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VI

Pelle hatte einen schnellen Puls und viel Unternehmungsgeist; da war immer etwas, was sein rastloses Streben versuchen mußte einzuholen – wenn es nichts weiter war, dann die Zeit selbst. Jetzt war der Roggen unter Dach, jetzt verschwand die letzte Hocke vom Felde, die Schatten wurden mit jedem Tage länger. Aber eines Abends überraschte ihn die Dunkelheit vor seiner Schlafenszeit, und er wurde bedenklich. Er trieb die Zeit nicht mehr zur Eile an, sondern suchte sie durch allerlei kleine Sonnenzeichen zurückzuhalten.

Eines Tages hörte die Mittagsrast der Leute auf. Sie spannten wieder vor, sobald sie das Mittagessen herunter hatten, und das Häckselschneiden wurde auf den Abend verlegt.

Der Göpel lag auch auf der äußeren Seite des Stallgebäudes, und keiner von den Knechten hatte Lust, da draußen in der Finsternis herumzutraben und die Maschine zu fahren. Da mußte Pelle es denn tun. Lasse widersetzte sich und drohte, zu dem Großbauer zu gehen, aber es half nichts; jeden Abend mußte Pelle ein paar Stunden da hinaus. Es waren seine besten Stunden, die man ihm nahm: die Stunden, in denen er und Vater Lasse im Stall herumpusselten und sich sorglos durch alle Widerwärtigkeiten des Tages hindurch in eine gemeinsame lichte Zukunft hineinplauderten – und Pelle weinte. Wenn der Mond die Wolken jagte und er alles deutlich um sich her sehen konnte, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Aber an den dunklen Abenden schwieg er und hielt den Atem an. Wenn der Regen herabströmte, konnte es so finster sein, daß der Hof und alles verschwunden war, und da sah er Hunderte von Wesen, die das Licht sonst verbarg. Sie traten in der Finsternis da draußen hervor, entsetzlich groß, oder kamen auf ihrem Bauch zu ihm herangekrochen. Er erstarrte im Starren und konnte den Blick nicht losreißen; unter der Mauer suchte er Schutz und saß da und trieb von dort aus die Pferde an, und eines Abends lief er hinein. Sie jagten ihn wieder hinaus, und er ließ sich jagen; er hatte, wenn es darauf ankam, mehr Angst vor denen da drinnen als vor denen hier draußen. Aber an einem pechschwarzen Abend war ihm besonders ängstlich zu Sinn, und als er dann entdeckte, daß das Pferd, sein einziger Trost, ebenfalls bange war, da ließ er alles liegen und rannte zum zweitenmal hinein. Keine Drohung vermochte ihn wieder hinauszutreiben, ebensowenig Püffe. Da nahm ihn einer der Knechte auf den Arm und trug ihn hinaus. Aber da vergaß Pelle alles und schrie, so daß es im Hofe widerhallte.

Während sie mit ihm rangen, kam der Gutsbesitzer herzu. Er wurde sehr böse, als er hörte, was los sei, und schimpfte den Großknecht gehörig aus. Dann nahm er Pelle bei der Hand und brachte ihn nach dem Kuhstall hinüber. »So ein Mann, der vor ein bißchen Dunkelheit bange ist!« sagte er scherzend – »das mußt du dir aber abgewöhnen. Und wenn die Knechte dir was tun, so komm' du nur zu mir.«

Über die Felder ging der Pflug den ganzen Tag und machte die Erde schwer von Farbe. Das Laub färbte sich bunt, und da waren viele Regentage. Die Behaarung der Kühe wuchs, sie wurden langhaarig und veränderten sich im Rücken; Pelle hatte viel auszustehen, und das ganze Dasein ward einen Schatten ernsthafter. Seine Kleider wurden nicht dichter und wärmer mit der Kälte, wie das bei den Kühen der Fall war; aber er konnte mit der Peitsche knallen, was günstigsten Falles wie kleine Schüsse klang, er konnte Rud durchprügeln, wenn es ganz ehrlich zuging, und über den Bach springen, wo er am schmälsten war. Das alles verlieh dem Körper Wärme.

