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X

Per Olsen war doch nicht der, für den sie ihn gehalten hatten. Jetzt, wo er auf diese Weise erlöst war, wäre es wohl in der Ordnung gewesen, wenn er dem armen Kerl, dem langen Ole, eine hilfreiche Hand gereicht hätte – da der doch um seinetwillen ins Elend gekommen war. Aber das fiel ihm gar nicht ein! Nein, er fing an zu bummeln. Trinken und Schwärmen und flatternde Weiberröcke umgaben ihn den ganzen Sommer, und jetzt, zum Umziehtag, ging er weg und nahm Arbeit im Steinbruch an, um mehr sein eigener Herr zu sein. Da war nicht Freiheit genug für ihn auf Steinhof. Das Gute in ihm, dem er noch nicht den Garaus gemacht hatte, sollte da oben schon Füße zum Davonlaufen bekommen.

Der lange Ole konnte ja nicht auf Steinhof bleiben, Krüppel, der er war. Er bekam seinen halben Lohn ausbezahlt, aus lauter Entgegenkommen von seiten des Bauers; das war mehr, als er beanspruchen konnte – und doch immerhin so viel, daß er nach Hause kommen und irgend etwas anfangen konnte. Manch eine Arbeit ließ sich zur Not mit einer Hand verrichten, und jetzt, wo er Geld hatte, konnte er sich doch wohl eine eiserne Klaue anschaffen; die wurde dann um das Handgelenk geschnallt, und man konnte sehr wohl ein Gerät damit halten.

Aber Ole war willenlos geworden, es wurde ihm schwer, einen Entschluß zu fassen. Er trieb sich nach wie vor auf dem Hofe herum, obwohl der Verwalter mit ihm herumstieß, um ihn wegzubekommen. Schließlich mußten sie seine Sachen über die Westgrenze des Hofes hinaussetzen; und da standen sie fast den ganzen Sommer. Er selbst lag in den Hocken und bettelte sich Essen von den Leuten auf dem Felde. So konnte es ja nicht weitergehen, wenn sich erst die Kälte einfand.

Aber dann eines Tages im Herbst waren die Sachen weg; Johanne Piehl – im täglichen Leben die Sau genannt – hatte ihn zu sich genommen. Sie fühlte wohl auch die Kälte trotz all ihres Fettes, und, wie es heißt: zwei halten die Wärme besser als einer. Aber aus welchem Grunde sie es nun auch tun mochte – der lange Ole konnte seinem Schöpfer dafür danken. Es hing immer Speck in ihrem Schornstein.

Lasse und Pelle sahen dem Umziehtag mit Spannung entgegen. Was für Leute würde er diesmal bringen – davon hing ja so viel ab. Außer dem Großknecht sollten sie einen neuen zweiten und dritten Knecht und ein paar neue Mägde bekommen – auf Steinhof wechselte, was wechseln konnte. Karna, das Wurm, war ja gezwungen zu bleiben, sie hatte ihre alten Jahre auf die Jugend gesetzt und wollte durchaus da sein, wo Gustav war! Gustav blieb, weil Bodil blieb – ganz unmenschlich liebte er das Mädchen, obwohl sie es nicht wert war. Und Bodil selbst wußte wohl, was sie tat! Es konnte nie im Leben mit natürlichen Dingen zugehen, wenn man sich wie sie in kostbare fertiggekaufte Kleider kleidete.

Lasse und Pelle blieben ganz einfach, weil sie auf der ganzen Welt keinen anderen Ort hatten, wohin sie ihre Zuflucht nehmen konnten. Das ganze Jahr hindurch machten sie Pläne, wie sie eine Veränderung vornehmen könnten. Aber wenn die Kündigungsfrist heranrückte, so wurde Lasse still und ließ sie vorübergehen.

