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8.
Das Urteil

Audrey machte eine fast heroische Anstrengung, ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen, sorglos zu erscheinen und wieder ganz das ausgelassene, launische, leichtsinnige Wesen zu sein, das sie auf ihrer Gesellschaft gewesen war. Ihr Versuch schlug fehl. Sie war sich dessen bewußt. Es war ebenso unmöglich, das Schicksalsrad zurückzudrehen, wie es unmöglich war, wieder ein Kind an der Mutterbrust zu werden.

»Papa? Ich, ach Gott, ich konnte nicht einschlafen. Ich war so in Gedanken.«

»Woran denn?« fragte er, eigentlich gegen seinen Willen. Er fürchtete sich vor ihrer Antwort genau so, wie er sich vorhin vor der Stille gefürchtet hatte, als der Einbrecher sein »Jetzt ist's aus« gerufen und ihm die Waffe immer näher entgegen gehalten hatte.

»Ich muß immer an den Toten denken, Papa. Er hat nicht stehlen wollen, ich weiß es, er ist gekommen, um dich zu töten!«

James Murdock bedurfte all der Selbstbeherrschung, zu der er sich im Laufe der Jahre erzogen hatte, um sein Gleichgewicht zu behalten. So unerwartet traf ihn die Antwort seiner Tochter. Wenn er das Opfer des nächtlichen Kampfes gewesen wäre, hätte ihn das Schicksal nicht härter treffen können. Aber nichtsdestoweniger sagte er leichthin:

»Aber das ist doch Unsinn, Audrey. Selbstverständlich hat er mir gedroht, daß er mich töten würde. Aber was er gewollt hat, war nur mein Geld. Das hat er auch deutlich gesagt. Er erklärte, ich hätte genug Geld und genug Vergnügen daran. Bei deinen Worten eben ist es mir wieder eingefallen. Wie mich die Herren von der Polizei vorhin danach gefragt haben, konnt' ich mich doch tatsächlich nicht mehr daran erinnern. Ich hatte ein bißchen die Nerven verloren. Aber wie kommst du nur auf den Gedanken, daß er mich hat ermorden wollen?«

»Ach, ich wünschte, es wäre bloß ein Gedanke. Ich denke es nicht nur, ich weiß es ganz bestimmt. Und darum kann ich nicht schlafen.«

»Reine Einbildung!« erwiderte Murdock fast barsch. »Es sind deine Nerven, Audrey. Dieser Abend war nicht ganz leicht. Aber du mußt dich wieder zusammenraffen. Vergiß die dumme Geschichte. Vorbei ist vorbei. Man kann sie nun mal nicht ungeschehen machen. Roger Warren hat mir mein Leben gerettet. Hat er dir's nicht erzählt? Ist der Einbrecher nicht auf einem ganz gewöhnlichen Wege eingestiegen? Hat er nicht das Fenster mit seinem Stemmeisen aufgebrochen?«

»War das nicht verrückt, wo das ganze Haus voller Gäste war? Das ist ja gerade der Punkt. Kein Einbrecher würde das tun.«

Ihres Vaters Lächeln beruhigte sie bis zu einem gewissen Grade.

»Meinst du, er hat gewußt, daß er in einer Fifth Avenue-Villa einbrach?« sagte er halb spöttisch. »Oder ist er von der Seitenstraße durch die Hinterfenster hereingekommen? Die Nacht war doch geradezu wie geschaffen für einen Einbruch. Der Schutzmann hätte ihn überhaupt nicht gesehen. Und wenn Roger Warren nicht zufällig vorbeigegangen wäre, hätte ihn überhaupt niemand gesehen. Das habe ich dir doch schon vorhin in meinem Zimmer erklärt, nicht wahr? Und Roger Warren war sogar dabei. Also. Ich glaube, eine kleine Seereise würde dir ganz gut tun,« fuhr Murdock fort, »ich denke schon lange daran. Nur noch einen guten geschäftlichen Treffer, und ich kann mir für eine Weile Ruhe gönnen. Na, hättest du Lust auf eine Reise?«

»Ein Gedanke zum Träumen!« antwortete sie etwas doppelsinnig.

