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XVII

Es war Feierabend, als Pelle nach Hause kam; aber er hatte keine Lust, an den Strand hinabzulaufen und zu baden. Das Bild der ertrunkenen Kleinen fuhr fort ihn zu verfolgen, und zum erstenmal trat ihm der Tod mit seinem unheimlichen Warum entgegen. Er fand keine Antwort, und allmählich vergaß er es über andere Dinge. Aber die Unheimlichkeit selbst fuhr fort in ihm zu brüten und machte ihn bange ohne irgendwelchen Grund, so daß er sich ahnend der Dämmerung selbst erschließen mußte. Die geheimen Kräfte, die von Himmel und Erde aufsteigen, wenn Licht und Finsternis sich begegnen, griffen auch nach ihm mit ihrer rätselhaften Unruhe, rastlos suchte er von dem einen zum andern, als müsse er überall sein, um sich mit diesem Unfaßbaren begegnen zu können, das drohend hinter allem stand. Zum erstenmal empfand er die Unerbittlichkeit ohne Verkleidung in dies oder jenes, das er selbst verbrochen hatte, nie zuvor hatte das Leben selbst sich mit seiner schweren Last auf ihn gelegt.

Es war Pelle, als rufe ihn etwas, er konnte sich aber nur nicht klarmachen, woher es kam. Er kroch von dem Fenster auf das Dach hinaus und von da auf den Dachfirst; vielleicht war es die Welt. Die Hunderte von Ziegeldächern der Stadt lagen da und sogen Purpur von dem Abendhimmel ein, es stieg ein blauer Rauch auf. Und Stimmen erhoben sich aus der heißen Dunkelheit unter den Häusern. Er hörte auch des verruchten Ankers Rufe; wie die Klage eines wilden Tieres war dies ewige Prophezeien von etwas Sinnlosem! Das Meer dort unten und die schweren Tannenwälder im Norden und Süden, er hatte das Ganze lange gekannt.

Dann sang es ihm in den Ohren, und draußen in der Ferne, und hinter ihm stand jemand und blies heiß den Atem in seinen Nacken. Er wandte sich langsam um. Bange im Dunkeln war er nicht mehr, und er wußte im voraus, daß da nichts war. In seinen tagklaren Sinn war die Dämmerung hineingeschlüpft mit ihrem geheimnisvollen Pusseln von Wesen, die sich mit keinem Sinn feststellen ließen.

Er ging unten auf dem Hof und schlenderte dort umher, überall herrscht tiefe Ruhe. Der Kater Peers saß auf der Regenwassertonne und miaute krankhaft nach einem Spatzen, der auf der Trockenleine saß. Der junge Meister hustete drinnen in seiner Stube, er war schon zu Bett. Pelle beugte sich über den Brunnenrand und guckte leeren Blickes über die Gärten hinweg; ihm war heiß und wirr, aber von dem Brunnen stieg Kälte auf und legte sich lindernd um seinen Kopf. Die Fledermäuse glitten wie Geister durch die Luft, kamen seinem Gesicht so nahe, daß er den Luftzug spürte, und wandten dann mit einem kleinen Klatschen um. Er hatte das schmerzhafteste Bedürfnis zu weinen.

Oben zwischen den hohen Johannisbeersträuchern bewegte sich etwas, und Fräulein Sjermannas Kopf kam zum Vorschein. Sie ging vorsichtig und guckte. Als sie Pelle erblickte, kam sie schnell heran.

»Guten Abend!« flüsterte sie.

»Guten Abend!« antwortete er laut, entzückt einen Menschen wiederzugewinnen.

»St! Du mußt nicht schreien!« sagte sie gebieterisch.

»Aber warum denn?« Pelle flüsterte jetzt auch. Er war ganz ängstlich geworden. – »Weil du es nicht sollst! Schaf! Komm, ich will dir etwas zeigen. Nein, noch näher heran!«

Pelle steckte den Kopf in den hohen Holunderbusch, und plötzlich hatte sie beide Hände um seinen Kopf gelegt, sie küßte ihn heftig und stieß ihn dann zurück. Er suchte tastend nach einem Halt, aber sie stand da und lachte. Ihr Gesicht glühte in der Finsternis. »Du hast ja gar nicht gehört«, sagte sie flüsternd. »Komm, ich will es dir sagen!«

Diesmal lachte er über das ganze Gesicht und schob sich eifrig in den Holunderbusch hinein. Aber im selben Augenblick fühlte er ihre geballte Hand im Gesicht. Sie lachte verächtlich, er blieb in derselben Stellung stehen wie gelähmt; den Mund hielt er vorgestreckt, als warte er noch immer auf den Kuß. »Warum schlägst du mich?« fragte er und starrte sie gebrochen an.

»Weil ich dich nicht ausstehen kann! Du bist ein ganz ekliger Bengel, so ordinär!«

»Ich habe dir doch nie etwas getan!«

»So? Aber du hast es wohl verdient, was brauchst du mich zu küssen!«

Pelle stand da und stammelte hilflos. Seine ganze Erfahrungswelt brach unter ihm zusammen. »Das habe ich doch nicht getan!« brachte er endlich hervor; er sah ungeheuer dumm aus. Manna äffte seinen Ausdruck nach. »Uh! Buh! Gib acht, sonst frierst du am Erdboden fest und wirst zu einem Laternenpfahl, hier am Zaune ist nichts, was dein Verstand beleuchten könnte.«

Mit einem Satz war Pelle über den Zaun, Manna nahm ihn hastig bei der Hand und zog ihn zwischen den Büschen hindurch. »Aina und Dolores kommen gleich. Dann wollen wir spielen.« erklärte sie.