In der letzten Zeit hatte er häufig davon geträumt, daß er sich wieder verheiraten wollte. Es lag etwas Gottverlassenes über diesem einsamen Dasein für einen Mann in seinem Alter; man wurde vor der Zeit alt und verbraucht, wenn man keine Frau und keinen Hausstand hatte, über die man Herr war. In der Heide, in der Nähe von Bruder Kalle lag ein Haus, das er ohne Anzahlung bekommen konnte. Er erwog das alles oft mit Pelle, und der Junge war Feuer und Flamme für alles Neue.

Es mußte eine Frau sein, die alles ausbessern und es innerhalb der vier Wände ein bißchen gemütlich machen konnte, und ein Arbeitsmensch mußte sie vor allen Dingen sein. Wenn sie ein klein wenig Geld hatte, so konnte das ja auch nicht schaden, aber darauf durfte es nicht ankommen, wenn nur die Gesinnung gut war. Karna würde nach jeder Richtung hin gepaßt haben. Lasse wie auch Pelle hatten immer viel für sie übrig gehabt seit damals, als sie Pelle aus den Klauen des Eleven errettete; aber es war ja nichts mit ihr anzustellen, solange sie den Kuller hatte. Die Zeit würde es lehren; vielleicht kriegte sie den Gebrauch ihres Verstandes wieder – oder auch, es zeigte sich irgend etwas anderes.

»Dann gibt es des Sonntags Kaffee im Bett!« sagte Pelle entzückt.

»Ja, und am Ende schaffen wir uns ein kleines Pferd an und laden ab und zu Oheim Kalles zu 'ner kleinen Ausfahrt ein«, fügte Lasse feierlich hinzu.

 

Jetzt war endlich Ernst daraus geworden. Am Abend waren Lasse und Pelle beim Kaufmann gewesen und hatten Tafel und Griffel gekauft, jetzt stand Pelle in der Stalltür mit pochendem Herzen, die Tafel unterm Arm. Es war ein reifkalter Oktobermorgen, aber der Junge hatte einen ganz heißen Kopf nach dem Waschen; er hatte seine gute Jacke an und war mit Wasser gekämmt.

Lasse trippelte herum, bürstete hier und da mit seinem Ärmel und war noch verlegener als der Junge. Pelle war in bedrängten Verhältnissen geboren, war über die Taufe gehalten und mußte von klein auf sein Brot verdienen – alles genau so wie er selber. Insofern war kein Unterschied zu entdecken, es hätte ebensogut Lasse noch einmal wieder sein können, von den Klappohren und der Glückslocke in der Stirn bis zu der Art und Weise, wie der Junge die Knöchel gegeneinanderscheuerte und seine Hose unten verschliß. Aber dies hier war etwas strahlend Neues. Niemals hatte Lasse selber oder einer von den Seinen die Schule besucht, das war etwas Neues, das in den Bereich der Familie eindrang, eine Gnade des Himmels war es, die ihm selbst und dem Jungen widerfuhr. Er fühlte es wie eine Verschiebung nach oben, das Unmögliche kam in seinen Bereich, was konnte nicht alles aus einem Menschen werden, der Büchergelehrsamkeit besaß. Man konnte Handwerksmeister, Schreiber, ja vielleicht gar Schulmeister werden.

»Paß nu aber auch gut auf die Tafel auf, damit sie nich' inzwei geht!« sagte er ermahnend. »Und sieh zu, daß du den großen Jungen aus dem Wege gehst, bis du mit ihnen fertig werden kannst. Aber wenn einer dich durchaus nich' in Frieden lassen will, denn sieh du zu, daß du zuerst losschlägst! Das nimmt den meisten die Luft, noch dazu, wenn du tüchtig zuhaust; wer zuerst schlägt, schlägt zweimal, sagt ein altes Sprichwort. Und denn mußt du gut zuhören und dir alles, was der Lehrer sagt, gut hinters Ohr schreiben; und wenn dich jemand hinter seinem Rücken zu dumme Streiche und Lustbarkeiten auffordern will, denn sollst du dich nich' da auf einlassen. Und vergiß auch nich', daß du ein Taschentuch hast, und brauch' nich' die Finger, denn das is nich' angesehen. Aber wenn es keiner sieht, kannst du das Tuch gut sparen, versteht sich – um so länger hält es vor. Und nimm auch deine gute Jacke in acht. – Sollt' dich die Madam' von dem Lehrer zum Kaffee einladen, denn mußt du nich' mehr als ein Stück Kuchen nehmen, daß du das man weißt.« Lasses Hände zitterten, während er sprach.

