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Draußen auf der Straße kam einer vorüber und noch einer und noch einer; es ward ein ganzes Getrampel von Füßen. Der junge Meister pochte an die Wand. »Was in aller Welt is denn das, Pelle?« Er hatte nicht die Absicht, an diesem Tage aufzustehen.
Pelle lief hinaus, um Bescheid einzuholen. »Jens sein Vater hat Delirium bekommen – er hat den ganzen Hafen geräumt und droht, alle totzuschlagen!«
Der Meister erhob den Kopf ein wenig. »Weiß Gott, ich glaube, ich stehe auf!« Seine Augen strahlten; nach einer Weile war er in seinen Kleidern und hinkte von dannen, sie hörten ihn häßlich in der Kälte husten.
Der alte Jeppe steckte sein Amtskäppchen in die Tasche, ehe er davonrannte; vielleicht war Gebrauch für die Obrigkeit. Die Lehrlinge saßen eine Weile da und starrten nach der Tür wie kranke Vögel, dann rannten auch sie von dannen.
Draußen war das Ganze im Aufstand. Die wildesten Gerüchte waren im Umlauf, was Steinhauer Jörgen alles ausgerichtet hatte. Die Erregung hätte nicht größer sein können, wenn ein feindliches Geschwader vor Anker gegangen wäre und angefangen hätte, die Stadt zu beschießen. Jeder ließ fallen, was er in der Hand hatte, und stürzte nach dem Hafen hinab. Die schmalen Gassen waren ein ununterbrochener Zug von Kindern und alten Weibern und kleinen Meistern im Schurzfell. Alte, gichtschwache Seeleute krochen aus ihrem Altersschlaf hervor und humpelten von dannen, die Hand hinten auf der Lende, mit schmerzlich verzerrtem Gesicht.
»Futti, futti, futti, pfui!
All die pechigen Rüssel!«
Ein paar Straßenjungen erlaubten sich diesen kleinen Abstecher, als Pelle mit seinen Lehrkameraden gelaufen kam; sonst war alle Aufmerksamkeit nur auf das eine gerichtet: »die Kraft« hatte wieder um sich geschlagen! Es lag eine gewisse Festlichkeit über den Gesichtern der Leute, als sie dahinliefen, eine lichte Erwartung. Es war lange still um den Steinhauer gewesen, er ging und schuftete wie ein Riesenlasttier, erloschen und tot anzusehen, mühte sich ab wie ein Bär und trug am Abend zwei Kronen still nach Hause. Es war beinahe peinlich, Zeuge davon zu sein, und ein enttäuschtes Schweigen legte sich auf ihn. Und nun zersprengte er plötzlich das Ganze, so daß jedermann zusammenzuckte!
Alle hatten etwas auf ihn zu sagen, während sie von dannen eilten. Jeder hatte vorausgesehen, daß es so kommen müsse; er hatte lange so unheimlich ausgesehen und alles Böse aufgespart, es war nur ein Wunder, daß es nicht schon früher gekommen war. Solche Leute durften eigentlich nicht frei umhergehen, sie mußten auf Lebenszeit eingesperrt werden! Sie nahmen seinen Lebenslauf wohl schon zum hundertsten Male durch – von dem Tage an, als er jung und keck in seinen Lumpen dahergestapft kam und seine Kräfte geltend machen wollte, bis er das Kind in die See trieb und als Blödsinniger zur Ruhe kam.
Unten im Hafen wimmelte es von Leuten; alles, was nur kriechen und gehen konnte, hatte sich eingestellt. Es war Humor in den Leuten trotz der kalten und kargen Zeit, sie stampften und machten Witze. Die Stadt hatte mit einem Schlage den Winterschlaf abgeschüttelt, die Leute krochen auf die Felsblöcke und hingen dichtgedrängt in den zusammengeschlagenen Holzrahmen, die für die Molen versenkt werden sollten. Sie machten lange Hälse und zuckten nervös zusammen, als könne irgend etwas unversehens kommen und ihnen den Kopf abschlagen. Jens und Morten waren auch da; sie standen ganz abseits und sprachen zusammen. Traurig sahen sie aus mit ihren scheuen, gequälten Gesichtern, und dort, wo die große Helling schräge nach dem Boden des Beckens zulief, standen die Arbeiter in Scharen; sie zogen, um etwas zu tun, die Hosen in die Höhe, schielten einander verlegen an und fluchten.
