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39.
Das Schicksal hinter einer neuen Maske

Die Zeit »halb elf« war nicht nur bedeutsam wegen Warrens Besprechung mit dem Chef der Polizei. Es spielte sich manches Wichtige ab um diese Stunde dieses so ereignisreichen Tages.

Der »Salpeter-Ede« wurde bewußtlos in ein Krankenhaus transportiert. Rechtsanwalt Salomon Chatterton wurde festgenommen und zur Polizeistation der 86. Straße gebracht, wo er auf die Ankunft Inspektor Raynors zu warten hatte. Audrey Murdock befand sich noch in ihrer Zelle in der Hauptpolizei, ein Opfer widersprechendster Gefühle und Gedanken. James Murdock näherte sich dem New-Yorker Hafen, und die Detektive Dean und Daniels, die inzwischen zurückgekommen waren, waren wie eine ganze Reihe anderer Kriminalbeamter damit beauftragt, sämtliche Bahnhöfe und Ankunftsstellen der Dampfer scharf zu bewachen.

Um die gleiche Stunde saß Harry Gregory in seiner Zelle in der Hauptpolizei und dankte Gott, daß sein kluger Kompagnon beizeiten für ein Alibi gesorgt hatte, falls er wider alles Erwarten verhaftet werden sollte. Der »Aufpasser«, der mit ihm zusammen erwischt worden war, und den die Polizei als den berüchtigten »Brownie Joe Goodman« identifiziert hatte, brütete darüber, auf welche Weise er wohl einen Verteidiger bekommen könnte, und wer es sein würde, denn er war zum ersten Male während seiner ganzen »Karriere« im Besitz des gestohlenen Gutes betroffen worden. Und was ihn noch mehr beschäftigte, war die Frage, ob ihn der »Drahtzieher«, den er nicht kannte, wohl helfen oder im Stich lassen würde. Und der »Masken-Micky« lauschte mit gespanntester Aufmerksamkeit dem Bericht des »Haha-Benny«, und freute sich über seinen glänzenden Plan, wie er »diesem Esel von Detektiv« eins auswischen würde, wenn er wieder bei ihm erschiene.

Und um die gleiche Stunde befand sich die wieder einigermaßen nüchterne Edith Winthrop mit einem Beamten der Versicherungsgesellschaft auf dem Wege zu Kommissar Roxeys Bureau, wo sie die gestohlenen Juwelen identifizieren und ihr Eigentumsrecht daran beschwören sollte. Und nicht zuletzt saß um halb elf Freddy Carrington alias König Tut in seiner Zelle und zerbrach sich seinen Schädel, wieso er eigentlich in diesen Gewahrsam gekommen war. Aber sein Gedächtnis ließ ihn völlig im Stich.

Erst ganz, ganz allmählich dämmerte ihm der Zusammenhang auf. Freddy erinnerte sich, daß er Audrey Murdock in den Klauen eines Polizeibeamten gesehen hatte, und daß ihm das Gesicht dieses Schutzmanns bekannt vorgekommen war. Richtig, es war derselbe Kerl, der sich in der Nacht von Audreys wilder Gesellschaft seinen Namen aufnotiert hatte. Richtig, er hatte Audrey fest am Arm gepackt. Audrey war in einem dünnen Abendkleid gewesen, die Nacht war kalt, und er hatte ihr ritterlich seinen Mantel um die Schultern gelegt, ohne sich darum zu kümmern, daß man ihn weitergehen hieß. Freddy war sich über die Situation klar.

Freddy wurde Inspektor Montrose und Kommissar Marsh vorgeführt und unter Protokoll vernommen. Die beiden waren äußerst begierig, mehr von ihm über Harry Gregory zu erfahren, zumal er ja inzwischen mit »Brownie Joe Goodman« in Chattertons Wohnung festgenommen war. Warum hatte Freddy Carrington die Absicht gehabt, diesen Gregory zu töten, und warum hatte er seine Drohung selbst nach seiner Festnahme und in seiner Trunkenheit wiederholt?

Alle diese Einzeltatsachen waren dem Chef der Polizei noch nicht ausführlich unterbreitet worden. Von den verschiedenen Verhaftungen war er selbstverständlich in Kenntnis gesetzt worden, und so wurde ihm auch gerade in dem Augenblick, als Warren erschien, von Kommissar Roxey die Ermordung des »Salpeter-Ede« kurz gemeldet. Was Rechtsanwalt Chatterton mit der Erlegung seiner hohen Kaution begonnen, hatte das Schicksal durch die Hand Benny Smarts vollendet: der »Salpeter-Ede« war ein für allemal seinem irdischen Richter entrückt, und Warren brauchte sich nicht mehr wegen seiner Verhaftung zu verantworten.