»Das tut sie gewiß nich'«, sagte Pelle ziemlich überlegen.

»Ja, ja, denn geh nu man, daß du nich' zu spät kommst – noch dazu den ersten Tag. Und sollt' dir irgendein Stück Werkzeug fehlen, denn mußt du es gleich sagen, daß wir es anschaffen – so arm sind wir auch nich', daß wir uns lumpen lassen brauchen.« Lasse schlug auf die Tasche; aber der Schlag hatte keinen rechten Klang. Pelle wußte recht gut, daß sie kein Geld hatten – sie hatten Tafel und Griffel auf Kredit gekauft.

Lasse stand da und sah dem Jungen nach, solange er ihn sehen konnte – dann ging er an seine Arbeit, die darin bestand, Rapskuchen zu zerstampfen. Er schüttete sie in ein Gefäß zum Weichen und goß Wasser darauf, während er leise vor sich hinsprach.

Es klopfte an die äußere Stalltür, und Lasse ging hin, um zu öffnen – es war Bruder Kalle.

»Guten Tag, Bruder!« sagte er mit seinem vergnüglichen Lächeln. »Guck, hier kommt der Makkedor aus Steinlose.« Er wackelte auf seinen O-Beinen herum, und sie begrüßten sich herzlich. Lasse war entzückt über den Besuch.

»Es war neulich so gemütlich bei euch!« sagte er und faßte den Bruder um das Handgelenk.

»Das is sonst schon recht lange her. Aber nu guckt ihr woll bald mal einen Abend ein? Großmutter hat ein Auge auf euch beide geworfen.« Kalle stand da und blinzelte so verschmitzt.

»Was macht denn das alte Wurm, hat die sich von der Geschichte mit dem Auge wieder besonnen? Pelle kam neulich zu Haus und erzählte, die Kinder hätten aus Versehen einen Stock in Großmutter ihr Auge gesteckt. Mir wurd' ganz schlimm dabei – ihr habt ja woll einen Doktor holen müssen?«

»Ja, ein bißchen anders war die Sache denn doch«, sagte Kalle. »Ich hatt' am Morgen, als ich Großmutters Stube zurechtmachte, selbst ihren Spinnrocken woanders hingestellt – und denn nachher vergaß ich, ihn wieder an seinen Platz zu stellen. Als sie sich bücken will und was von der Erde aufnehmen, stößt sie sich die Spindel in ihr Auge – sie is ja daran gewöhnt, daß jedes Ding genau an seinem Platz steht. Darum kommt mir eigentlich die Ehre zu.« Er lachte über das ganze Gesicht.

Lasse wiegte mitfühlend den Kopf hin und her: »Und sie hat sich einigermaßen wieder besonnen?«

»Nee, die Sache ging ganz schief – sie verlor die Sehkraft auf dem Auge.«

Lasse sah ihn mißbilligend an.

Kalle begriff sich, ganz erschreckt, wie es schien.

»I, was für Unsinn red' ich da – sie verlor die Blindheit auf dem Auge, wollt' ich sagen. Is das nu nich' zu arg? Man sticht einem Menschen das Aug' aus, und denn kann sie mit einemmal wieder sehen. Ich glaub', ich will darauf ausgehen, Blinde zu kurieren, denn das is ja die größte Kleinigkeit.«

»Was sagst du – sie kann auf einmal wieder –? Nee, nu wirst du mir denn doch zu lustig; man soll auch nich' mit alles seinen Scherz treiben.«

»Ja, ja, Scherz beiseite, wie der Prophet sagte, als seine Frau ihn durchprügelte. Aber sie kann wirklich mit dem einen Aug' sehen, du!«

Lasse sah ihn eine Weile mißtrauisch an, ehe er sich ergab. »Das is ja wie 'n Wunder!« sagte er dann.