Aber unten auf dem Boden des großen Beckens ging »die Kraft« allein umher und regierte. Er schien von seiner Umgebung so wenig zu wissen wie ein Kind, das von einem Spiel in Anspruch genommen ist; er hatte seine eigenen Ziele. Aber was das war, war nicht gut zu wissen. In der einen Hand hielt er ein Bündel Dynamitpatronen, mit der anderen stützte er sich auf eine schwere eiserne Stange. Er war langsam und gleichmäßig in seinen Bewegungen wie ein schwerfälliger Bär. Wenn er sich aufrichtete, riefen die Kameraden ihm gallig zu, sie würden kommen und ihn in kleine Stücke zerreißen, wollten seinen Magen aufschneiden, so daß er seine eigenen Eingeweide riechen könne, würden ihn mit ihren Messern zurichten und die Wunden mit Höllenstein einreiben, wenn er nicht gleich seine Waffen niederlege und sie an ihre Arbeit kommen ließe.
»Die Kraft« würdigte sie keiner Antwort. Vielleicht hörte er sie gar nicht. Wenn er das Gesicht erhob, schweifte der Blick in die Ferne, geladen mit einer wunderlichen Wucht, die nicht menschlich war. Das entsetzlich todmüde Gesicht wies weiter weg in seiner Traurigkeit, als wohin irgend jemand folgen könnte. »Er ist wahnsinnig,« flüsterten sie, »Gott hat ihm den Verstand genommen.« Da beugte er sich wieder über sein Vorhaben, es sah so aus, als bringe er die Patronen unter der großen Mole an, zu der er selbst den Vorschlag gemacht hatte. Aus allen Taschen zog er Patronen hervor. Darum also hatten sie ihm so sonderbar vom Leibe abgestanden.
»Was zum Teufel will er nur? Die Mole in die Luft sprengen?« fragten sie und versuchten hinter die Schlippe zu schleichen, um ihm von hinten beizukommen. Aber er hatte überall Augen; bei der geringsten Bewegung, die sie machten, war er mit seiner Eisenstange da.
Da lag die ganze Arbeit! Zweihundert Mann standen Stunde um Stunde leer und ledig, sie knurrten und drohten mit Tod und Teufel, wagten sich aber nicht vor. Die Aufseher liefen unschlüssig umher, und selbst der Ingenieur hatte den Kopf verloren – das Ganze war in der Auflösung begriffen. Der Amtsrichter ging in voller Uniform auf und nieder und sah unergründlich aus; seine bloße Anwesenheit wirkte schon beruhigend, aber er unternahm nichts.
Ein Vorschlag wilder als der andere wurde gemacht. Man wollte einen mächtigen Schirm anfertigen und ihn vor sich herschieben – oder eine gewaltige Zange aus langen Balken und ihn damit einfangen; aber niemand versuchte es, sie auszuführen; sie konnten sich freuen, daß er sie überhaupt da stehen ließ, wo sie standen. »Die Kraft« konnte eine Dynamitpatrone mit einer solchen Wucht schleudern, daß sie explodierte und alles rings um ihn her wegfegte.
»Die Kippwagen!« rief einer. Darin war doch endlich einmal Sinn, – schnell wurden sie mit bewaffneten Arbeitern gefüllt. Man schlug den Pricken weg, aber die Wagen glitten nicht. »Die Kraft« mit seinem verteufelten Verstand war den andern zuvorgekommen; die Kette ohne Ende wollte nicht wandern, er hatte sie vernagelt. Und nun schlug er die Unterlagen von ein paar von den Stützen weg, damit sie die Wagen nicht mit Handkraft auf ihn loslassen konnten.
Das war kein Delirium, jedenfalls hatte noch niemand gesehen, daß sich Delirium so äußerte. Und er rührte ja keinen Spiritus an seit dem Tage, da sie mit der Tochter geschleppt kamen! Nein, das war der ruhigste Beschluß von der Welt; als sie nach der Frühstückspause aufgestanden waren und nach der Schleppstelle herunterschlenderten, stand er mit seiner eisernen Stange da und bat sie ruhig, sich von hier fortzuscheren – der Hafen gehöre ihm! Es setzte ja mehr als eine Ohrfeige, ehe sie begriffen, daß es Ernst war; aber sonst war nichts Böses in ihm – man konnte förmlich sehen, wie wehe es ihm tat, zu schlagen. Es war wohl der Teufel, der ihn ritt – gegen seinen eigenen Willen.
