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34.
»Nichts ist zu seltsam, um wahr zu sein«

Warren war in der Zwischenzeit in die Personalabteilung geeilt, um sich die alten Photographien und Fingerabdrücke von der echten »Haken-Mary« zu beschaffen, die er Inspektor Montrose vorweisen wollte. Aber, wie zu erwarten, erfuhr auch er in der betreffenden Abteilung nichts anderes, als daß das gewünschte Material vom Polizeichef noch nicht wieder zurückgegeben worden sei. Als er sich zurückbegab, um Roxey, Montrose, Raynor und Marsh zu treffen, sah er gerade, wie Audrey in eine Zelle nach unten geführt wurde. Er folgte ihr in einiger Entfernung.

Die Beamtin hatte sie noch nicht eingeschlossen, als Warren erschien. Als Murdocks Tochter den jungen Detektiv kommen sah, gebärdete sie sich wie eine junge Löwin. Sie riß sich von der Wärterin los und trat dem Manne, den sie noch vor so wenig Stunden geliebt hatte, mit flammenden Augen gegenüber. Ihr Gesicht war bleich wie der Tod. Jeder Nerv zuckte voll Verachtung.

Warrens Liebesidyll war durch die Geschehnisse dieser Nacht, die sich seiner Kontrolle entzogen hatten, längst zerstört. Der halbdunkle Gang und der Platz vor der offenen Zellentür wurde jetzt zur Bühne, auf der sich eine Tragödie abspielte, und die Wärterin war der einzige Zuschauer.

»Was soll das alles heißen?« fragte Audrey herrisch.

Warren stockte der Atem.

»Sie sind die Gefangene Inspektor Montroses, und nicht meine«, erwiderte er.

Ihre Verachtung hatte den Höhepunkt erreicht. Wie flammende Lava sprühten ihre Worte.

»Sie haben mich verhaftet! Warum?!«

»Ich kann es Ihnen nicht erklären, noch nicht.«

»Sie sind schlimmer als eine Bestie, Sie! Sie Feigling! Gemordet soll ich haben? Wen denn? Wann denn? Wo denn?«

»Na, na, na«, warf sich die Wärterin dazwischen. »Nur nicht gar so hohe Töne.«

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten,« rief Audrey voller Heftigkeit, »aber nein, ich freue mich, daß Sie dabei sind. Ich brauche einen Zeugen für meine Worte an diesen, diesen – Teufel in Menschengestalt. Wenn Sie nicht dabei wären, würde ich ihn überhaupt nicht ansehen! Frau,« schrie sie, und ihre Erregtheit steigerte sich noch mehr, »Frau, niemals, niemals traue einem Mann. Sie sind alle gleich. Verräter! Heuchler! Feiglinge! Gemeiner als gemein. Und dieser hier –«, sie wies mit dem Finger auf Warren, der weiß wie die Wand wurde, »ist der Niederträchtigste von allen, niederträchtiger als Judas Ischariot. Denn Judas verriet kein Weib!« Sie rang die Hände. »Und jetzt hat er die Stirn, zu behaupten, ich sei die Gefangene eines anderen!«

»Seien Sie doch ruhig«, bat Warren. »Ich werde ja –«

»Ruhig?!« Audrey kreischte auf und lachte gellend. »Wissen Sie, wo ich herkomme? Begraben hat man mich, lebendig begraben im Gefängnis. Gefoltert – und alles auf Ihren Befehl hin!«

»Aber nein doch,« sagte er und biß die Zähne aufeinander – »nein, nicht auf meinen Befehl – es war ein Mißverständnis – – –«

»Weiß Gott,« fuhr ihm Audrey ins Wort, »weiß Gott, und dies Mißverständnis lag bei mir, als ich Ihnen glaubte, als ich Ihnen vertraute. Ich ahnte ja nicht, wie abgründig gemein Sie sind. Ich konnte ja nicht wissen, daß Sie um billigen Ruhmes willen derartig lügen würden. Daß Sie mich in eine Höhle voller Vipern schleppen lassen würden, ja Vipern, wie Sie selbst eine sind, nur größer und widerlich grausam. Aber nein. Ich täusche mich. Sie selber sind die widerliche Schlange, die alles über mich heraufbeschworen hat. Sie haben gelogen! Sie haben mich bei einem Namen genannt, den ich nie in meinem ganzen Leben gehört habe. Und Sie haben gewußt, daß es eine Lüge war. Und nun wagen Sie, sich hierher zu stellen und zuzusehen, wie man mich wieder hinter eiserne Stäbe bringt!?«

»Vertrauen Sie mir doch!« flehte Warren.