»Na, denn gute Nacht, Audrey.«

»Gute Nacht, Papa, gute Nacht.«

Murdock schloß die Tür hinter sich. Seine Knie versagten ihm fast, und er strich sich mit der Hand über die schmerzenden Augen. Dann lachte er bitter vor sich hin.

»Nun fang nur noch an zu greinen wie ein altes Waschweib, Murdock«, dachte er bei sich. »Dein Glück, daß du deine Fassung bewahrt hast, alter Junge! Die Frage hat gut gesessen, was?«

Er begab sich in sein Schlafzimmer und dachte an Gregory. Auf den konnte er sich verlassen. Die Gefahr, in der sich die Firma befand, würde schon überwunden werden. Und damit sank er in Schlaf.

*

Andere Leute schliefen nicht. Inspektor Montrose war zum Hauptpolizeiamt gefahren und erwartete dort die Ankunft des Wagens mit dem Toten, der in dem nächtlichen Kampf mit Warren in Murdocks Villa gefallen war. Der Leichnam wurde einer erneuten Untersuchung unterworfen. Sie wurde sofort vorgenommen, denn in einer Stadt von fünf Millionen Einwohnern bringt jeder neue Tag neue und dringliche Fälle, die ihrer polizeilichen Aufklärung harren. Also kann man des Nachts nicht feiern.

Die drei Schußwunden wurden untersucht und die Kugeln entfernt. Eigentlich hätte man damit warten können, bis das formelle gerichtliche Verfahren wegen Totschlages in Ausübung dienstlicher Pflichten gegen Warren eröffnet wurde, aber Inspektor Montrose wollte die Geschichte gern rasch erledigt haben.

Unter Beihilfe von Sachverständigen waren die Kugeln von Polizeiarzt Dell entfernt und wohlpräpariert Inspektor Montrose ausgehändigt worden, der mit einem niederen Beamten der Detektivabteilung sein Bureau teilte. Der Kommissar vom Dienst war bereits nach Hause gegangen, aber das hinderte nicht, daß das Bureau noch offen war. Es schließt fast überhaupt nicht.

Die beiden Kugeln, die Inspektor Montrose und Kommissar Marsh aus der Zimmerwand entfernt hatten, waren beide vom Kaliber 0,75. Die eine von beiden wies einige Blutspuren auf. Die Untersuchung der Waffe des Erschossenen zeigte das gleiche Kaliber. Die Angaben, die Warren gemacht hatte, schienen soweit zu stimmen.

Die drei weiteren Kugeln, die Doktor Dell aus dem Leichnam entfernt hatte, waren alle peinlich genau mit der Bezeichnung der Stelle versehen, an der sie im Körper gefunden worden waren. Inspektor Montrose betrachtete sie mit geübtem Blick. Sie waren alle drei einander gleich, hatten gleiche Länge und gleichen Durchmesser. Jede war gesondert in Seidenpapier und Stanniol eingewickelt und mit einer Nummer versehen. Inspektor Montrose übergab sie einem Beamten der Untersuchungsabteilung und bat ihn:

»Geben Sie mir Ihren Bericht so rasch es irgend angeht. Im dritten Distrikt hat es heute nacht einen Toten gegeben. Ich möchte gern das Material bald zusammen haben.«

Der Beamte kehrte binnen kurzer Zeit mit seinem schriftlichen Rapport zurück. Montrose las und runzelte die Stirn.

»Ich danke Ihnen«, sagte er. Aber im Selbstgespräch fuhr er fort und meinte: »Kreuzdonnerwetter noch mal, darüber muß ich doch mit dem Chef sprechen. Er soll sich äußern. Die Sache war ganz klar, aber mir scheint – – –.«


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