Aber woher es auch kommen mochte – jetzt mußte es genug sein! Jetzt läutete die große Hafenglocke zu Mittag, ganz lächerlich klang es, wie ein Hohn gegen ehrliche Leute, die nichts weiter wollten, als ihre Arbeit wieder aufnehmen. Sie hatten keine Lust, den ganzen Tag zu vergeuden, und Leben und Gesundheit wegen der Narrenstreiche eines Verrückten wagen wollten sie auch nicht. Selbst der starke Bergendal hatte seine Todesverachtung heute zu Hause gelassen und begnügte sich damit, zu murren wie die anderen.
»Wir müssen ein Loch in den Damm schlagen,« sagte er, »mag dann das Tier in den Wellen umkommen!«
Sie griffen sofort nach dem Werkzeug, um in Gang zu kommen. Der Ingenieur bedrohte sie mit Gericht und Obrigkeit, es würde Tausende kosten, den Hafen wieder zu leeren. Sie hörten nicht auf ihn; was ging er sie an, wenn er nicht einmal Ruhe zum Arbeiten schaffen konnte!
Sie wanderten mit Hacken und eisernen Stangen nach dem Gatt herunter, um ein Loch in den Damm zu schlagen; der Ingenieur und die Schutzleute wurden zur Seite geschoben. Jetzt handelte es sich nicht mehr um die Arbeit, es galt zu zeigen, ob zweihundert Mann sich von einem verrückten Teufel auf der Nase herumspielen lassen sollen. Beelzebub sollte ausgeräuchert werden, und »die Kraft« sollte von da unten heraufsteigen – oder in den Wellen umkommen.
»Ihr sollt vollen Tagelohn ausgezahlt bekommen!« rief der Ingenieur, um sie zurückzuhalten. Sie hörten nichts, aber als sie herumkamen, stand »die Kraft« unten am Fuß des Dammes und schwang seine Hacke, so daß es an den Wänden des Bassins widerhallte. Er strahlte vor Hilfsbereitschaft bei jedem Hieb; die schwache Stelle, wo das Wasser hinein sickerte, hatte er sich ausersehen, und sie sahen entsetzt, welche Wirkung seine Schläge hatten. Es war ja der reine Wahnsinn, was er da vorhatte.
»Er füllt uns den Hafen mit Wasser, der Teufel!« riefen sie und warfen ihm einen Stein an den Kopf. »Und so eine Arbeit, wie das gekostet hat, ihn leer zu machen!«
»Die Kraft« deckte sich hinter einem Pfeiler und schlug weiter darauflos.
Dann blieb nichts weiter übrig, als ihn niederzuschießen, ehe er seinen Zweck erreichte; ein Schuß Hagel in die Beine, wenn nichts weiter, dann war er wenigstens unschädlich gemacht. Der Amtsrichter wußte weder aus noch ein; aber Holzbein-Larsen war schon auf dem Wege nach Hause, um sein Gewehr zu holen. Da kam er herangehumpelt, von einer Schar Jungen umgeben. »Ich habe mit grobem Salz geladen«, sagte er, so daß der Amtsrichter es hören konnte.
»Nun wirst du totgeschossen!« riefen sie hinunter. »Die Kraft« setzte als Antwort die Hacke in den Fuß des Dammes, so daß der gestampfte Lehm seufzte und die Feuchtigkeit ihnen bis unter die Füße drang; ein langer Krach verkündete, daß die erste Planke gesprengt war.
Der Beschluß war ganz von selbst gekommen. Jeder sprach von Niederschießen, als sei es ein längst gefälltes Urteil, und jeder sehnte sich nach der Ausführung. Sie haßten den da unten mit einem geheimen Haß, der keiner Erklärung bedurfte; er war ihnen allen in seinem Trotz und seiner Unbändigkeit ein Schlag ins Gesicht, sie hätten ihn selbst gern mit dem Absatz zertreten, wenn sie nur gekonnt hätten.
