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Es kann ja ganz gemütlich sein an diesen Winterabenden, wo man zu Hause in der Werkstatt sitzt und die Zeit mit Nichtstun verbringt weil es draußen dunkel und kalt ist – und man keinen Ort hat, wo man hingehen kann. An den Schlittschuhbahnen zu stehen und verfroren zuzusehen, wie sich die anderen herumschwingen, das hat Pelle satt; in den Straßen auf und nieder zu schlendern nach Norden zu, und wieder umkehren nach Süden zu, und wieder umkehren, auf und nieder dieselbe Strecke, bis die Uhr zehn ist – daran ist doch nichts, wenn man keine guten, warmen Kleider anhat und kein Mädchen um die Taille fassen kann. Morten ist auch kein Freiluftmensch; ihn friert, und er will ins Warme hinein.
So schleichen sie denn in die Werkstatt, sobald es anfängt zu dämmern, den Schlüssel ziehen sie ab und hängen ihn auf der Diele an den Nagel, um Jeppe anzuführen, sie machen heimlich ein Feuer im Ofen an und stellen Schirme davor, damit Jeppe den Schein nicht sehen soll, wenn er seine Runde an den Werkstattfenstern vorbei macht. Sie kriechen zusammen auf den Tritt zum Ofen, die Arme gegenseitig um die Schultern geschlungen, und Morten erzählt aus den Büchern, die er gelesen hat.
»Warum willst du nur die dummen Bücher lesen?« sagt Pelle, wenn er eine Weile gelauscht hat.
»Weil ich etwas von dem Leben und der Welt wissen will«, antwortet Morten ins Dunkle hinein.
»Von der Welt«, sagt Pelle mit einem Ausdruck der Verachtung. »Nein, ich will in die Welt hinaus und was sehen – was in den Büchern steht, is doch weiter nichts als Lügen. – Na, und dann?«
Und dann fährt Morten gutmütig fort. Und mitten in der Erzählung fällt ihm plötzlich etwas ein, und er zieht ein Stück Papier aus der Brusttasche. »Das is Schokolade von Bodil«, sagt er und bricht das Stück mitten durch.
»Wo hat sie das hingelegt?« fragt Pelle.
»Unter das Bettlaken – ich fühlte etwas Hartes unter dem Rücken, als ich mich hinlegte.«
Die beiden Jungen lachen, während sie die Schokolade knabbern. Plötzlich sagt Pelle:
»Bodil, die verführt ja Kinder! Sie hat Hans Peter fortgelockt von Steinhof – und er war erst fünfzehn Jahre, du!«
Morten antwortet nicht. Aber nach einer Weile sinkt sein Kopf auf Pelles Schulter nieder – sein Körper zuckt.
»Du bist ja siebzehn Jahre alt«, sagt Pelle tröstend. »Aber dumm is es trotzdem; sie könnte gut deine Mutter sein – abgesehen von dem Alter.« Und dann lachen sie beide.
Noch gemütlicher kann es an Werktagsabenden sein. Da brennt das Feuer auch noch nach acht offensichtlich im Ofen, die Lampe strahlt – und Morten ist auch da. Dann kommen sie von allen Seiten und sprechen einen Augenblick vor, und die hindernde Kälte weckt alle großen Erinnerungen in ihnen – es ist, als ziehe sich die Welt selbst in der warmen Werkstatt zusammen. Jeppe beschwört seine Lehrjahre in der Hauptstadt herauf und berichtet von dem großen Bankrott; ganz bis in den Anfang des Jahrhunderts führt er sie zurück, in eine alte wunderliche Hauptstadt, wo alte Leute mit Perücken gingen, wo das Tauende immer zur Hand war und die Lehrlinge ihr Leben fristeten, indem sie Sonntags vor den Türen der Bürger bettelten. Ja, das waren Zeiten! Und er kommt in die Heimat zurück und will sich als Meister niederlassen, aber die Zunft will es ihm nicht gestatten, er ist zu jung. Da geht er als Koch auf See und kommt da hinunter, wo die Sonne so heiß brennt, daß das Pech in den Fugen kocht und man sich auf dem Verdeck die Füße verbrennt. Eine lustige Bande sind sie, und Jeppe steht nicht hinter den anderen zurück, so klein er ist. In Malaga stürmen sie eine Wirtschaft, werfen alle Spanier aus den Fenstern und treiben ihre Kurzweil mit den Mädchen – bis die ganze Stadt über sie herfällt und sie in das Boot fliehen müssen. Jeppe kann nicht mitkommen, und das Boot stößt ab; er muß ins Wasser springen und zu ihnen hinausschwimmen. Die Messer fallen klatschend um ihn ins Wasser, und eins setzt sich zitternd in seinem Schulterblatt fest. Wenn Jeppe bis hierher gelangt, fängt er immer an, den Rock abzustreifen und die Narbe zu zeigen, Meister Andres hält ihn zurück. Pelle und Morten haben die Geschichte mehrmals gehört, können sie aber immer wieder hören.
Und Bäcker Jörgen, der die meiste Zeit seines Lebens Bootsmann auf den großen Nord- und Südmeerfahrern gewesen ist, wirft mit Handspille, Eisbären und schwarzen Schönen aus Westindien um sich. Er setzt die Spille in Gang, so daß der mächtige Dreimaster auf der Reede von Havana die Segel lichtet, und einem jeden Zuhörer wird so leicht ums Herz.
»O, hoi, ho, ihr Leute,
Die Spille in Gang!