»Ja, dasselbe hat der Doktor auch gesagt – die feine Spitze hätt' wie so 'ne Art Operation gewirkt. Aber es hätt' ebensogut schlimm werden können. Ja, wir haben wahrhaftig dreimal den Doktor für sie gehabt – es konnt' ja nich' nützen, dabei zu knausern.« Kalle stand da und versuchte, sich zu brüsten, er hatte die Daumen in die Westentaschen gesteckt.

»Das hatt' woll viel Geld gekostet, wie?«

»Das dacht' ich ja auch, und ich war gerad nich' vergnügt, als ich den Doktor fragte, wieviel es würd'. Fünfundzwanzig Kronen, sagt' er, und das klang nich' anders, als wenn wir um ein Stück Schmalzbrot bitten. Wenn Herr Doktor so gut sein will und ein paar Tage warten, daß ich die Kuh ordentlich verkauft krieg', sagte ich. Was – sagte er und glotzt mich über die Brille an, Sie woll'n doch woll nich' die Kuh verkaufen, um mich zu bezahlen? Das dürfen Sie auf keinen Fall tun; ich kann warten, bis die Zeiten besser werden. Wir kommen doch leicht davon ab, wenn wir auch die Kuh verkaufen müssen, sagt' ich. – Wieso? fragt er, während wir nach dem Wagen 'rausgehen – der Neuendorfer-Bauer hat für mich gefahren. Da erzählt' ich ihm denn, daß Marie und ich daran gedacht hätten, den ganzen Krempel zu verkaufen, damit Großmutter nach Kopenhagen 'rüberkommen könnt' zum Operieren. Er sagte nichts dazu und kletterte auf den Wagen 'rauf, und ich stand ja da und knöpft den Fußsack um ihn zu. Aber auf einmal packt er mich beim Kragen und sagt: Wissen Sie, was Sie sind, Sie kleiner o-beiniger Kerl? (Kalle ahmte die »feine« Sprache des Arztes nach.) Sie sind der beste Mensch, der mir je vorgekommen ist, und Sie schulden mir keinen roten Heller! Übrigens haben Sie die Operation ja selbst ausgeführt. Dann müßt' ich woll eigentlich noch Geld zukriegen, sagt' ich. Da lacht' er und schlug mich mit seiner Pelzmütze auf 'n Schädel. – Ein Staatskerl, der Doktor – und verdammt tüchtig; sie sagen von ihm, er hätt' bloß eine Art Medizin, wo er alle Arten Krankheiten mit kuriert.«

Sie saßen oben in der Kuhhirtenkammer auf der grünen Kiste, Lasse hatte einen Rest Branntwein hervorgeholt. »Trink, Bruder!« sagte er einmal über das andere. »Da gehört was zu, wenn man in diesem Oktoberwetter die Feuchtigkeit draußen halten will.«

»Danke vielmals, Lasse – aber trink doch selbst! – Nee, was ich noch sagen wollt', du sollt'st bloß Großmutter mal sehen, sie geht 'rum und beguckt alles mit ihr eines Aug'; wenn es man bloß ein Knopf is, so starrt sie ihn an. Ach, sagt sie, das sieht so aus und das so? Sie hat ja vergessen, wie die Sachen aussehen. Und wenn sie ein Stück Dings angesehen hat, denn befühlt sie es hinterher – denn sie muß wissen, was das is, sagt sie, weiß Gott! Uns wollt' sie die ersten Tage gar nich' kennen; wenn sie uns nich' sprechen oder gehen hört, denn glaubt sie, wir wären fremde Menschen – wenn sie uns auch mit ihre eigenen Augen sah.«

»Und die Kinder?« fragte Lasse.