Sie riefen Schimpfworte zu ihm hinab, ließen ihn hören, daß er in seinem Hochmut seine Familie zugrunde gerichtet und sein Kind in den Tod getrieben habe – und seinen rohen Überfall auf den Wohltäter der Stadt, den reichen Schiffsreeder Monsen, rieben sie ihm auch unter die Nase. Für eine Weile rafften sie sich aus ihrer Schlaffheit auf, um sich daran zu beteiligen, ihn niederzuschlagen. Und nun sollte es gründlich geschehen, man mußte Ruhe haben vor diesem einen, der seine Kette nicht still tragen konnte, sondern sie klirren ließ wie einen Groll hinter Armut und Unterdrücktheit.
Der Amtsrichter balancierte nach dem Quai hinaus, um sein Urteil über »die Kraft« zu verkünden – dreimal mußte es verkündet werden, damit er Gelegenheit hatte, in sich zu gehen. Er war leichenblaß, und bei der zweiten Verkündigung zuckte er zusammen. Aber »die Kraft« warf keine Dynamitpatrone nach ihm, er führte nur die Hand an den Kopf, als wolle er grüßen, und machte ein paar stoßende Bewegungen in die Luft hinein mit zwei Fingern, die von der Stirn abstanden wie ein paar Hörner. Dort, wo der Apotheker in einem Kreis von feinen Damen stand, ertönte ein gedämpftes Lachen. Aller Gesichter wandten sich nach der Richtung hin, wo die Bürgermeisterin hoch und stattlich auf einem Stein stand. Sie aber starrte unverwandt zu der »Kraft« hinab, als habe sie ihn noch nie zuvor gesehen.
Auf den Bürgermeister wirkte die Bewegung wie eine Explosion. »Schießt ihn nieder!« brüllte er mit blauem Gesicht und stürzte erregt über die Mole hinweg. »Schießen Sie ihn nieder, Larsen!«
Aber niemand achtete auf sein Rufen. Alle strömten nach der Schleppstelle zusammen, wo ein altes, welkes Mütterchen im Begriff war, sich auf der Schlippe nach dem Boden des Beckens hinabzutasten. »Das ist die Mutter der ›Kraft‹!« ging es von Mund zu Munde. »Nein, wie alt und klein sie ist! Man kann es gar nicht fassen, daß sie einen solchen Riesen zur Welt gebracht hat!«
Gespannt folgten sie ihr, während sie über den scherbigen Boden wankte, der in seinen Sprengbrüchen an zusammengeschobenes Eis erinnerte; es ging nur langsam vorwärts und sah fortwährend aus, als müsse sie die Beine brechen. Aber die alte Frau ging drauflos, so gekrümmt und welk sie auch war, die kurzsichtigen Augen vor sich hin gerichtet.
Da gewahrte sie den Sohn, der dastand und die eiserne Stange in der Hand wog. »Wirf den Stock weg, Peter!« rief sie scharf, und er ließ mechanisch die eiserne Stange sinken. Er zog sich langsam vor ihr zurück, bis sie ihn in einen Winkel gedrängt hatte und nach ihm greifen wollte; dann schob er sie vorsichtig zur Seite, als geniere ihn etwas.
Ein Seufzer ging durch die Menge und verpflanzte sich rings umher durch den Haufen wie ein wanderndes Schauern. »Er schlägt seine eigene Mutter, er muß wahnsinnig sein!« sagten sie fröstelnd.
Aber die Alte war wieder auf den Beinen. »Schlägst du deine eigene Mutter, Peter?« rief sie mit stark verwunderter Stimme aus und langte nach seinem Ohr hinauf; sie konnte es nicht erreichen; aber »die Kraft« beugte sich nieder, als drücke ihn etwas Schweres hinab, und ließ sie das Ohr fassen. Und dann zog sie ihn mit sich von dannen, über Stock und Stein, schräg die Helling hinan, wo die Leute wie eine Mauer standen, über den Boden gebeugt, ging er dahin und glich einem großen Tier in den Händen der kleinen Frau.
Da oben stand die Polizei bereit, sich mit Stricken über ihn zu werfen, aber die Alte wurde wie Pfeffer und Salz, als sie ihre Absicht sah. »Macht, daß ihr wegkommt, oder ich hetze ihn wieder auf euch los!« fauchte sie. »Seht ihr denn nich', daß er den Verstand verloren hat? Wollt ihr den anfallen, den Gott gerichtet hat?«
»Ja, er ist wahnsinnig,« sagten die Leute versöhnend; »mag seine Mutter ihn strafen – sie ist doch die Nächste dazu.«