Laßt weinen das Mädel,
Stimmt an den Gesang!«
So wandern sie rundherum, zwölf Mann, die Brust gegen die schwere Ankerwinde geklemmt; der Anker wird gelichtet, und das Segel füllt sich mit Wind – und hinter seinen Worten schimmern die Züge eines Liebchens in jedem Hafen hervor. Bjerregrav kann nichts anderes tun, als sich bekreuzigen – er, der nie etwas ausgerichtet hat, als für die Armen zu fühlen; aber in den Augen des jungen Meisters reist alles – rund um die Welt herum, rund um die Welt herum. Und Holzfuß-Larsen, der im Winter der wohlhabende Rentenzehrer in blauer Seemannsjacke und Pelzmütze ist, im Frühling aber aus seinem hübschen, massiv gebauten Hause als armer Leierkastenmann in die Welt hinausfliegt – berichtet von dem Tiergartenhügel und der abenteuerlichen Holmstraße und von sonderbaren Wesen, die sich aus den Kehrichtkasten in den Hinterhöfen der Hauptstadt ernähren.
Aber in Pelles Körper knackt es, wenn er sich nur rührt, die Knochen schieben nach und verlangen, sich zu strecken, er hat Wachstum und Unruhe an allen Ecken und Enden. Er ist der erste, zu dem der Frühling kommt, eines Tages meldet er sich in ihm als Verwunderung darüber, wie er wohl aussehen mag. Pelle hat sich nie zuvor diese Frage gestellt, und die Spiegelscherbe, die er sich von dem Glaser erbettelt hat, bei dem er Schabeglas holt, sagt ihm nichts Rechtes. Er hat im Grunde selbst das Gefühl, daß er unmöglich ist.
Er fängt an, auf die Auffassung, die andere von seinem Äußeren haben, zu achten – hin und wieder sieht ihm ja mal ein Mädchen nach, und seine Wangen sind nicht mehr so dick, daß sich Witze darüber machen lassen. Das blonde Haar ist gewellt, die Glückslocke in der Stirn verrät sich noch als kleiner, widerspenstiger Strich; die Ohren sind noch immer schrecklich groß, und es nützt nichts, daß er die Mütze darüber zieht, um sie an den Kopf zu pressen. Aber er ist gut gewachsen und groß für sein Alter, die Werkstattluft hat seine Frische nicht unterkriegen können; und vor nichts in der Welt ist er bange – namentlich wenn er wütend wird. Er ersinnt hunderterlei Arten von Sport, um die Forderungen des Körpers zu befriedigen, aber es verschlägt nicht. Wenn er sich nur nach dem Hammer niederbeugt, so spricht es in allen Gelenken mit.
Aber dann birst eines Tages das Eis und treibt ins Meer. Die Schiffe werden aufgetakelt und proviantiert und gehen denselben Weg, und die Leute in der Stadt erwachen zu Vorstellungen von neuem Leben und beginnen an grünende Wälder und Sommerputz zu denken.
Und eines Tages kommen die Fischerboote! Sie kommen aus Hellavik und Nogesund und aus anderen Orten da drüben an der schwedischen Küste, über das Meer dahingestrichen. Keck durchqueren sie das Wasser mit den wunderlichen lateinischen Segeln in schrägem Flug, gleich hungrigen Seevögeln, die das Meer mit der einen Flügelspitze streifen bei ihrem Spähen nach Beute. Eine Meile seewärts nehmen die Fischer der Stadt sie mit Flintenschüssen in Empfang, sie erhalten keine Erlaubnis, im Bootshafen vor Anker zu gehen, sondern müssen sich einen Platz in dem alten Schiffshafen mieten und ihre Fanggerätschaften zum Trocknen nach Norden zu ausbreiten! Die Handwerker strömen herbei und reden über diese fremden Räuber, die aus einem ärmeren Lande kommen und den Kindern der Stadt das Brot vor dem Munde wegnehmen – abgehärtet, wie sie sind, voll Mut, bei jeglichem Wetter und mit Erfolg auszufahren. Das tun sie in jedem Frühling, und wenn sie sich mit Heringen versorgen wollen, so handeln sie mit den Schweden, die verkaufen billiger als die Einheimischen. »Vertragen unsere Fischer vielleicht ledernes Schuhzeug?« fragt Jeppe – »die gehen an Sonn- und Wochentag in Holzschuhstiefeln, das tun sie. Mögen die Holzschuhmacher mit ihnen handeln – ich kaufe, wo es am billigsten is.«
Es ist, als komme der Frühling in eigener Person angestiegen in diesen mageren, sehnigen Gestalten, die singend durch die Straßen gehen, um den kleinlichen Neid der Stadt herauszufordern. Jedes Boot hat Frauen mit, um die Gerätschaften zu reinigen und auszubessern, und sie ziehen in Scharen an der Werkstatt vorüber, um die alten Logis draußen im Armenviertel bei »Krafts« aufzusuchen. In Pelles Herzen kommt und geht es beim Anblick dieser jungen Weiber, mit hübschen Pantoffeln an den Füßen, mit schwarzen Tüchern um die ovalen Gesichter und vielen schönen Farben in der Kleidertracht. Es taucht so vieles in seinem Innern auf, dunkle Erinnerungen aus seiner Kindheit, wo alles dagelegen hat wie ausgelöschte, hingehauchte Sagen von etwas, das er erlebt hat und dessen er sich nicht mehr entsinnen kann – es ist wie ein warmer Atemhauch aus einem anderen, unbekannten Dasein.