Er hütete nun über den Bereich des Hofes hinaus, überall, wo Vieh angepflöckt gewesen war; die Milchkühe standen im Stall. Oder auch er war auf dem Moor, wo jedes Gehöft sein Stück Weideland hatte. Hier machte er Bekanntschaft mit den Hirtenjungen von den anderen Höfen und sah in eine ganz andere Welt hinein, wo nicht mit Verwalter und Landwirtschaftseleven und Prügel regiert wurde, sondern wo alle am selben Tisch aßen und wo die Hausfrau selbst am Spinnrad saß und Garn zu Strümpfen für die Hirtenjungen spann. Aber dahin konnte er niemals kommen, denn sie nahmen keine Schweden auf diesen kleinen Höfen, die Eingeborenen wollten auch nicht mit ihnen zusammen dienen. Das tat ihm leid.

Sobald das Herbstpflügen oben auf den Äckern im Gange war, legten die Jungen nach alter Sitte die Grenzscheiden nieder und ließen alles Vieh zusammen weiden. Das nannten sie über die Grenze hüten. An den ersten Tagen gab das mehr Arbeit, die Tiere kämpften, ehe sie vertraut miteinander wurden. Und ganz vermischten sie sich nie; sie weideten immer in Scharen, die Besatzung jedes Hofes für sich. Auch die Vorratskörbe wurden zusammengeschlagen, und der Reihe nach mußte immer einer von den Jungen die ganze Herde hüten. Die anderen spielten Räuber oben in den Felsklippen oder trieben sich in den Gehölzen oder am Strande herum. Wenn es gehörig kalt war, zündeten sie Feuer an, bauten Feuerstätten aus flachen Steinen und brieten Äpfel und Eier, die sie auf den Höfen stahlen.

Das war ein herrliches Leben, und Pelle war glücklich. Freilich war er der kleinste von der Schar, und es haftete ihm an, daß er ein Schwede war; mitten im schönsten Spielen konnten die anderen auf den Einfall kommen, ihm seine Sprache nachzuäffen, und wenn er wütend wurde, fragten sie, warum er nicht das Messer ziehe. Aber auf der anderen Seite war er von dem größten Hof – der einzige, der Ochsen in seiner Herde hatte; er stand in körperlicher Gewandtheit nicht hinter ihnen zurück, und keiner von ihnen konnte so gut schnitzen wie er. Und wenn er erst groß war, so hatte er die Absicht, sie alle zusammen durchzuprügeln.

Vorläufig mußte er sich schicken und fügen, sich bei den Großen einschmeicheln, wo er entdeckte, daß ein Riß in dem Verhältnis war, und diensteifrig sein. Er mußte das Hüten häufiger übernehmen als die anderen und wurde bei den Mahlzeiten übervorteilt. Er nahm das als etwas Unvermeidliches hin und setzte seine ganze kleine Person ein, um das Bestmögliche aus den Verhältnissen zu machen. Aber er gelobte sich, wie gesagt, eine ungeheuere Genugtuung, wenn er erst groß war.

Ein paarmal wurde es ihm zu heiß, und er gab die Gemeinschaft auf und hielt sich für sich. Aber er kehrte schnell wieder zu den anderen zurück. Sein kleiner Körper war zum Platzen voll von Mut und Leben und gestattete ihm nicht, sich zu drücken; er mußte seine Chancen hinnehmen – sich durchfressen.

Eines Tages kamen zwei neue Jungen hinzu, die das Vieh von ein paar Gehöften auf der anderen Seite des Steinbruchs hüteten; sie waren Zwillinge und hießen Alfred und Albinus. Es waren zwei lange dünne Burschen, die so aussahen, als hätten sie als kleine Kinder gehungert; sie waren bläulich von Hautfarbe und konnten schlecht die Kälte vertragen. Flink zu Fuß und geschmeidig waren sie, sie konnten das schnellste Kalb einholen, konnten auf den Händen gehen und dabei Tabak rauchen und Luftsprünge machen, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Zum Prügeln eigneten sie sich nicht recht; es fehlte ihnen an Mut draufloszugehen, und ihre körperliche Geschicklichkeit ließ sie im Stich, wenn Gefahr im Anzug war.

Die beiden Brüder hatten etwas Komisches an sich. »Da kommen die Zwillinge, die Zwölflinge!« rief ihnen die ganze Schar an dem ersten Morgen, als sie sich blicken ließen, entgegen. »Na, wievielmal habt ihr denn seit vorigem Herbst zu Haus Kinder gekriegt?« – Sie waren zwölf Geschwister und darunter zweimal Zwillinge, das war allein eine unerschöpfliche Quelle des Spottes – außerdem waren sie Halbschweden. Sie mußten den Schaden mit Pelle teilen.