»Ja, Anna ihre, die is ja dick und fett, aber unsere eigene, die is so, als wenn sie stehen bleibt. Das bleibt doch 'n wahres Wort, daß man die jungen Säue zum Züchten nehmen soll. Aber das tät ich ja beinah vergessen –« Kalle holte seinen Geldbeutel heraus: »Ja, eh ich es vergeß, da sind die zehn Kronen, die du mir für die Wochenbetten geliehen hast.«

Lasse machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Laß das man, Bruder, es wird dir woll sowieso schwer genug, durchzukommen. Wie viele Münder seid ihr denn jetzt eigentlich? So ein vierzehn, fünfzehn Stück?«

»Ja, aber zwei davon werden von ihren Müttern gesäugt, so wie die Kücken der Pfarrersfrau, das is also die reine Ersparnis. Und wenn Not an Mann is, denn kann ich mir auch woll noch 'n paar Schillinge aus der Nase schnauben!« Er schnäuzte sich mit einer schnellen Bewegung und streckte die Hand aus – es lag ein zusammengefalteter Zehnkronenschein darin.

Lasse lachte über das Kunststück, wollte aber nichts von dem Gelde wissen. Eine Weile standen sie da und steckten sich gegenseitig das Papiergeld zu. »Na, ja, ja,« sagte Kalle schließlich und behielt den Schein, »denn bedank ich mich auch vielmals. – Und denn Adjöh, Bruder! Nu muß ich zu Haus.«

Lasse gab ihm das Geleit und sandte viele Grüße. »Wir kommen bald mal hin und sehn uns nach euch um«, rief er dem Bruder nach.

Als er nach einer Weile in die Kammer kam, lag der Zehnkronenschein auf dem Bett; Kalle mußte einen unbewachten Augenblick benutzt haben, um ihn dahin zu legen, so ein Tausendkünstler, wie er war. Lasse legte ihn beiseite, um ihn Kalles Frau bei nächster Gelegenheit zuzustecken.

Schon lange vor der Zeit hielt Lasse Ausguck nach dem Jungen. Die Einsamkeit war ihm so bedrückend, er war jetzt so daran gewöhnt, ihn vom Morgen bis zum Abend um sich zu haben. Endlich kam Pelle atemlos angerannt. Auch er hatte sich gesehnt.

Es war nichts geschehen in der Schule, weder etwas Furchtbares noch etwas Bemerkenswertes. Pelle mußte umständlich erzählen, Punkt für Punkt. »Na, was kannst du denn?« hatte der Lehrer gefragt und ihn beim Ohr genommen – ganz freundlich, versteht sich. »Ich kann den bösen Stier nach dem Wassertrog ziehen, ohne daß mir Vater Lasse dabei hilft«, hatte er geantwortet, und da hatte die ganze Klasse laut gelacht. »Ja, ja, kannst du aber lesen?«

Nein, das konnte Pelle nicht. – »Sonst wär' ich woll nich' hergekommen«, hätte er beinahe geantwortet.

»Ein Glück, daß du nich' geantwortet hast«, sagte Lasse. »Aber was denn weiter?« Ja, dann war Pelle auf die unterste Bank gesetzt, und seine Nachbarn hatten ihm die Buchstaben beibringen müssen.

»Kannst du sie denn nu?«

Nein, Pelle konnte sie an dem Tage noch nicht. Aber als erst ein paar Wochen vergangen waren, konnte er die meisten und schrieb sie mit Kreide an die Pfosten. Er hatte noch nicht schreiben gelernt, aber seine Hand konnte alle Dinge wiedergeben, die er gesehen hatte, und er zeichnete die Buchstaben genau so, wie sie in der Fibel gedruckt standen.

Lasse guckte sie während der Arbeit an und ließ sie sich bis ins Unendliche wiederholen; aber sie wollten nicht recht hängen bleiben. »Was für einer is der da eigentlich?« mußte er immer wieder fragen.