Geschieht es dann, daß die eine oder andere ein kleines Kind auf dem Arm hat, so hat die Stadt was zum Reden. Ist es wieder Kaufmann Lund, so wie im vergangenen Jahre, er, der seitdem nicht anders als der Heringshändler heißt? Oder ist es ein sechzehnjähriger Lehrling, eine Schande für Pastor und Lehrer, die ihn eben erst entlassen haben?
Dann zieht Jens von dannen mit seiner Handharmonika, Pelle beeilt sich mit dem Aufräumen, er und Morten eilen hinaus nach dem Galgenhügel, Hand in Hand – denn Morten wird es schwer, so schnell zu laufen. Alles, was die Stadt an anspruchsloser Jugend besitzt, ist da; aber die schwedischen Mädchen gehen allen voran. Sie können sich schwingen, daß die Pantoffel fliegen, kleine Kämpfe werden um sie ausgefochten. Aber des Sonnabends gehen die Fischerboote nicht in See, dann kommen die Männer mit funkensprühenden Brauen und fordern ihre Weiber, und dann werden große Schlachten geschlagen.
Pelle geht mit Haut und Haar hierin auf – hier findet er die Bewegung, die sein Körper bei seinem Handwerke so hart entbehrt hat. Er hat einen wahren Heißhunger auf Heldentaten und rückt den Kämpfenden so nahe auf den Leib, daß hin und wieder eine Ohrfeige auch für ihn abfällt. Er tanzt mit Morten und faßt Mut, auch ein Mädchen aufzufordern, er ist geniert und macht die köstlichsten Bocksprünge beim Tanz, um drüber hinwegzukommen, mitten im Tanz nimmt er Reißaus und läßt das Mädchen stehen. »Verteufelter Affe«, sagen die Erwachsenen und lachen hinter ihm drein. Er hat eine eigene Manier, auf all diese Sorglosigkeit einzugehen, die das Leben sein Recht nehmen läßt, ohne Gedanken an morgen und an das nächste Jahr. Will einmal eine mannsfrohe Frauensperson seine Jugend einfangen, so schlägt er hinten aus und ist mit ein paar übermütigen Sprüngen auf und davon. Aber er kann so von Herzen mitsingen, wenn sie in Gruppen heimziehen, Männer und Frauen, eng umschlungen, und er und Morten hinterdreinkommen, auch sie die Arme umeinandergeschlungen. Dann spannt der Mond seine Lichtbrücke über die See, und im Nadelwalde, wo weißer Nebel über den Wipfeln liegt, wogt der Gesang von allen Steigen und gelangt zu wiegendem Ausdruck in der verschiedenen Gangart der wandernden Paare; aufdringlich schwer in seinem Inhalt, aber getragen von den leichtesten Herzen – so recht ein Gesang, um darin sein Glück auszusingen:
»Steck' auf, steck' auf dein goldblondes Haar,
Einen Sohn sollst du haben, eh' um das Jahr –
Da hilft dir kein Jammern und Klagen!
In vierzig Wochen da komm' ich nach Haus,
Und seh', wie es dann mit dir sieht aus.
Die vierzig Wochen, die gingen dahin,
Da ward der Jungfrau gar traurig zu Sinn,
Da begann sie zu jammern und klagen – – –«
Und weiter geht es durch die Stadt dahin, Paar um Paar, wie ihnen der Sinn steht. Die krummen stillen Gassen hallen wider von Sterbe- und Liebesliedern, so daß die alten Bürgerleute den Kopf vom Kissen erheben, die Nachtmütze zur Seite schieben und sich bedenklich schütteln müssen über all diesen Leichtsinn. Aber die Jugend fühlt nichts dabei – sie saust und schwärmt nur weiter mit ihrem siedenden Blut. Und eines Tages bekommen die Alten recht; das Blut ist aus dem Sieden gekommen, und da stehen sie und die Folgen, und fordern Vaterschaft und Unterhalt. »Haben wir's nicht gesagt?« sagen die Alten; aber die Jungen senken den Kopf und sehen einem langen, verkrüppelten Dasein entgegen, mit übereilter Heirat oder ständigen Zahlungen an eine fremde Frauensperson, während ihnen ihr ganzes Leben lang ein Schimmer von Herabsetzung und Lächerlichkeit anhaftet, mit Ehe und Verkehr unter ihrem Stande. Sie reden nicht mehr davon, in die Welt hinauszuziehen und sich eigene Wege zu bahnen; haben sie sich den Alten gegenüber auf die Hinterbeine gesetzt und Platz für ihre Jugend gefordert, so gehen sie jetzt wieder demütig im Gespann mit gesenktem Kopf, beschämt mit den Augen zwinkernd über ihre einzige Heldentat. Und die, die dies nicht zu tragen vermögen, müssen zu nächtlicher Zeit das Land verlassen oder sich frei schwören.
Der junge Meister hat so seine eigene Art und Weise. Er nimmt nicht teil an dem Mädchenhallo, aber wenn die Sonne so recht warm scheint, setzt er sich vor die Werkstattfenster und läßt sich den Rücken durchwärmen. »Ach, das is herrlich«, sagt er und schüttelt sich, Pelle muß an seiner Pelzjacke fühlen, welche Macht schon die Sonne hat. – »Weiß Gott, jetzt haben wir Frühling!«
Drinnen in der Werkstatt pfeifen und singen sie zu den Hammerschlägen; da gibt es Augenblicke, in denen der dunkle Raum dem Laden eines Vogelhändlers gleicht. »Weiß Gott, jetzt haben wir Frühling,« sagt Meister Andres einmal über das andere, »aber der Frühlingsbote scheint dies Jahr ja gar nich' zu kommen.«
»Am Ende is er tot«, sagt der kleine Nikas.
