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XVIII

Pelle kämpfte gegen den Rückgang auf der Werkstatt. Es war ein neuer Lehrling gekommen, aber alles Schwierige mußte er nach wie vor besorgen. Er besorgte die Leiherei und kaufte auf Kredit ein; er mußte zu den ungeduldigen Kunden und versuchen, sie zufriedenzustellen. Er rührte seine Glieder, lernte aber nichts Ordentliches. »Lauf gleich einmal nach dem Hafen hinunter,« pflegte der Meister zu sagen, »vielleicht is da Arbeit zu holen!« Aber der Meister interessierte sich mehr für die Neuigkeiten, die er von dort mitbrachte.

Pelle lief auch ohne Aufforderung da hinab. Nach dem Hafen mußte jeder in der Stadt, sooft er hinauskam; er war das Herz, durch ihn kam und ging alles: das Geld und die Phantasien und ihre Befriedigung. Jeder war zur See gewesen und hatte da draußen seine besten Erinnerungen und seine härtesten Kämpfe liegen. Den Weg hinaus nahmen die Träume, das Meer lag dahinter und sog die Gedanken an sich, für die Jungen, die hinauswollten, um sich zu tummeln, und für die Alten, die in ihren Erinnerungen lebten. Es war der Sang in aller Gemüter und der Gott im Allerinnersten aller Gemüter; der Überschuß des Lebens schweifte da hinaus, all das Unerklärliche und Mystische. Das Blut von Tausenden hatte das Meer getrunken, ohne seine Farbe zu ändern, das Rätsel des Lebens brütete in seinen ruhelosen Wassern.

Aus dem Boden der Tiefe stieg das Schicksal auf und zeichnete seinen Mann mit kurzer Frist; er konnte sich an Land retten wie Bäcker Jörgensen, der nie mehr auf See ging, nachdem sie ihn gewarnt hatte, oder im Schlaf aufstehen und gerade über die Schiffswand hinausspazieren wie Bootsmann Jensen. Da unten, wo die Ertrunkenen sich aufhielten, sanken die Schiffe hinab, um ihnen zu bringen, was sie bedurften; die blutlosen Kinder des Meeres stiegen von Zeit zu Zeit an das Ufer heran, um mit Kindern zu spielen, die am Sonntag geboren waren, und ihnen Glück oder Tod zu bringen.

Über das Meer hinüber kam der Dampfer dreimal die Woche und brachte Nachricht aus Kopenhagen, und da kamen Schiffe, die ganz vereist waren, und andere, die ein schweres Leck hatten, oder die Leichen an Bord führten, und große Fahrzeuge, die nach den warmen Ländern fuhren und richtige Neger unter der Besatzung hatten.

Dort unten standen die Alten, die die See verlassen hatten, und starrten den langen Tag hinaus über den Tummelplatz ihrer Mannesjahre, bis der Tod sie holte. Das Meer hatte ihnen Gicht in die Glieder geblasen, sie hatten sich krumm und schief geschlagen, und in den Winternächten konnte man sie vor Schmerz brüllen hören wie wilde Tiere. Hier unten trieb sich aller Auswurf herum, Invalide und Hinfällige und Träge, und Leute, die geschäftstüchtig waren, jagten hin und her am Hafen mit flatternden Rockschößen, um den Profit aufzuschnüffeln.

Die Jugend tummelte sich hier beständig, es war, als komme man der Zukunft entgegen, wenn man hier am offenen Meer spielte. Viele kamen niemals weiter, aber viele ließen sich erfassen und wirbelten in die Ungewißheit hinaus, so wie Nilen. Als die Schiffe aufgetakelt wurden, konnte er nicht länger widerstehen. Er opferte zwei Jahre Lehrzeit und nahm Reißaus an Bord eines Schiffes, das auf lange Fahrt ging. Jetzt war er weit draußen im Passat, auf dem Wege südlich um Amerika herum mit Rotholz. Und mit jedem Dampfer zogen einige aus. Die Mädchen waren die Mutigsten, wo es sich darum handelte, sich loszureißen; sie dampften schnell von dannen und zogen junge Männer in blinder Verliebtheit nach sich. Und die Männer strebten hinaus, um etwas zu versuchen, das ihnen mehr gab als das hier in der Heimat.