»Herein, Warren«, rief der Polizeichef, als Kommissar Roxey ihn verließ, um Harry Gregory kurz ins Verhör zu nehmen. »Sie sehen recht müde aus. Die Dinge scheinen sich gut zu entwickeln, wenigstens nach dem zu urteilen, was mir Montrose, Inspektor Raynor und gerade eben Kommissar Roxey berichtet haben. Aber was ist denn nun eigentlich der Haken, weswegen Sie Murdocks Tochter verhaftet und als ›Haken-Mary‹ haben registrieren lassen, hm?«

»Ich habe Inspektor Montrose«, fuhr der Polizeichef fort, »in Murdocks Bureau geschickt gehabt, um sich des Revolvers zu versichern, der sich in seinem Pult befand. Haben Sie eigentlich gewußt, daß Murdock einen Revolver mit Schußdämpfer dort in Verwahrung hatte?«

»Jawohl, Mr. Murdock hat mir gleich in der Nacht, in der ich den Gusset erschossen habe, gesagt, er wäre im Besitz eines Waffenscheins – was sich inzwischen als richtig herausgestellt hat –, und er hat mir auch erklärt, daß sich die Waffe in seinem Bureau befände. Welches Bureau er gemeint hat, weiß ich nicht. Danach habe ich ihn auch nicht besonders gefragt. Aber die Tatsache, daß er mir von dem Revolver gesprochen hat, habe ich in meinem Rapport bemerkt. Ich nehme an, Inspektor Montrose hat das Schriftstück.«

»Inspektor Montrose hat nicht nur Murdocks Fingerabdrücke, sondern auch die seiner Tochter auf der Waffe festgestellt«, erklärte der Polizeichef. »Haben Sie eine Ahnung, wie diese Fingerabdrücke entstanden sein können? Sie rückte nicht mit der Sprache heraus, als Montrose sie verhörte. Er hat ihr aber nicht verraten, wo er die Pistole gefunden hatte.«

»Ich glaube, ich kann diesen Punkt aufklären. Hat Inspektor Montrose erwähnt, wo sich die Waffe befunden hat? Ich meine, in welchem Schubfach des Schreibtisches?«

»Im Schubfach rechts oben.«

»Dann scheint mir die Sache klar. Audrey Murdock hat sich in meinen Hund verliebt gehabt. Im Gedanken an Ihren Rat, mich ›gesellschaftlich‹ zu stellen, hatte ich mich bereit erklärt, ihr den Hund zu leihen. Ich dachte, es würde mir im Ernstfall eine gute Ausrede geben, zu Murdocks zu gehen und Gregory im Auge zu behalten. Miß Murdock wollte aus Dankbarkeit dafür, daß ich ihrem Vater das Leben gerettet hatte, dem Hund ein neues Halsband schenken. Ich hatte nichts dagegen. Sie ließ es sich von ihrem Vater an demselben Morgen besorgen, an dem ich zu ihm ins Bureau ging, um wegen der Seidenraubsache und wegen Gregory zu investigieren. Er kam mit dem Halsband, gerade als ich auf ihn wartete, und tat es in die Schreibtischschublade rechts oben. Während ich mit ihm durch die Geschäftsräume ging, kam Miß Murdock zurück und fragte, wo das Halsband wäre. Sie wird also wohl den Revolver angefaßt haben, als sie das Halsband aus der Schieblade nahm.«

»Damit dürften Sie recht haben«, meinte der Polizeichef. »Aber Ihre Verhaftung von Miß Murdock – so gerechtfertigt diese List auch war, um ihr das Leben zu retten – hat Inspektor Montrose einigermaßen in die Irre geführt.«

»Das bedauere ich aufrichtig. Aber ich konnte wegen des Einbruchs bei Mrs. Winthrop auch nicht einen Augenblick Zeit verlieren, sonst hätte ich dem Inspektor selbstverständlich alles erklärt. In diesem Falle ging mir die Pflicht über die Gefahr, daß Miß Murdock ein paar Unannehmlichkeiten auszustehen haben würde. Ich habe es auch in ihrem Interesse aufrichtig bedauert. Aber mir blieb wirklich keine Wahl. Ich mußte Gregory auf den Hacken bleiben.«