»Garibaldi tot? Der stirbt, zum Kuckuck, noch lange nich'! Alle die Jahre, deren ich mich entsinnen kann, hat er so ausgesehen wie jetzt und hat ebenso stark getrunken. Wie der Kerl seinerzeit gesoffen hat, Herr du meines Lebens! Aber als Schuhmacher findet er seinesgleichen nich' in der ganzen Welt.«
Eines Morgens, bald nach der Ankunft des Dampfers, duckt sich ein hoher spitzschultriger Mann durch die Werkstattür herein. Er ist blaugrau an den Händen und im Gesicht von der Morgenkälte, die Wangen hängen ihm ein wenig beutelig herab, aber im Auge brennt eine unsterbliche Glut. »Morgen, Kameraden«, sagt er und macht eine flotte Bewegung mit der Hand. – »Na, wie leben wir denn? – Der Meister wohl?« Er tanzt in die Werkstatt hinein, den Hut flach unter den linken Arm geklemmt. Jacke und Hose klatschen ihm um den Leib und erzählen, daß nichts darunter ist; er hat bloße Füße in den Schuhen und ein dickes Tuch um den Hals. Aber etwas Ähnliches an Anstand und Haltung hat Pelle nie im Leben bei einem Handwerker gesehen – Garibaldis Stimme allein ist wie ein Anschlag.
»Nun, mein Sohn,« sagt er und schlägt Pelle leicht auf die Schulter – »kannst du mir wohl den Trunk holen? Aber ein wenig plötzlich, sag' ich dir, denn ich bin mörderlich durstig. Der Meister hat ja Kredit! Pst! Wir nehmen lieber gleich 'nen halben Pott, denn brauchst du nicht zweimal zu gehen.«
Pelle rannte. In einer halben Minute ist er wieder da, Garibaldi versteht es, einem Beine zu machen, er hat schon die Schürze vorgebunden und ist im Begriff, sich ein Urteil über die Arbeit in der Werkstatt zu bilden. Er nimmt Pelle die Flasche weg, schleudert sie über die Schulter und fängt sie mit der anderen Hand wieder auf, setzt den Nagel an die Mitte der Flasche und trinkt. Dann zeigt er den anderen die Flasche, genau bis an den Nagel, wie?
»Das nenn' ich flott getrunken!« sagt der kleine Nikas.
»Läßt sich in stockrabenschwarzer Nacht ausführen«; Garibaldi macht eine überlegene Bewegung mit der Hand. – »Und der alte Jeppe lebt? – Schneidiger Kerl!«
Meister Andres klopft an die Wand. »Er is ja gekommen – er is ja da draußen«, sagt er mit weitaufgerissenen Augen. Nach einer Weile ist er in die Kleider geschlüpft und ist draußen in der Werkstatt, er plaudert aufgeräumt drauflos; aber Garibaldi bewahrt seine Würde, er ist noch eingerostet von der Nacht her.
Eine gewisse Fieberhaftigkeit hat sich ihrer aller bemächtigt, eine Angst, daß ihnen etwas entgehen könnte. Das tägliche Grau ist von der Arbeit abgeglitten, ein jeder spannt seine Fähigkeiten an. Garibaldi kommt aus der großen Welt, und die ganze Abenteuerlichkeit des Wanderlebens haftet an seinen dünnen Kleidern. »Wenn er doch bald anfangen wollte zu erzählen«, flüstert Pelle Jens zu, er kann gar nicht ruhig sitzen. Sie hängen spähend an seinen Lippen, schweigt er, so geschieht es infolge eines höheren Willens. Selbst der Meister setzt ihm nicht zu, sondern beugt sich seiner Wortkargheit – und der kleine Nikas findet sich darein, wie ein Lehrling behandelt zu werden.
Garibaldi erhebt den Kopf. »Na, man ist doch hier nicht hergekommen, um zu sitzen und zu faulenzen!« ruft er munter aus. »Tüchtig zu tun? Meister?«
»Viel is hier nich', aber für dich haben wir immer Arbeit«, antwortet Meister Andres. »Wir haben übrigens eine Bestellung auf ein Paar Brautschuhe – weißer Atlas mit gelber Steppung; aber wir haben uns nich' recht herangewagt.« Er schielt zu dem kleinen Nikas hinüber.
»Keine gelbe Steppung zu weißem Atlas, Meister – weiße Seide natürlich, und weißer Schnitt.«
»Is das jetzt in Paris Mode?« fragte Meister Andres lebhaft.