»Einmal und nicht wieder! Hätte ich Ihnen nicht das eine Mal vertraut, dann wäre ich jetzt nicht hier! Ich blinder Narr, daß ich Ihnen je geglaubt habe! Mit was wollen Sie ungeschehen machen, mit was wollen Sie sühnen, was Ihre sinnlose Lüge über mich gebracht hat? Jawohl, über mich! Was habe ich Ihnen oder sonst einem Menschen denn getan, daß ich solche Niedertracht, solch grauenvolle Behandlung und eine so entsetzliche Umgebung verdient habe?«

»Gehen Sie schon in Ihre Zelle«, brummte die Wärterin.

»Nein und abermals nein!« entgegnete Audrey voller Trotz und drängte die Polizeibeamtin gegen die Wand. »Nicht eher, als bis dieses Spottbild eines Mannes mir meine Fragen beantwortet hat. Was habe ich getan? Wen soll ich ermordet haben? Wann? Wo? Natürlich, keine Antwort! Sie Ungeheuer!«

Die erstaunte Wärterin versuchte auf Audrey zuzugehen.

»Warten Sie nur«, sagte Warren, und sie hielt inne.

»Ich kann Ihnen keine Antwort geben, noch nicht!« Es war ihm, als ob ihm die Kehle zugeschnürt wäre, er fand nur mit aller Mühe seine Worte. »Aber bald, sehr – – –«

»Die Wahrheit kennt kein Warten«, unterbrach ihn Audrey. »Warten tut nur der, der sich eine neue Lüge ausdenken will, um die erste damit zu verdecken. Aber, vergessen Sie nicht, mein Vater hat Ihnen genau so vertraut wie ich, und wenn er zurückkommt – – –«

Sie stockte. Ihre Zornesflut ebbte ab und erstarb. In Warrens fast mütterlich sanften Blicken lag etwas, das beredter war als alle abwehrenden Worte, etwas weit, weit Überzeugenderes, wenn auch seine Augen sie so undurchdringlich ansahen wie die der vier Männer bei ihrem Verhör.

Warren trat näher auf sie zu. Die Wärterin stand wie angewurzelt. Audrey tat unwillkürlich einen Schritt zurück. In seinen Augen brannte die gleiche bange Seligkeit wie in jener Stunde, da sie einander die Treue geschworen.

»Wie giftig ist doch die Liebe,« dachte sie, »und ich glaubte aus einem kristallenen Kelch getrunken zu haben.«

Es war seltsam. Abermals hörte sie von ferne flötengleich die lockenden Töne Pans. Es klang, als ob jauchzende Wellen sanft gegen marmorne Ufer spielten.

»Audrey,« sagte Warren mit bebender Stimme, »nichts ist zu seltsam, um wahr zu sein,« – und ganz leise flüsterte er ihr zu, »hast du das vergessen? Denke dran für ein kleines Weilchen. Ich kann es jetzt nicht erklären, noch nicht.«

Warren schien das Herz stillzustehen vor lauter Erregung. In seinem Blick spiegelte sich sein ganzer Seelenkampf. Es war ein Gebet ohne Worte, eine alles umfassende innige Bitte. Und doch lag keine Demut in seinem Flehen, das getragen war von dem einen großen Gefühl der Liebe, die Sonne und Erde und alle Sterne bewegt. Seine Worte füllte der gleiche Rhythmus, der jetzt seine Schritte beschwingte, als er Audrey verließ und im Dunkel des Ganges verschwand. Aber sie sangen sich in ihr Herz.

»Nichts ist zu seltsam, um wahr zu sein.«

Wie eine Schlafwandelnde schritt sie der Zellentür zu. Wundersam verklärten sich die Schrecken dieser Nacht durch die Erinnerung, die seine Worte in ihr wachgerufen hatten. Das eben Vergangene schien nie dagewesen. Das Gefängnis war vergessen. Lebendig war nur ihr unvergänglicher Traum, um den sie sich betrogen geglaubt hatte, und der doch zurückgekehrt war. In der Zelle setzte sie sich nieder. Stärker und stärker brach das Frohgefühl in ihrem Herzen durch, bis sie ein sanfter Schlaf umfing.


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