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Der verrückte Anker schlug die Werkstattür auf. »Bjerregrav ist tot!« sagte er feierlich. »Jetzt ist da nur noch einer, der über das Elend trauern kann!« Dann ging er weiter und rief die Botschaft zu Bäcker Jörgens hinein. Sie hörten ihn von Haus zu Haus gehen, die ganze Straße entlang.
Bjerregrav tot? Noch gestern abend saß er ja hier auf dem Stuhl unten am Fenstertritt, und die Krücken standen an der Ecke in der Tür, und er kam und gab allen die Hand auf seine gewöhnliche naive Art und Weise, diese viel zu weiche Hand, bei deren Berührung sie alle ein Unbehagen empfanden, weil sie so zudringlich, fast hautlos in ihrer Wärme war, als habe man unversehens einen Menschen an einem nackten Teil angerührt. Pelle mußte immer an Vater Lasse denken, der auch nie lernte, sich zu panzern, sondern beständig dieselbe treuherzige, einfältige Seele blieb, über die harte Erfahrungen keine Macht besaßen.
Der große Bäcker taumelte wie gewöhnlich gegen ihn. – Er wurde roh bei der Berührung mit diesem kindlich Hautlosen, das das Herz ganz hinausbrennen ließ in einem Händedruck.
»Na, Bjerregrav, hast du es denn mal versucht, das, du weißt ja – seit wir uns zuletzt gesehen haben?« fragte er und blinzelte den andern zu.
Bjerregrav wurde dunkelrot. »Ich bin zufrieden mit der Erfahrung, die der liebe Gott mir vorbehalten hat«, antwortete er, mit den Augen zwinkernd.
»Wollt ihr es wohl glauben, er is über siebenzig und weiß noch nich' einmal, wie ein Frauenzimmer beschaffen is!«
»Wenn ich mich nun doch einmal am besten dabei befinde, allein zu sein, und dann habe ich ja auch meinen Klumpfuß.«
»Darum geht er herum und fragt nach allen Dingen, über die sonst jedes Kind Bescheid weiß«, sagte Jeppe überlegen. »Bjerregrav hat nie die kindliche Unschuld abgestreift.«
Noch als er nach Hause gegangen war und Pelle ihm über den Rinnstein hinüberhalf, blieb er in seiner ewigen Verwunderung stehen. »Was das wohl für ein Stern is?« sagte er, »der hat ein ganz anderes Licht als die andern. Er sieht mir so rot aus – wenn wir nur nich' einem strengen Winter entgegengehen, mit harter Erde und teurer Feuerung für die Armen.« Bjerregrav seufzte.
»Den Mond mußt du nich' so viel anstarren. Schiffer Andersen hat seinen Schaden bloß davon gekriegt, daß er auf dem Deck schlief und der Mond ihm gerade ins Gesicht schien; nun is er blödsinnig geworden!«
Gestern abend noch ganz so wie sonst – und jetzt tot! Und niemand hatte es gewußt oder gedacht, daß sie zu guter Letzt noch ein wenig gut gegen ihn hätten sein können. Er starb in seinem Bett mit ihrem letzten Hohn im Gemüt, und jetzt konnten sie nicht mehr zu ihm schicken und sagen: »Kehr dich nich' daran, Bjerregrav, wir haben es ja nich' so böse gemeint.« Vielleicht hatte ihm das seine letzten Stunden verbittert, hier standen wenigstens Jeppe und Bruder Jörgen und konnten einander nicht in die Augen sehen, mit diesem unwiderruflich Schweren, was auf ihnen lastete.
Und eine Leere mehr bedeutete es ja auch – so wie wenn die Uhr in der Stube stehen bleibt. Das treue Dröhnen seiner Krücken kam nicht mehr gegen sechs Uhr auf die Werkstatt zu. Der junge Meister ward um die Zeit unruhig, er konnte sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen.
»Der Tod is etwas Häßliches,« sagte er dann, wenn die Wahrheit ihm aufging, »etwas ekelhaft Widerliches. Warum muß einer von dannen gehen, ohne das Geringste zu hinterlassen? Nun lausche ich nach Bjerregravs Krücken und bekomme nur Leere in meine Ohren, und wenn eine Weile vergangen is, is nich' einmal das mehr da. Dann is er vergessen und vielleicht außer ihm noch einer, der nach ihm kam. Und so geht es ewig weiter. Is wohl ein vernünftiger Sinn in dem Ganzen, Pelle? Zum Satan auch! Vom Himmel sprechen sie ja; aber was mache ich mir daraus, auf eine feuchte Wolke zu kommen und dazusitzen und Halleluja zu singen? Ich wollte viel lieber hier herumgehen und mir einen Schwips antrinken, namentlich wenn ich ein gesundes Bein gehabt hätte!«
Die Lehrlinge von der Werkstatt geleiteten ihn zu Grabe. – Jeppe wollte das, um das Unrecht wieder gutzumachen. Jeppe und Bäcker Jörgen gingen dicht hinter dem Sarge her, im hohen Hut. Sonst folgten nur arme Frauen und Kinder, die sich aus Neugierde anschlossen. Kutscher Due fuhr den Leichenwagen. Er hatte sich jetzt selbst ein paar Pferde angeschafft, und dies war seine erste feine Fahrt.
