat sie übrigens Kleopatra genannt.«
Inspektor Montrose und Kommissar Marsh traten auf Freddy Carrington zu. Er stand gegen das Pult gelehnt, hinter dem der diensthabende Beamte der Polizeistation saß. Die lauernden Reporter drängten sich möglichst nahe heran.
»Wie heißen Sie?« fragte der Inspektor.
»Ich bin König Tut–ench–Amon! Aus der Pyramide. Ich habe sechstausend Jahre geschlafen, was? Wo ist Lord Carnarvon? Ich will ihn niederknallen. Niederknallen will ich ihn. Wo ist Aphrodite? Er hat sie mir gestohlen!«
Ein allgemeines Gelächter war die Folge. Solch ein mixtum compositum aus Schnäpsen und historischen Namen war schließlich etwas Seltenes für den Gaumen der Polizeibeamten. Die kritzelnden Zeitungsschreiber schienen auch höchst befriedigt.
»Also Sie wollen ihn töten, was?« fragte Inspektor Montrose mit seinem grimmigen Lächeln. Der Bursche war doch in der Murdockschen Villa gewesen, als Gusset erschossen wurde. »Womit wollen Sie ihn denn töten? Mit dem giftigen Hauch Ihres Atems?«
»Jawohl, mein süßes Blau–blümelein«, erklärte König Tut, ohne sich zu verhaspeln. »Der Moskitostich hat ihn nicht vergiftet. Er hat den Moskito vergiftet, up. Ich will ihn mit meiner Pistole niederknallen. Mit einer richtigen Pistole.«
Er tastete seine Taschen nach seiner Waffe ab. Sein Gesicht verriet die ganze Feierlichkeit des seligen Bacchusjüngers.
»Wo ist meine Pistole«, fragte er enttäuscht. »Ich finde meine Pistole nicht. Ich habe sie doch gehabt, was? Geben Sie mir Ihre für einen Augenblick. Bitte schön. Ich muß Lord Carnarvon totschießen. Er hat mir meine Aphrodite gestohlen. Ich schieße jeden nieder –«
Auf Inspektor Montroses Wink packten ihn ein paar Polizeibeamte. Sie durchsuchten den sich wehrenden Monarchen gründlichst. Eine Waffe fanden sie nicht. Was er bei sich getragen hatte, lag alles auf dem Pult.
»Wo ist mein königlicher Kram? Ich will wieder in meine Pyramide, up. Ich will schlafen. Schön. Ich werde den Carnarvon schon erwischen. Und Aphrodite auch.«
Er setzte seine Drohungen gegen Harry Gregory fort, während man ihn zu einer Schlafzelle führte, die zwar nicht an Alter, wohl aber an Sicherheit mit den Pyramiden wetteifern konnte.
Ein Polizeibeamter holte Carringtons Mantel. In seiner Seitentasche fand sich tatsächlich eine reizende, kleine, mit Silber beschlagene und perlmutterbesetzte Pistole von winzigem Kaliber.
»Registrieren Sie ihn nur zunächst als ›König Tut‹«, lautete Inspektor Montroses barsche Anordnung. »Verhaftet wegen Trunkenheit, Störung der öffentlichen Ordnung, Eingriffs in die Polizeigewalt, Versuchs, einen Gefangenen zu befreien, und wegen Drohung, jemanden zu erschießen. Ich hoffe, das reicht aus, um diesen vergnügten König wenigstens bis morgen vormittag hier zu behalten.«
»Wer ist die Gefangene, Herr Inspektor«, fragte ein weißhaariger Reporter.
»Die ›Haken-Mary‹«, gab er kurz angebunden zur Antwort. »Alte Bekannte. Mordverdacht.«
»Die ›Haken-Mary‹!« Der Zeitungsschreiber rang nach Luft. »Donnerwetter noch mal,« rief er, als der Inspektor und der Kommissar den Raum verlassen hatten, »das ist ja eine von der Bande aus der ›Alten Mühle‹. Ich dachte, die wäre längst gestorben und begraben.« Die Augen der weniger orientierten Reporter ruhten auf ihm. »Das ist eine feine Sache. Die ›Haken-Mary‹ muß mindestens die letzten zwölf Jahre mit ›König Tut‹ in seiner Pyramide geschlafen haben. Sieht sie vielleicht nicht aus wie eine Königin? Ich möchte nur wissen, wer nun eigentlich der Mann dazu ist? Daß die zwei sich haben erwischen lassen!«
Er tänzelte vergnügt zur Telephonzelle und informierte in aller Geschwindigkeit den betreffenden Redakteur seiner Zeitung. Es war schon spät in der Nacht. Das Blatt mußte bald in die Presse. Der alte Reporter hatte einen guten Fang gemacht. Das gab eine Geschichte, die weit zurückging in die »guten alten Zeiten«, als der »Masken-Micky« und die berüchtigte Brownie-Joe-Bande nicht nur das Schicksal manches Menschenlebens und manchen Besitzes, sondern nicht selten auch die Wage der Gerechtigkeit kontrollierten.
Heute war das alles anders. Aber gerade, daß es so anders war, gab der Geschichte den Reiz und die Popularität, um derentwillen ihr der Redakteur einen ganz besonders auffallenden Platz in der Ausgabe seines Blattes einräumte, die in der Morgendämmerung erschien.