Garibaldi zuckt die Achseln. »Kehren wir uns nicht an Paris, Meister Andres, wir haben weder das Leder hier noch das Werkzeug, um Pariser Schuhe zu machen – und auch kein Beinwerk, das wir da hineinstecken könnten.«
»Zum Teufel auch – sind die so flott?«
»Flott, das wollt' ich meinen! Ich kann den Fuß einer gut gewachsenen Pariserin in meiner hohlen Hand halten. Und wenn sie gehen, sie berühren, weiß Gott, das Straßenpflaster nicht! Einem Pariser Mädchen kann man Schuhe aus Schlagsahne machen, und sie halten doch! Wollt man ihr aber ein Paar gewöhnliche Fräuleinpampuschen anziehen, sie würde augenblicklich in den Kanal springen!«
»Verdammt und verflucht!« Der Meister beeilte sich, Leder abzuschneiden. »Das is doch des Teufels!«
So leicht hat sich noch nie ein Mensch in irgend etwas hineingefunden; Garibaldi zieht einen Hocker an den Tisch heran – und ist in vollem Gange. Kein Herumsuchen nach Werkzeug, die Hand findet ihren Weg gerade dorthin, wo die Dinge liegen, als gingen unsichtbare Wege zwischen ihnen. Diese Hände besorgen das Ganze selbst, ruhig, mit weichen Schwingungen, während die Augen überall sonst sind: draußen im Garten, bei der Arbeit der Lehrlinge, bei dem jungen Meister. Pelle und den anderen, die ein Ding immer von verschiedenen Seiten ansehen müssen, ist dies geradezu wunderbar. – Und ehe sie sich umgesehen haben, hat Garibaldi alles in Ordnung gebracht und sitzt nun da und sieht nach dem Meister hinüber, der heute selbst nadelt.
Und dann kommt Jeppe hereingestürzt, wütend, daß ihm niemand Garibaldis Ankunft gemeldet hat. »Tag, Meister – Tag, Zunftmeister!« sagt Garibaldi und steht auf und verneigt sich.
»Ja,« sagt Jeppe selbstbewußt, »wenn es noch einen Zunftmeister gäbe, so würde ich es sein. Aber es is ein Jammer mit dem Handwerk heutzutage; Respekt gibt's nich', und wo sollt' der wohl auch herkommen – wenn man nich' versteht, sich selbst zu respektieren.«
»Das geht wohl auf den jungen Meister, wie?« sagt Garibaldi und lacht. »Aber die Zeiten haben sich geändert, Meister Jeppe, Spannriemen und Respekt haben ausgebuttert, ja, das war dazumal. Um sieben anfangen, Feierabend um sechs – fertig! So steht's in den Großstädten.«
»Das is wohl dieser Sozerlismus?« sagt Jeppe höhnisch.
»Ja, ist mir ganz schnuppe, was es ist – denn Garibaldi fängt an und hört auf, wann er will! Und will er mehr für seine Arbeit haben – bitte schön! Und wenn ihnen das nicht paßt – denn adieu, Meister! Es gibt Dirns genug, sagte der Junge, als er kein Essen kriegte.«
Die anderen schaffen nicht viel, sie haben genug damit zu tun, seiner Art und Weise zu arbeiten zuzusehen. Er hat die Flasche geleert, und nun ist ihm die Zunge geschmiert, der junge Meister versteht es, ihn auszufragen, und Garibaldi erzählt, erzählt großartig mit zahlreichen Gesten. Nicht einmal die Hände sind beharrlich bei der Arbeit, und doch schreitet sie schnell vorwärts, schön wie eine Offenbarung – es ist, als gebäre sich das Werk selbst. Er hat seine Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit gerichtet, greift immer zur rechten Zeit ein, tadelt ihren Griff und führt den entscheidenden Schnitt aus, der dem Absatz und der Biegung der Sohle Schönheit verleiht. Es ist, als fühle er es, wenn sie etwas Verkehrtes machen, sein Geist ist überall. »Seht, so macht man es in Paris,« sagt er – »dies hier ist Nürnberger Fasson.« Er spricht von Wien und von Griechenland so selbstverständlich, als lägen sie dort unter Schiffer Ellebyes Bäumen. In Athen ist er auf dem Schloß und schüttelt dem Griechenkönig die Hand, denn im Ausland müssen Landsleute immer zusammenhalten. – »Na, er war übrigens sehr nett, aber er hatte schon Frühstück gegessen. Im übrigen ein verdammt schlechtes Land zur Wanderschaft, denn da gibt es keine Schuster. Nein, da lob' ich mir Italien, da sind Schuster, aber keine Arbeit – da kann man es ruhig darauf ankommen lassen und sich von Ort zu Ort durchfechten. Sie kommen nicht so wie diese emsigen Deutschen jedesmal, wenn man um ein Geschenk bittet – und sagen: Bitt' schön, Sie können Arbeit bekommen. Und es ist da so warm, daß man auf dem bloßen Erdboden schlafen kann. Wein fließt da in allen Rinnsteinen, aber das ist übrigens man Jux.« – Garibaldi hebt die leere Flasche hoch in die Höhe und guckt verwundert unter den Boden; der junge Meister blinzelt Pelle zu, und der saust im Galopp und holt einen halben Pott.
In Pelles Ohren siedet das heiße Blut. Hinaus, hinaus, er muß hinaus und wandern, so wie Garibaldi, sich in den Weingärten vor den Gendarmen verstecken und den Schinken aus dem Schornstein stehlen, während die Leute auf dem Felde sind. Es ist ein Geist in ihn und die anderen gefahren, Fachgeist; Werkzeug und Leder begegnen sich liebkosend mit den Fingern, wenn man danach greift, jedes Ding hat seine innerliche Farbe, die etwas erzählt. All das Staubige und Altbekannte ist wie weggestrichen von der Werkstatt, auf den Borden stehen die Gegenstände und strahlen Interesse aus, die langweiligsten Dinge haben glitzerndes Leben erhalten.