Sonst floß das Leben träge und einförmig hin. Der Winter war wieder da mit der Geschäftsstille, und die isländische Industrie war ja ruiniert. Die Schuhmacher arbeiteten nicht bei Licht, es war nicht Arbeit genug da, um den Verbrauch von Petroleum zu lohnen. So wurde denn die Hängelampe beiseite gehängt und die alte Blechlampe wieder hervorgeholt; die war gut genug, um dazusitzen und zu schwatzen. Die Nachbarn pflegten in der Dämmerstunde zu kommen; wenn Meister Andres zu Bett gegangen war, schlichen sie wieder von dannen, oder sie saßen noch müßig da, bis Jeppe sagte, daß es Schlafenszeit sei. Pelle hatte angefangen, sich wieder mit Schnitzarbeiten zu beschäftigen; er hielt sich so nahe an die Lampe wie nur möglich und lauschte der Unterhaltung, während er an einem Knopf arbeitete, der in ein Fünfundzwanzigörestück ausgeschnitten werden sollte. Morten sollte ihn als Schlipsnadel haben.
Die Unterhaltung drehte sich um das Wetter, und wie gut es sei, daß der Frost noch nicht da war und die große Hafenarbeit hemmte. Dann glitt sie wie von selbst auf »die Kraft« über, und von ihm zum verrückten Anker und weiter auf die Armut und die Unzufriedenheit. Die Sozialdemokraten da drüben hatten schon lange alle Gemüter beschäftigt. Den ganzen Sommer waren beunruhigende Mitteilungen herübergedrungen; es war ganz klar, daß es vorwärtsging mit ihnen – aber was bezweckten sie eigentlich? Etwas Gutes war es auf alle Fälle nicht. »Es sollen die Allerärmsten sein, die sich auflehnen«, sagte Holzbein-Larsen. »Ihre Zahl muß also groß sein!« – Es war, als hörte man das Dröhnen von irgend etwas draußen am Horizont, und wußte nicht, was da vor sich ging. Ganz verzerrt gelangte das Echo von der Erhebung der unteren Klassen bis hierher; man verstand gerade so viel, daß die Untersten Gottes gesetzmäßige Ordnung auf den Kopf stellen und versuchen wollten, selbst nach oben zu gelangen; unwillkürlich schielte man zu den Armen hier in der Stadt hinüber. Aber die gingen in ihrem gewöhnlichen Halbschlaf einher, arbeiteten, wenn Arbeit da war, und beruhigten sich sonst dabei. »Das fehlte auch noch,« sagte Jeppe – »hier, wo wir ein so gut geordnetes Armenwesen haben!«
Bäcker Jörgen war der eifrigste. Jeden Tag kam er und hatte etwas Neues zu berichten. Jetzt hatten sie das Leben des Königs selbst bedroht! – Und nun war das Militär ausgerückt.
»Das Militär –!« Der junge Meister machte eine höhnische Bewegung. »Das soll wohl helfen! Wenn sie bloß eine Handvoll Dynamit zwischen die Soldaten werfen, so bleibt auch nich' ein Hosenknopf heil. Nein, nun werden sie die Hauptstadt wohl erobern.« Seine Wangen glühten, er sah die Begebenheit schon im Geist vor sich. »Ja, und was dann? Dann plünderten sie wohl die königliche Münze!«
»Ja, – nein, – dann kommen sie hier herüber – – die ganze Gesellschaft!«
»Hier herüber? Nein, zum Teufel auch! Wir bieten die ganze Bürgerwehr auf und schießen sie vom Strande aus nieder. Ich habe mein Gewehr schon in Ordnung gebracht!«
Eines Tages kam Marker gelaufen. »Jetzt hat der Konditor einen neuen Gesellen von da drüben gekriegt – und der is Sozialdemokrat!« rief er ganz atemlos. »Er is gestern abend mit dem Dampfschiff gekommen.« – Bäcker Jörgen hatte es auch schon gehört.