Pelle hatte dies alles schon einmal erlebt, dies selbe Sehnen, und fühlte selbst den Zug in sich. Draußen auf dem Lande war es der Traum aller Armen, sich nach der Stadt hindurchzukämpfen, und die Kühnsten wagten es eines Tages mit heißen Wangen, während die Alten warnend von der Verderbnis der Stadt sprachen. Und hier drinnen war es der Traum von der Hauptstadt Kopenhagen, das war das Glück! Wer mutig war, hing eines Tages über dem Schiffsreling und winkte Lebewohl mit einem unsichtbaren Zug über den Augen, als spiele er ein hohes Spiel; da drüben sollte man es ja mit den Tüchtigsten aufnehmen. Aber die Alten schüttelten den Kopf und sprachen viel von den Versuchungen und der Verderbnis der Hauptstadt.

Hin und wieder kam wohl einer zurück und gab ihnen recht. Dann liefen sie zufrieden von Tür zu Tür. »Haben wir es nich' gesagt!« Aber manche kamen zu den Festzeiten nach Hause und waren so fein, daß das Ende dabei aufhörte. Und diesem oder jenem Mädchen war es so gar gut gegangen, so daß man die Ansicht des Holzfuß-Larsen über sie einholen mußte.

Die Mädchen, die sich da drüben verheiratet hatten, ja, die waren ja versorgt. Sie kamen in Zwischenräumen von langen Jahren wieder in die Heimat zu den Eltern, reisten auf dem Deck zwischen dem Vieh und gaben der Stewardeß fünfzig Öre, um in der Zeitung als Kajüttenpassagiere angeführt zu werden. Fein genug in Zeug waren sie ja; aber die Gesichter redeten mit in ihrer Schmalheit. »Da is sicher nich' Essen genug für all die da drüben!« sagten die alten Frauen.

Aber Pelle interessierte sich nicht für die Heimkehrenden. Alle seine Gedanken gingen mit denen, die von dannen zogen; das Herz zerrte ihm schmerzlich in der Brust, solche Übermacht hatte die Sehnsucht in ihm. Das Meer, mochte es kochen oder träge daliegen, füllte beständig seinen Kopf mit diesem Sausen von der Welt da drüben, mit einem dumpfen, verblümten Gesang von Glück.

Eines Tages, als er auf dem Wege da hinab war, begegnete er dem alten Dachdecker Holm aus Steinhof. Holm ging umher und sah die Häuser von oben bis unten an, er hob die Beine ganz hoch vor lauter Verwunderung und schwatzte mit sich selbst. Am Arm hatte er seinen Spankorb mit Butterbrot, Schnaps und Bier.

»Nee, da is doch endlich einer!« sagte er und gab ihm die Hand. »Ich ging hier gerade herum und wunderte mich darüber, wo sie alle bleiben, die zwischen Jahr und Tag hier hineinziehen, und ob sie es zu was gebracht haben. Mutter und ich haben oft davon geredet, daß es ganz schön sein könnte zu wissen, wie sich die Zukunft für diesen oder jenen gemacht hat. Und da heute morgen sagte sie, nun wäre es wohl am besten, wenn ich mal kurzen Prozeß machte, ehe ich es ganz verlernte, mich hier in den Straßen zurechtzufinden. Ich bin ja seit zehn Jahren nich' hier gewesen. Na, nach dem, was ich bisher gesehen hab', brauchen Mutter und ich nich' zu bereuen, daß wir zu Hause geblieben sind. Hier wächst nichts weiter als Laternenpfähle, und die groß zu ziehen, darauf versteht sich Mutter wohl nich'. Strohdächer habe ich hier auch nich' gesehen. Hier in der Stadt gönnen sie dem Dachdecker wohl nich' das liebe Brot. – Aber den Hafen will ich doch sehen, ehe ich nach Haus gehe.«

»Dann gehen wir zusammen«, sagte Pelle. Er freute sich, Leute aus der Heimat zu treffen. Das Land da drüben um Steinhof herum war für ihn beständig die Heimat seiner Kindheit. Er plauderte und zeigte.

»Ja, ich bin nun schon ein-, zwei-, dreimal früher hier am Hafen gewesen,« sagte Holm, »aber den Dampfer habe ich nie zu sehen gekriegt. Sie erzählen ja sonst große Dinge davon; sie sagen, daß alle unsere Produkte nun mit dem Dampfer in die Hauptstadt gebracht werden.«

»Er liegt heute hier«, sagte Pelle eifrig. »Heute abend geht er ab.«

Holms Augen strahlten. »Dann krieg' ich den Kerl ja auch zu sehen. Den Rauch habe ich ja so oft daheim von den Hügeln aus über das Meer wandern sehen, und das gab immer so viel zu denken. Sie sagen ja, daß er Kohlen frißt und aus Eisen is.« Er sah Pelle unsicher an.