Die Welt steigt auf wie ein lichtgraues Wunder, durchzogen von endlosen Landstraßen mit tief weißem Staub, und Garibaldi durchwandert sie alle. Sein Wanderbuch hat er an einen Kameraden für ein Stück Butterbrot verkauft und ist ohne Papiere, deutsche Gendarmen veranstalten eine Treibjagd auf ihn, Garibaldi kriecht vierzehn Tage auf Händen und Knien in Weingärten herum und bekommt nichts weiter als Trauben und eine fürchterliche Cholerine. Schließlich sind seine Kleider so lebendig, daß er sich selbst nicht mehr zu rühren braucht. Er liegt ganz ruhig, und läßt sich von dannen befördern und gelangt an eine kleine Stadt. »Herberge?« fragt Garibaldi. Ja, da ist eine Herberge. Dann verfaßt er eine Geschichte von einer Plünderung, die guten Leute stecken ihn ins Bett und heizen ein und trocknen seine Kleider. Garibaldi schnarcht und schiebt den Stuhl näher an den Ofen heran, schnarcht und schiebt ihn noch ein wenig weiter, und als die Kleider in hellen Flammen stehen, brüllt er auf, schimpft und weint und ist untröstlich. Und dann bekommt Garibaldi neue, reine Kleider und neue Papiere und ist wieder auf der Landstraße, das Fechten beginnt von neuem, Berge tauchen auf und gleiten vorüber, große Städte tauchen auf, Städte an breiten Flüssen. Da sind Städte, in denen der wandernde Handwerksbursche kein Geld bekommen darf, sondern arbeiten muß – verdammte Städte, und deutsche Herbergen, wo man wie ein Zuchthausgefangener behandelt wird, sich in einem langen Gang aller Kleider entledigen muß, sogar des Hemdes; es wird von ein paar Mann untersucht, und das Ganze wird in Verwahrung genommen. Dreißig bis vierzig nackte Männer werden, einer nach dem anderen, in den großen Schlafsaal hineingelassen.
Paris – das ist, als sprängen einem Blasen im Ohr! Garibaldi hat dort zwei Jahre gearbeitet, zwanzigmal ist er auf der Durchreise dort gewesen. Paris, das ist die Pracht der ganzen Welt, aufeinandergehäuft, und die vernünftigen Einrichtungen der ganzen Welt auf den Kopf gestellt. Hier in der Stadt will kein ehrlicher Meister die schlampenden Zugstiefel der »Toppgaleasse« herrichten, sie geht mit niedergetretenen Kappen, und wenn die Seefahrt so ganz darniederliegt, geht sie mit Holzschuhen. In Paris gibt es Frauenzimmer, die mit Schuhen zu fünfhundert Franks das Paar gehen, sie benehmen sich wie Königinnen, verdienen eine Million im Jahr und sind doch nichts weiter als Dirnen! Eine Million! – Wenn ein anderer als Garibaldi das erzählte, bekäme er alle Leisten an den Kopf.
Pelle hört nicht, was der Meister zu ihm sagt, Jens hat es auf einmal so eilig mit dem Pech, er hat bei seiner Versohlung in das Oberleder geschnitten. Sie sind unzurechnungsfähig, wie besessen von diesem wunderbaren Wesen, das fortfährt, Branntwein in sich hineinzuspülen und das verdammte Getränk dann umsetzt in den bunten Kreis der ganzen Welt und in eine Arbeit, die wie das Wunder selbst ist.
Das Gerücht hat sich schon verbreitet, und sie kommen herbeigerannt, um Garibaldi zu sehen und sich vielleicht zu erkühnen, ihm die Hand zu schütteln. Klausen will Pflöcke leihen; und Marker läßt alle Scham beiseite und kommt selbst, um die größten Mannesleisten zu borgen. Der alte Flickschuster Drejer steht bescheiden in einer Ecke und sagt »ja, ja« zu der Rede der andern. Garibaldi hat ihm die Hand gereicht, und nun kann er heimgehen zu seinem düstern Kram und dem schmutzigen Schuhzeug und seiner Altenmänner-Einsamkeit. Der Genius des Faches hat ihn angerührt und für den Rest seiner Tage Licht auf seine armselige Flickarbeit geworfen – er hat einen Händedruck mit dem Mann gewechselt, der die Korkstiefel für den Kaiser von Deutschland selber gemacht hat, als er auszog, um die Franzosen zu schlagen. Der verrückte Anker ist auch da, kommt aber nicht herein, er ist scheu vor Fremden. Er geht draußen auf dem Hof auf und nieder vor den Werkstattfenstern und schielt hinein. Garibaldi zeigt mit dem Finger auf die Stirn und nickt, Anker zeigt ebenfalls mit dem Finger auf die Stirn und nickt wieder; er schüttelt sich vor innerlichem Lachen über einen guten Witz und rennt dann wie ein Kind, das fort muß, in eine Ecke, um seine Freude zu genießen. Bäcker Jörgen steht gebeugt da, die Hände auf den Schenkeln und mit offenem Mund. »Herr Jemine!« ruft er von Zeit zu Zeit – »hat man je so was gehört!« Er sieht die weiße Seide durch die Sohle laufen und sich als silberschimmernde Perlen an den Rand legen, Perle an Perle. Garibaldis Arme fliegen um ihn, er trifft den Bäcker an der Hüfte. »Stehe ich im Wege?« fragt der alte Jörgen. – »Nein, Gott bewahre, bleiben Sie nur stehen!« Und dann fliegen die Arme wieder hinaus, der Knopf des Pfriems trifft den Bäcker, daß es nur so klatscht. »Ich stehe wohl im Wege!« sagt Jörgen und bewegt sich ein klein wenig. – »Keineswegs«, antwortet Garibaldi und zieht den Stich an. Dann holt er wieder aus, diesmal wendet er die Pfriemspitze dem Bäcker zu. »Nu kann ich, weiß Gott, merken, daß ich im Wege stehe«, sagt Jörgen und scheuert sich auf dem Hintern. »Durchaus nicht!« antwortet Garibaldi höflich und macht eine einladende Handbewegung, »will Jörgen Kofod nicht?« »Nein, ich danke, nein, ich danke!« Der alte Jörgen stöhnt mit einem gezwungenen Lächeln und humpelt von der Erhöhung herunter.