Aber es machte nichts Eindruck auf sie, sie greinten über alles und gaben sich nur noch mehr preis. Pelle konnte aus allem heraushören, daß für das Kirchspiel über ihrem Heim ein lächerlicher Schein lag; aber das machte ihnen nichts aus. Namentlich an die Fruchtbarkeit der Eltern hängte sich der Spott, und die beiden Jungen lieferten mit frohen Mienen die Eltern aus und fingen an, von den geheimsten Verhältnissen zu Hause zu erzählen. Eines Tages, als die Schar besonders unermüdlich war, Zwölflinge zu rufen, erzählten sie greinend, die Mutter erwarte das Dreizehnte. Sie waren unverwundbar.

Jedesmal, wenn sie ihre Eltern auslieferten, gab es Pelle einen Stich, er hatte in diesem Punkte seine heiligsten Gefühle. So sehr er sich auch den Kopf zerbrach, waren sie ihm unverständlich; er mußte eines Abends damit zum Vater.

»So, also sie machen ihre eigenen Eltern zum Gespött und Gelächter?« sagte Lasse; »da wird es ihnen hier auf Erden niemals gut gehen, denn man soll seinen Vater und seine Mutter ehren. Brave Eltern, die sie mit Schmerzen in die Welt gesetzt haben und hart arbeiten müssen, vielleicht selbst hungern und Not leiden, um ihnen Nahrung und Kleider zu schaffen – ach, wie sündhaft is das! – – Und sie heißen Karlsson mit Nachnamen, so wie wir, sagst du? – Und wohnen in der Heide hinter dem Steinbruch? Aber dann müssen es ja Bruder Kalles Söhne sein! Ja, bei meiner Seelen Seligkeit, ich glaub', daß es so is! Frag' du sie doch morgen mal, ob ihr Vater nich' 'n Riß in dem rechten Ohr hat. Ich habe es ihm ja selbst mit 'm Stück von einem Hufeisen gehauen, als wir noch kleine Jungs waren einen Tag war ich wütend auf ihn, weil er mich vor den anderen lächerlich machte. Er war ganz akkurat so wie die beiden; aber er dacht' sich nichts nich' dabei, da war nichts Böses in ihm.«

Der Vater der Knaben hatte wirklich einen Riß in dem rechten Ohr. Pelle und sie waren also Geschwisterkinder, und das war zum Lachen und zum Weinen, so wie sie und die Eltern zum Gespött waren. Das ging ja gewissermaßen auch über Vater Lasse her, und der Gedanke war beinahe nicht zum Aushalten.

Die anderen Jungen entdeckten gar bald diese seine Verletzbarkeit und machten sie sich zu Nutzen, und Pelle mußte ablenken und sich in allerlei finden, um den Vater außerhalb der Sache zu halten. Trotzdem gelang ihm das nicht immer. Wenn sie in der Stimmung waren, sagten sie ganz ins Blaue hinein alles mögliche über ihre gegenseitigen Familien; es sollte nicht für mehr genommen werden als es war, aber Pelle verstand in diesem Punkte keinen Scherz. Eines Tages sagte einer der größten Jungen zu Pelle: »Dein Vater hat ja seiner eigenen Mutter ein Kind angedreht.« Pelle verstand das Wortspiel in dieser Roheit nicht, aber er hörte das Gelächter der anderen und wurde blind vor Wut. Er ging auf den großen Kameraden los und stieß ihn dermaßen in den Unterleib, daß der mehrere Tage zu Hause liegen mußte.

Während der folgenden Tage war Pelle ganz heiß um die Ohren. Er wagte nicht, dem Vater zu erzählen, was geschehen war, da er dann gezwungen sein würde, auch die abscheuliche Beschuldigung des Jungen zu wiederholen; und so ging er denn umher und ängstigte sich vor den verhängnisvollen Folgen. Die anderen Jungen hatten sich von ihm zurückgezogen, um keine Schuld zu haben, wenn etwas dabei herausbriet; der Junge war ein Bauernsohn, der einzige in der Schar – und sie vermuteten die Obrigkeit hinter der Geschichte, vielleicht Rutenschläge auf dem Rathaus. So ging denn Pelle mit seinen Kühen für sich und hatte Zeit genug, sich mit dem Ereignis zu beschäftigen; es nahm in seiner lebhaften Einbildungskraft mit seinen Folgen einen immer größeren Umfang an und war schließlich nahe daran, ihn vor Grauen zu zersprengen. Bei jedem Wagen, den er auf der Landstraße einherfahren sah, kroch es inwendig in ihm; und bog er nach Steinhof ein, so konnte er deutlich die Polizei unterscheiden, die drei Mann hoch und mit sicheren Handeisen kam – genau so wie damals, als Erik Erikson abgeholt wurde, weil er seine Frau mißhandelt hatte. Am Abend wagte er kaum nach Hause zu treiben.