Das große leere Hafenbecken, in dem ein paar Hundert Männer an der Arbeit waren, interessierte ihn sehr. Pelle zeigte ihm »die Kraft«, der sich dort abmühte wie ein Blödsinniger und sich die schwerste Arbeit aufpacken ließ.

»So, der is das!« rief Holm aus, »ich hab' seinen Vater gekannt; das war ein Mann, der über das Gewöhnliche hinaus wollte, aber er hat es zu nichts gebracht. – Und wie geht es dann deinem Vater? Wohl nich' zum besten, wie ich gehört hab'?«

Pelle war vor kurzem zu Hause gewesen; es ging nicht gut dort, aber darüber schwieg er. »Karna kränkelt ja ein wenig«, war das einzige, was er sagte. »Sie hat sich zuviel zugemutet und sich verhoben.«

»Sie sagen, daß es ihm schwer wird, durchzukommen. – Die haben sich wohl zuviel aufgeladen«, fuhr Holm fort.

Pelle erwiderte nichts; und dann nahm der Dampfer die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Holm vergaß ganz den Mund zu gebrauchen, redselig wie er sonst war.

Der Dampfer war im Begriff, Stückgut einzuladen; an beiden Luken sang die Dampfwinde und fauchte jedesmal, wenn sie nach einer anderen Richtung herumgedreht wurde. Holm wurden die Beine so leicht, er stand wie auf Nadeln; wenn der Kran über den Quai geschwungen wurde und die Ketten rasselnd herunterjagten, floh er ganz hinüber bis an den Speicher. Pelle wollte ihn mit an Bord nehmen, aber davon war keine Rede. »Der sieht ja aus wie ein boshaftes Ungetüm,« sagte er, »so wie er niest und sich anstellt.«

Auf dem Quai lag an der vorderen Luke ein Haufe armseligen Hausrats bunt durcheinander. Ein Mann stand da und hielt einen Mahagonispiegel, den einzigen Wertgegenstand, in den Armen; seine Miene war finster. Aus der Art und Weise, wie er sich die Nase schneuzte – mit dem Knöchel, statt mit den Fingern – konnte man sehen, daß er etwas Ungewöhnliches vorhatte. Sein Blick hing unverwandt an dem armseligen Hab und Gut und verfolgte ängstlich jedes gebrechliche Stück auf seiner luftigen Reise in den Bauch des Schiffes. Die Frau und Kinder saßen auf der Brustwehr und aßen aus den Vorratskörben. Sie hatten wohl schon seit Stunden hier gesessen. Die Kinder waren weinerlich und müde, die Mutter redete ihnen zu und legte sie zum Schlafen auf die Steine.

»Reisen wir noch nich' bald?« fragten sie fortwährend in jammerndem Ton.

»Ja, jetzt geht das Schiff gleich, aber dann müßt ihr sehr lieb sein, sonst will es euch nich' mitnehmen. Und dann kommt ihr in die Hauptstadt, wo sie Weißbrot essen und immer in Lederstiefeln gehen. Da wohnt der König selbst, und da haben sie alles in den Läden.« Sie legte ihnen ihr Umschlagetuch unter den Kopf.

»Aber das is ja Per Ankers Sohn aus Blaaholt!« rief Holm, als er eine Weile dagestanden und den Mann angesehen hatte. »Was, du willst das Land verlassen?«

»Ja, das habe ich mir so gedacht«, antwortete der Mann kleinlaut und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Und ich glaubte, es ging dir so gut. Bist du nich' ins Ostland gezogen und hast da einen Gasthof übernommen?«

»Ja, sie haben mich da hingelockt, und jetzt habe ich alles zugesetzt dabei.«

»Du hättest dich vorsehen sollen, das kostet nichts weiter als die Mühe.«

»Wo sie mir nun aber falsche Bücher vorgelegt haben, die einen größeren Überschuß angaben, als da wirklich war. Reeder Monsen stand wohl hinter der ganzen Geschichte, zusammen mit dem Bierbrauer von da drüben, der das Hotel für ausstehende Schulden übernommen hatte.«

»Aber wie haben die Großen dich nur aufschnüffeln können?« Holm kraute sich den Kopf, er begriff das Ganze nicht.