»Ja, nun habt ihr sie über euch!« sagte Jeppe unheilverkündend. »Ihr habt alle zusammen mit dem neuen Zeitgeist gespielt. – Das wäre übrigens etwas für Bjerregrav gewesen – der mit seinem Mitleid mit den Armen.«
»Laß den Schneider in Frieden in seinem Grab ruhen«, sagte Holzbein-Larsen versöhnlich. »Er soll nich' schuld haben an den bösen Mächten, die heutzutage bestehen. Er wollte nur das Gute, und vielleicht wollen diese hier auch das Gute!«
»Das Gute –« Jeppe war lauter Hohn. »Sie wollen Gesetz und Ordnung umstürzen und das Vaterland an die Deutschen verkaufen. Sie sagen, daß die Summe schon abgezählt is und alles!«
»Sie sollen zur nächtlichen Zeit in die Hauptstadt eingelassen werden, wenn unsere eigenen Leute schlafen«, sagte Marker.
»Ja«, sagte Meister Andres feierlich. »Sie haben verraten, daß der Schlüssel unter die Matte gelegt is – die Satanskerle!« Da brach Bäcker Jörgen in ein lautes Gelächter aus; er füllte die ganze Werkstatt damit, wenn er erst zu lachen anfing.
Sie rieten hin und her, was für ein Bursche der neue Geselle wohl sein möge. Noch hatte ihn niemand gesehen. »Er hat sicher rotes Haar und einen roten Bart«, meinte Bäcker Jörgen. »Das is die Art und Weise des lieben Gottes, die Leute zu zeichnen, die sich dem Bösen verschrieben haben.«
»Gott mag wissen, was der Konditor mit ihm will«, sagte Jeppe. »Solche Art Leute können ja nichts tun, die stellen bloß Forderungen. Ich habe gehört, daß sie alle zusammen Freigeister sein sollen.«
»Verteufelte Komödie!« Der junge Meister schüttelte sich vergnügt. »Der wird nich' alt hier in der Stadt.«
»Alt?« Der Bäcker richtete seinen schweren Körper auf. »Morgen am Tage gehe ich zu dem Konditor und verlange, daß er ihn wegjagen soll. Ich bin Kommandeur der Bürgerwehr, und ich weiß, daß alle Bürger so denken wie ich.«
Drejer meinte, es könnte gut sein, von der Kanzel zu beten – so wie zur Zeit der Pest und in dem harten Jahr, als die Feldmäuse so hausten.
Am nächsten Vormittag kam Jörgen Kofod vorüber auf dem Wege zum Konditor. Er hatte den alten Bürgerwehrrock an, am Gürtel hing noch der Lederbeutel, in dem Kieselsteine für das Flintenschloß vor vielen Jahren getragen wurden. Er füllte die Kleider gut aus, kam aber unverrichteter Sache zurück. Der Konditor lobte seinen neuen Gesellen über alle Maßen und wollte kein Wort davon hören, sich von ihm zu trennen. Er war ganz vernarrt. »Aber dann kaufen wir da nich' mehr – daran müssen wir alle festhalten, und keine ordentliche Familie darf in Zukunft mit dem Landesverräter verkehren.«
»Hast du den Gesellen gesehen, Oheim Jörgen?« fragte Meister Andres eifrig.
»Jawohl habe ich ihn gesehen – das heißt von weitem! Er hatte ein paar gräßliche, stechende Augen; aber mich soll er nich' mit seinem Schlangenblick verzaubern!«
Am Abend streiften Pelle und die anderen auf dem Markt umher, um einen Schimmer von dem neuen Gesellen zu erhaschen – da waren viele Leute: sie gingen dort in derselben Absicht auf und nieder. Aber er hielt sich offenbar im Hause.
Und dann eines Tages gegen Abend kam der Meister hereingestürzt. »Sputet euch, zum Teufel auch!« rief er ganz außer Atem – »jetzt kommt er hier vorbei.« Sie warfen alles hin und stürzten durch den Gang in die gute Stube, die sonst nicht betreten werden durfte. Es war ein großer, kräftiger Mann, mit vollen Wangen und großem, schneidigen Schnurrbart, ganz so wie der des Meisters, er hatte aufgeblähte Nasenlöcher und schob die Brust stark vor. Weste und Rock standen offen, als bedürfe er vieler Luft. Hinter ihm drein schlichen ein paar Straßenjungen, in der Hoffnung, irgend etwas zu erleben; sie hatten ihren gewöhnlichen Übermut ganz eingebüßt und bewegten sich lautlos.
»Er geht so, als wenn die ganze Stadt ihm schon gehörte!« sagte Jeppe höhnisch. »Aber hier soll er bald fertig werden!«