Sonst läßt Garibaldi sie kommen und glotzen und gehen, wie sie wollen. Was kümmert es ihn, daß er ein großes und merkwürdiges Wesen ist; ungeniert setzt er die Branntweinflasche an den Mund und trinkt, solange er Durst hat. Er sitzt da und spielt gedankenlos mit Leder und Messer und Seide, als habe er sein ganzes Lebenlang hier auf dem Hocker gesessen und sei nicht erst vor wenigen Stunden vom Mond heruntergefallen. Und um die Mitte des Nachmittags steht das unvergleichliche Ergebnis da: ein Paar wunderschöne Atlasschuhe, schlank wie Ochsenzungen, blendend in ihrem weißen Glanz, als seien sie eben aus dem Märchen herausgetreten und warteten auf den Fuß der Prinzessin.
»Seht euch die an, zum Teufel auch,« sagt der Meister und reicht die Arbeit dem kleinen Nikas, der sie weiter gehen läßt, der Reihe nach. Garibaldi wirft den kurzgeschorenen grauen Kopf in den Nacken:
»Ihr braucht nicht zu erzählen, wer die gemacht hat – denn das kann jeder sehen. Sagen wir nun mal, die Schuhe gehen nach Jütland und werden dort vertragen und wandern auf den Misthaufen. Eines Tages, nach ein paar Jahren, geht da ein Grützfresser und pflügt: da kommt ein Stück Spann zum Vorschein, und ein wandernder Gesell, der am Grabenrand sitzt und an seinem Vesperbrot nagt, rakt es mit seinem Stock zu sich heran. Das Stück Spann – sagt er – das hat, der Teufel frikassier' mich, an einem Schuh gesessen, den Garibaldi gemacht hat, sagt er, hol' mich der Deubel, da hat es gesessen. Dann muß der Gesell aus Nürnberg sein, oder aus Paris, oder aus Hamburg – einerlei, versteht ihr. Oder sind das Lügen, Meister?«
Nein, Meister Andres kann beteuern, daß es keine Lügen sind, er, der von Kindheit an mit Garibaldi auf Landstraßen und in großen Städten gelebt hat, er, der ihm mit seinem lahmen Bein so heftig gefolgt ist, daß er sich Garibaldis Heldentaten besser erinnert als dieser selbst. »Aber nun solltest du hierbleiben«, sagt er überredend. »Dann treiben wir das Geschäft in die Höhe – wir kriegen all die feine Arbeit auf der ganzen Insel.« Garibaldi hat nichts dagegen, er hat es satt, sich so herumzuschinden.
Klausen will gern von der Kompagnie sein, es arbeitet etwas in aller Augen, ein Traum, das Fach noch einmal wieder in die Höhe zu bringen, es einmal derartig weit zu treiben, daß es vielleicht mit der Hauptstadt konkurrieren kann. »Wieviel Medaillen hast du denn eigentlich bekommen?« sagt Jeppe, während er dasteht und ein großes, eingerahmtes Diplom in der Hand hält. Garibaldi zuckt die Achseln. »Weiß nicht, Altmeister – man wird alt und die Hand unsicher. Aber was ist denn das? Hat Meister Jeppe die silberne Medaille bekommen?«
Jeppe lacht: »Ja, dies hab' ich einem Landstreicher zu verdanken, der Garibaldi heißt. Er war vor vier Jahren hier und verschaffte mir die silberne Medaille.« – Na – das hat Garibaldi längst vergessen! überall, wo er sich bewegt, liegen Medaillen ausgestreut. »Ja, da sitzen ringsumher an die hundert Meister und prahlen jeder mit seiner Auszeichnung: Erstklassige Werkstatt, hier können Sie selbst sehen – silberne Medaille. Aber der, der die Arbeit gemacht hat, der bekam seinen Tagelohn und einen Extraschnaps und dann – fertig, Garibaldi! Was hat man dafür, Meister Jeppe? Da sind Bäume genug, hinter denen man die Wäsche wechseln kann – aber das Hemd, Meister?« Einen Augenblick befiel ihn Mißmut. »Lorrain in Paris gab mir zweihundert Frank für die goldene Medaille, die ich ihm verschafft habe; aber sonst hieß es immer: Guck mal in meine Westentasche! – oder: Ich hab' 'ne alte Hose für dich, Garibaldi! Aber das hat nun ein Ende, will ich euch sagen, Garibaldi trägt nicht mehr Wasser auf die Mühle der Großbürger, denn jetzt ist er Soscherlist!« Er schlug auf den Tisch, so daß die Glasscherben hüpften. »Das letzte war Franz in Köln – Herrenstiefel mit Korkeinlagen. Er war geizig, ja, das war er, und da wurde Garibaldi ärgerlich. Ich fürchte, dies hier langt nicht zur Medaille, Meister, sage ich – da ist zu viel Unruhe in der Luft. Da bot er mir mehr und noch mehr – es langt, weiß Gott, nicht zur Medaille, sage ich nur. Schließlich schickt er die Madame mit Kaffee und Wienerbrot zu mir heraus – und sie war sonst eine Dame, die mit 'm Lakai auf dem Bock fuhr. Aber man war ja nu mal wütend! Na, 'ne rühmliche Auszeichnung würd' es denn ja – der Madame zuliebe.«
»Hat er viele Gesellen?« fragte Jeppe.