Pelle spielte den Überlegenen: »Der – hast du den schon wieder vergessen? Den konnt ich, als ich ihn bloß einmal gesehen hatt'! Das ist ja ein M!«

»Ja, das is es ja auch, ja natürlich! – Ich weiß nich', wo ich heut meinen Kopf hab'. M, ja, das is ja natürlich ein M! Wo kann man das woll zu gebrauchen?«

»Das steht voran bei dem Wort Empfehlen, natürlich!« sagte Pelle eingebildet.

»Ja, natürlich, du – aber das weißt du nu nich' von selbst, das hat dir der Lehrer gesagt!«

»Nee, das hab' ich ganz allein herausgefunden.«

»So, hast du das getan? Ja, klug bist du ja geworden – wenn du mir man nich' zu klug wirst!« Lasse war verstimmt, aber bald besann er sich und ging in eine ungeteilte Bewunderung des Sohnes über. Und der Unterricht wurde fortgesetzt, während sie arbeiteten. Es war ein Glück für Pelle, daß der Vater so langsam von Begriffen war, denn mit ihm selbst ging es nicht sehr schnell vorwärts, nachdem er sich erst alles das angeeignet hatte, was sich von einem hellen Verstand unmittelbar erfassen ließ. Der Junge, der ihn unterrichten sollte – Sjäsk wurde er genannt –, war der Dümmste in der Klasse und hatte immer untenan gesessen, bis jetzt Pelle kam und ihn ablöste.

Zwei Wochen Schulbesuch rüttelten stark an Pelles Vorstellungen auf diesem Gebiete. In den ersten Tagen erschien er voll ängstlicher Erwartung, all sein Übermut hatte ihn verlassen, als er die Schwelle des Schulzimmers überschritt, zum ersten Male in seinem Leben kam er sich so ganz unmöglich vor. Zitternd vor Feierlichkeit erschloß er sich diesem Neuen, Unbekannten, das ihm alle Mysterien der Welt entschleiern wollte, wenn er nur seine Klappohren ordentlich offen hielt – und das tat er. Aber da war kein ehrfurchteinflößender Mann, der die Schulkinder liebevoll durch seine goldene Brille betrachtete – während er ihnen von Sonne und Mond und den Wundern aller Welt erzählte. Den Mittelgang auf und nieder ging ein Mann, in schmutzigem leinenem Rock und mit grauen Bartstoppeln aus der Nase heraus; er schwippte im Gehen mit dem spanischen Rohrstock und rauchte seine Pfeife, oder er saß oben auf dem Katheder und las seine Zeitung. Die Kinder lärmten und tummelten sich, und wenn der Lärm in öffentliche Prügelei ausartete, sprang der Mann vom Katheder herunter und schlug mit seinem Stock drauflos. Und Pelle selbst, ja, er war – wie es ihm schien, für immer – an einen dreckigen Jungen gekoppelt, der voll Drüsengeschwüre war und ihn jedesmal in den Arm kniff, wenn er sein b-a – ba, b-e – be nicht richtig las. Die einzige Abwechselung war täglich eine Stunde Überhören der schweren Anmerkungen im Katechismus, und dann die unhantierlichen Gesangbuchverse am Sonnabend.

Eine Zeitlang verschlang Pelle das Ganze roh und brachte es getreulich dem Vater mit, aber dann ermüdete er. Es war nicht sein Fall, sich lange den Umgebungen gegenüber tatenlos zu verhalten, und eines schönen Tages hatte er alle Ermahnungen und Vorsätze abgestreift und befand sich mitten unter den Spaßmachern.

Fortan brachte er weniger zum Weiterlehren mit nach Hause, aber dafür waren da die tausenderlei dummen Streiche, von denen er erzählte. Und Vater Lasse schüttelte den Kopf und begriff nichts; aber mitlachen, das mußte er.


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