»Ihr ausgesprochener Mordverdacht hat also weiter keine tatsächliche Grundlage?«

»Nein.«

»Hat James Murdock Sie gebeten gehabt, auf seine Tochter aufzupassen, während er nach Washington reiste? In dem Protokoll, das mir Montrose von dem Verhör der Miß Murdock gezeigt hat, steht, daß sie eine derartige Bitte ihres Vaters an Sie gehört zu haben glaubt.«

»Jawohl.«

»Mir scheint, wir werden die junge Dame laufen lassen, was? Aber ich will Ihnen was sagen, Warren. Folgen Sie meinem Rat.«

»Ich tue, was Sie von mir wünschen, soweit es irgend im Bereich meiner Möglichkeiten liegt.«

»Ich verlange nichts Schlimmes von Ihnen, Warren. Sagen Sie der jungen Dame vorläufig nicht den Grund, weswegen Sie sie haben verhaften lassen. Nur James Murdock können Sie es erzählen, sobald er zurück ist. Er kann es ja seiner Tochter weitergeben, wenn er will. Aber Murdock soll wissen, daß Sie selbst in der höchsten Not Ihr Versprechen gehalten haben. Sagen Sie ihm auch getrost, daß Sie ihre Pistole in der Manteltasche vergessen hatten. Die ganze übrige Geschichte schenken Sie sich. Und verschweigen Sie ihm gegenüber Benny Smarts Namen. So, und nun gehen Sie und lassen Sie Audrey Murdock frei. Sagen Sie aber, daß sie sich weiter unter polizeilichem Schutz befindet. Ihr Hund kann sie ja bewachen. Wie heißt er noch?«

»Wachtmeister.«

»Sie hat ja den Hund gern. Er soll sie begleiten. Und Sie machen sich wieder hinter Ihre Aufgabe. Packen Sie diesen Gregory und jeden, auf den ein beweisfähiger Verdacht fällt.«

»Gregory habe ich gerade in Sicherheit bringen lassen. Er weiß allerdings nicht, wem er seine Verhaftung zu verdanken hat.«

»Sie sind leider im Irrtum, Warren. Gregory hat ein bombensicheres Alibi vorgelegt. Er ist zu Salomon Chatterton gegangen, veranlaßt durch einen Brief, den er bei seiner Verhaftung bei sich trug. Der Brief erwähnt ein Grundstück, das Chatterton besitzt, und daß er deswegen Gregory zu sich bittet. Roxey hat ihn persönlich in der Hand gehabt. Adresse und Poststempel waren absolut in Ordnung. Wie wollen Sie über diesen Berg weg?«

»Ich habe auch Leonard Grove inzwischen dingfest gemacht. Direktor Molando von der Seidenfirma, an die Gregory die geraubte Seide verkauft hat, wird schon helfen, diese Schwierigkeit zu überwinden. Grove ist der Halunke, der den Kapitän des Schleppers niedergeschlagen hat. Und mir hat er heute nacht auch eins über den Schädel gegeben.«

»Gregory wird nie und nimmer zugeben, daß er Grove kennt. Und Grove wird von Gregory auch nichts wissen wollen. Aber selbst wenn, dann wird durch seine Verbindung mit Yates auch jedes Zeugnis wertlos. Aber jetzt lassen Sie mal zunächst Audrey Murdock frei und bringen Sie sie wieder in ihr Landhaus. – Wissen Sie übrigens, daß der ›Salpeter-Ede‹ hinüber ist?«

»Ich habe es gerade vorhin gehört. Den Burschen, der das getan hat, werde ich auch bald haben. Der Kerl ist ein Verrückter. Er hat die Mordmanie. Ich kann ihn festnehmen, wann ich Lust habe. Es ist Benny Smart. Er weiß übrigens Dinge, die Inspektor Montrose gut gebrauchen kann. Er ist ein Stiefbruder vom ›Mappen-Gusset‹. Ich glaube, durch ihn werden wir das Motiv erfahren, weshalb Murdock ermordet werden sollte.«

Der Polizeichef sah aus dem Fenster. Er wollte nicht, daß Warren das frohe Aufleuchten in seinen Augen sah. Sein Plan war der Verwirklichung nahe. Warrens Worte hatten dem Chef der Polizei bestätigt, was er kurz vorher Inspektor Montrose erklärt hatte: Der junge Detektiv sollte ihm neues Beweismaterial gegen Murdock beibringen.

»Sehr schön, Warren. Vorwärts! Fassen Sie Gregory und den Burschen, der den ›Salpeter-Ede‹ erschossen hat, und die ganze andere Bande dazu. Sie sind gut im Zuge. Lassen Sie mich sehen, wie Sie das Rennen machen!«

Warren richtete sich auf und grüßte stramm.


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