Und dann eines Vormittags kam der Junge mit seinen Kühen dahergetrieben, und ein erwachsener Mann begleitete ihn, nach den Kleidern und dem ganzen nahm Pelle an, daß er ein Bauer war – es mußte der Vater des Jungen sein. Eine Weile standen sie da drüben und redeten mit den Hirtenjungen, dann kamen sie mit der ganzen Schar hinter sich drein herüber, der Vater hielt seinen Sohn an der Hand.

Pelle brach in Schweiß aus; er fühlte sich stark versucht, davonzulaufen, zwang sich aber, stehen zu bleiben. Vater und Sohn bewegten gleichzeitig die Hand, und Pelle hob beide Ellenbogen in die Höhe, um zwei Ohrfeigen abzuwehren.

Aber sie streckten nur die Hände aus. »Verzeih mir«, sagte der Junge und ergriff Pelles Hand. »Verzeih ihm!« wiederholte der Vater und umschloß seine andere Hand mit der seinen. Und Pelle stand verwirrt da und sah bald den einen, bald den anderen an. Im ersten Augenblick glaubte er, der Mann hier sei derselbe wie der, der von Gott gesandt war; aber es waren doch nur die Augen – diese sonderbaren Augen. Dann brach er plötzlich in Tränen aus und vergaß alles, indem er die schreckliche Spannung ausweinte; und die beiden sagten ein paar gute Worte und gingen ruhig ihrer Wege, um ihn allein zu lassen.

Seitdem wurden er und Peter Kure gute Freunde, und als Pelle ihn näher kennen lernte, entdeckte er, daß der Junge zuzeiten etwas von demselben Ausdruck in den Augen haben konnte wie der Vater, der junge Fischer und der Mann, der von Gott gesandt war. Der sonderbare Verlauf der Begebenheit beschäftigte ihn lange. Eines Tages geschah es, daß seine Erfahrungen derartig Seite an Seite lagen, daß er den Zusammenhang zwischen diesem rätselhaften Augenausdruck und den sonderbaren Handlungen entdeckte; alle die drei, die ihn mit diesen Augen angesehen hatten, hatten überraschend gehandelt. Und eines Tages wurde es ihm klar, daß diese Leute die Heiligen Mitglieder der inneren Mission. waren; die Jungen hatten sich an dem Tage mit Peter Kure gezankt und gebrauchten es als Schimpfwort gegen seine Eltern.

Eins aber blieb stehen und ragte über alles hinaus – der Sieg selbst. Er hatte mit einem Jungen angebunden, der größer und stärker war als er selbst, und war mit ihm fertig geworden – weil er zum ersten Male in seinem Leben rücksichtslos zuschlug. Wollte man schlagen, so mußte man da treffen, wo es am wehesten tat. Wenn man das nur tat und im übrigen das Recht auf seiner Seite hatte, so konnte man sehr gut selbst mit einem Bauernsohn anbinden. Das waren zwei beruhigende Entdeckungen, an denen bis auf weiteres nichts zu rütteln vermochte.

Und dann hatte er den Vater verteidigt; das war etwas ganz Neues und Bedeutungsvolles in seinem Leben. Er forderte fortan mehr Platz.

Um Michaelis wurden die Kühe hereingetrieben, und die letzten Tagelöhner gingen fort. Im Laufe des Sommers waren allerlei Veränderungen unter dem festen Gesinde auf dem Hofe vor sich gegangen, aber jetzt zum Umzugstag veränderte sich niemand; auf Steinhof wechselte man in der Regel nicht zu den bestimmten Terminen.

Nun half Pelle dem Vater wieder bei der Stallfütterung. Eigentlich hatte er mit dem Schulunterricht beginnen sollen, und die Schulbehörden ließen dem Gutsbesitzer eine sanfte Mahnung zukommen. Aber es war gute Verwendung für den Jungen auf dem Hofe, da ein Mann die Pflege der Kühe nicht allein bewältigen konnte, und so wurde denn die Frage totgeschwiegen. Pelle war froh, daß es hinausgeschoben wurde; er hatte im Laufe des Sommers viel über die Schule nachgedacht und sie mit so viel Fremdartigem und Großem ausgeschmückt, daß ihm jetzt ganz bange davor war.


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