»Ich glaubte, die dürften des Abends nicht mehr draußen sein«, sagte Pelle und ließ sich willenlos führen. Sie erwiderte nichts, sah sich aber um, als wolle sie ihn mit etwas traktieren wie in alten Zeiten. In ihrer Not streifte sie eine Hand Johannisbeerblätter von den Rippen ab und pfropfte sie ihm in den Mund. »Da, nimm das und halt's Maul!« Sie war wieder ganz die alte Manna, und Pelle lachte.

Sie waren an die Laube gelangt, Manna badete seine geschwollene Wange mit nasser Erde, während sie warteten.

»Hat es sehr weh getan?« fragte sie teilnehmend und legte den Arm um seine Schulter.

»Das macht gar nichts. Ach was, eine Ohrfeige«, erwiderte er männlich.

»Das meine ich gar nicht. Du weißt wohl, – hat das sehr weh getan?«

Pelle sah sie schwermütig an. Sie sah neugierig aus. »War es hier?« sagte sie und ließ die Hand an seinem Rücken hinabgleiten. Er erhob sich still, um zu gehen, aber sie packte ihn am Handgelenk. »Verzeih mir«, flüsterte sie.

»Kommen die andern denn nich' bald?« fragte Pelle hart; er nahm sich vor, sich zornig zu stellen wie in alten Zeiten.

»Nein, sie kommen überhaupt nicht! Ich habe dich angeführt. Ich wollte mit dir reden!« Manna schnappte nach Luft.

»Ich glaubte, du wolltest nichts mehr mit mir zu tun haben?«

»Das will ich auch nicht! Ich will ja nur –« Sie konnte es nicht finden und stampfte zornig auf die Erde. Dann sagte sie langsam und gewichtig mit dem Ernst eines Kindes: »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, – ich liebe dich!«

»Dann können wir uns ja heiraten, wenn wir alt genug sind«, erwiderte Pelle erfreut.

Sie sah ihn einen Augenblick mit messenden Blicken an. Das Rathaus, die Prügel, dachte Pelle. Er war sich klar darüber, daß er jetzt schlagen würde, aber da lachte sie ihn aus. »Ach, was für ein köstlicher Schafskopf du doch bist«, sagte sie und ließ wie in Gedanken die nasse Erde in seinen Rücken hineinrinnen.

Pelle sann einen Augenblick auf Vergeltung, steckte dann wie im Übermut die Hand in ihren Busen hinein. Sie fiel weich hin in demütig verwundertem Tasten; eine neue Erkenntnis stieg in ihm auf und veranlaßte ihn, sie kräftig zu umfassen.

Sie sah ihn überrascht an und wollte sanft seine Hand entfernen. Aber es war zu spät. Der Junge hatte den großen Sprung zu ihr hinüber gemacht.

Als Pelle nach Hause schlich, war er überwältigt, aber nicht glücklich. Sein Herz hämmerte wild, und in seinem Gehirn herrschte ein Chaos. Ganz instinktiv ging er sehr leise. Lange lag er da und warf sich hin und her, ohne in Schlaf fallen zu können; sein Sinn hatte sich dem Rätselhaften erschlossen, und nun entdeckte er das lebende Blut in sich. Es sang ihm sein Leid ins Ohr, sog sich ins Herz und in die Wangen, plauderte ringsumher in unzähligen Pulsen, so daß sein Körper vibrierte. Stark und geheimnisvoll trieb es überall in ihm umher und füllte ihn mit warmem, tiefen Staunen. – Nie zuvor hatte er dies alles gewußt.

In der nun kommenden Zeit war sein Blut sein geheimer Mitwisser in allem; er empfand es wie eine Liebkosung, wenn es die Glieder füllte und ihm ein vollgespanntes Gefühl in Hals und Handgelenk verursachte. Er hatte jetzt sein Geheimnis und verriet mit keiner Miene, daß er jemals Sjermanna gekannt hatte. Seine hellen Tage hatten sich auf einmal in helle Nächte verwandelt. Er war noch Kind genug, um sich nach der alten Zeit mit ihren offenen Tagesspielen zu sehnen, aber irgend etwas veranlaßte ihn, vorwärtszulauschen und die Seele suchend dem Geheimnisvollen entgegenzuneigen. Die Nacht hatte ihn ihrer Mysterien teilhaftig gemacht. Mit Manna sprach er nie wieder. In den Garten kam sie niemals, und begegnete er ihr, so bog sie in eine andere Straße, über ihrem Gesicht lag beständig eine rote Flamme, als sei sie da hineingebrannt. Bald darauf kam sie auf ein Gehöft im Ostlande, wo ein Onkel von ihr wohnte.

Pelle aber empfand nichts und war über nichts traurig. Er ging wie in einem Halbschlummer, alles stand unklar, verschleiert vor seiner Seele. Er war ganz verwirrt von alledem, was in ihm vorging. Da drinnen hämmerte und arbeitete es in allen Ecken und Kanten. Vorstellungen, die zu zart waren, wurden niedergebrochen und stärkere aufgerichtet, die den Mann tragen konnten. Seine Glieder härteten sich, die Muskeln wurden gestählt, er bekam ein allgemeines Gefühl von Breite über den Rücken und von dumpfer Kraft. Zuweilen erwachte er aus dem Halbschlummer zu einem kurzen Staunen, wenn er sich auf irgendeinem Gebiete als Mann fühlte. So als er eines Tages seine eigene Stimme hörte. Sie hatte einen tiefen Klang bekommen, der ganz fremd in seinem Ohr tönte und ihn veranlaßte, zu lauschen, als sei es ein ganz anderer, der redete.


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