»Ach, woll so 'n dreißig, vierzig Stück.«
»Aber denn muß da doch was an ihm gewesen sein.« Jeppe spricht in tadelndem Ton.
»Was an ihm, ja, 'n Schuft war er also! Was schert das mich, daß er viele Gesellen hat – ich will sie doch nicht um ihren Arbeitslohn betrügen.«
Nun ist Garibaldi verstimmt, er streift die Schürze ab, setzt den Hut schief auf den Kopf und geht in die Stadt.
»Jetzt geht er hin und sucht sich 'ne Braut,« sagt der junge Meister – »er hat 'ne Braut in jeder Stadt!«
Um acht Uhr kommt er in die Werkstatt hineingesegelt. »Was, sitzt ihr da noch?« sagt er zu den Lehrlingen. »Anderswo in der Welt haben sie schon vor zwei Stunden Feierabend gemacht. Was für Sklaven seid ihr doch, sitzt hier und käut vierzehn Stunden wieder. So streikt doch, zum Kuckuck auch!«
Sie sahen einander dumm an. Streiken – was ist das?
Dann kommt der junge Meister. »Nun könnt' es gut tun, sich die Augen ein bißchen zu wärmen«, sagt Garibaldi.
»Ein Bett für dich ist in der Zuschneidekammer aufgemacht«, sagt der Meister. Aber Garibaldi rollt seine Jacke unter dem Kopf zusammen und legt sich auf den Fenstertritt. »Wenn ich schnarche, dann zieh mich nur an der Nase«, sagt er zu Pelle und schläft ein. Am nächsten Tage macht er zwei Paar Ziegenlederstiefel mit gelber Steppung – für den kleinen Nikas ist das eine Arbeit für drei Tage. Meister Andres hat alle Pläne fertig – Garibaldi soll Teilhaber werden. »Wir schlagen ein Stück Fachwerk heraus und setzen ein großes Ladenfenster ein!« Garibaldi ist einverstanden – man hat wirklich das Bedürfnis, einmal zur Ruhe zu kommen. »Aber wir müssen nicht zu groß anfangen,« sagt er, »dies hier ist doch nicht Paris.« Er trinkt ein wenig mehr und redet nicht viel; die Augen schweifen zu den wandernden Wolken hinauf.
Am dritten Tage fängt Garibaldi an, seine Fertigkeiten vorzuführen. Er tut nicht viel mehr bei der Arbeit, sondern bricht einen schweren Stock mit einem Schwupp in der Luft mitten durch, und springt durch einen Stock, den er in beiden Händen hält. »Man bedarf der Bewegung«, sagt er unruhig. Er läßt einen Pflock auf der Hammerfläche balancieren und schlägt ihn in ein Loch in der Sohle.
Und plötzlich wirft er die Arbeit hin. »Leihen Sie mir zehn Kronen, Meister,« sagt er, »ich muß hin und mir einen anständigen Anzug kaufen. Nun ist man ein seßhafter Mann und Teilhaber im Geschäft, da kann man nicht herumgehen und aussehen wie ein Schwein.«
»Es wird wohl am besten sein, wenn Sie das fertig machen«, sagt der Meister ruhig und schiebt Garibaldis Arbeit dem kleinen Nikas hin. »Den sehen wir nicht wieder!«
Pelle lauscht – das letzte ist fast das Merkwürdigste von allem.
Das war wirklich das Märchen: in der redlichsten Absicht, etwas zu kaufen und in die kleine Stadt zu gehen und dann erfaßt und in die große Welt hinausgewirbelt zu werden, aufs Geratewohl, weit hinaus. »Jetzt ist er am Ende schon unterwegs nach Deutschland mit einem Schiffer«, sagt der Meister.
»Aber er hat ja nicht einmal adieu gesagt!« – Der Meister zuckt die Achseln.
Es war wie eine Sternschnuppe! Aber für Pelle und die anderen bedeutete es viel Neues, sie lernten mehr in drei Tagen wie in der ganzen Lehrzeit. Und sie hatten einen hellen Eindruck von dem Fach erhalten; es war doch keine Krähwinkelbeschäftigung, mit Garibaldi schwang es sich für sie um die ganze wunderbare Welt herum. In Pelle brannte das Blut vor Wanderlust; er wußte jetzt, was er wollte. Tüchtig werden wie Garibaldi – das personifizierte Genie, und in die großen Städte hineintraben mit Stock und Ranzen wie eine Fanfare.
In ihnen allen blieben Spuren von seinem flüchtigen Besuch zurück. Sie hatten etwas in sich mit einem Ruck zersprengt – hatten einen freieren, kühneren Griff bekommen; und sie hatten das Fach groß, wie eine Art künstlerischen Kultus, an sich vorüberziehen sehen. Das Brausen von dem Flug großer Vögel hing lange über der kleinen Werkstatt mit ihrer rechtschaffenen Bürgerlichkeit.
Dieser frische Luftzug um die Ohren, das war der Geist des Faches selber, der über ihren Köpfen dahinzog – getragen von seinen beiden mächtigen Schwingen: Genie und Liederlichkeit.
Eines aber blieb in Pelle als sinnloser Brocken zurück – das Wort Streik. Was bedeutete das?