»Ach, sie hatten wohl von den Zehntausend gehört, die ich von Vater geerbt hatte. Nach so was werfen sie freilich ihre Netze aus, und dann eines Tages schickten sie mir einen Kommissionär auf den Leib. Zehntausend langte gerade für die Anzahlung, und nun haben sie das Hotel wieder übernommen. Aus Mitleid ließen sie mich diesen Rumpelkram hier behalten. – Aber mir is das ganze schnuppe.« Er wandte plötzlich sein Gesicht ab und weinte; und dann kam die Frau schnell herzu.

Holm zog Pelle mit sich. »Sie wollen uns wohl am liebsten los sein«, sagte er still; er fuhr fort über das traurige Schicksal des Mannes zu reden, während sie an der Mole entlang schlenderten. Aber Pelle hörte ihm nicht zu. Er hatte einen kleinen Schuner entdeckt, der draußen kreuzte, und wurde immer unruhiger.

»Ich glaube, das is der Islandschuner«, sagte er endlich. »Dann muß ich nach Hause!«

»Ja, lauf nur,« sagte Holm, »und vielen Dank für deine Führung, und grüße auch Lasse und Karna.«

Oben auf dem Hafenhügel begegnete Pelle Meister Jeppe und weiter hinauf Drejer, Klaussen und Blom. Der Islandfahrer hatte seit mehreren Monaten auf sich warten lassen; das Gerücht, daß er im Fahrwasser sei, verbreitete sich schnell, und alle Schuhmacher aus der ganzen Stadt eilten von dannen, um noch, ehe die Landungsbrücke angelegt war, zu hören, ob er ein gutes Geschäft gemacht hatte.

»Nun is der Islandfahrer da«, sagten Kaufleute und Lederhändler, wenn sie sie rennen sahen. »Nun müssen wir uns beeilen und Rechnungen ausschreiben, denn nun kommen die Schuster zu Geld.«

Aber der Schiffer hatte das meiste Schuhzeug noch im Schiff und kam mit der Schreckensbotschaft, daß nicht mehr Schuhzeug auf Island abzusetzen sei. Die Winterindustrie war den Schustern gelegt.

»Was soll das bedeuten?« fragte Jeppe bitter. »Du hast doch lange genug dazu gebraucht. Hast du da drüben ein neues Auftreten versucht? Die andern Jahre hast du doch die ganze Bescherung verkaufen können?«

»Ich habe getan, was ich konnte«, erwiderte der Schiffer finster. »Habe es den Händlern in großen Partien angeboten und dagelegen und Kleinhandel vom Schiff aus getrieben. Die ganze Westküste habe ich abgegrast, aber da is nichts mehr zu machen.«

»Na, nu!« sagte Jeppe entsetzt, »wollen denn die Isländer ohne Schuhzeug gehen?«

»Die Fabriken«, antwortete der Schiffer.

»Die Fabriken, die Fabriken!« Jeppe lachte höhnisch. Aber mit einem Anflug von Unsicherheit. »Du willst mir am Ende einreden, daß sie Schuhe auf der Maschine machen können: zuschneiden und anpflöcken und nadeln und Sohlen annähen und alles? Nein, das kann, verdammt und verflucht, bloß die Menschenhand, die von Menschenverstand geleitet wird. – Schuhzeug machen is nur Menschenarbeit. Ich sollte am Ende von einer Maschine ersetzt werden können, von ein paar Rädern, die sich herumdrehen, basta! Eine Maschine is tot, das weiß ich, die kann nich' denken oder sich weitere Umstände machen; denn so soll für den bestimmten Fuß gearbeitet werden, weil da empfindliche Zehen sind, oder – hier will ich der Sohle diesen Schnitt in der Fußhöhlung geben, daß es hübsch aussieht, oder – nu muß man aufpassen, sonst schneidet man ins Oberleder!«

»Es gibt Maschinen, die Schuhzeug machen, und sie machen es billiger als ihr, also –«, sagte der Schiffer, kurz angebunden.

»Das möcht' ich wohl sehen! Kannst du mir einen Schuh zeigen, der nicht von Menschenhand gemacht is?« Jeppe lachte höhnisch. »Nein, da steckt was anderes dahinter, weiß Gott. Irgendeiner will uns einen Streich spielen.« Der Schiffer ging beleidigt seiner Wege.

Jeppe blieb dabei, daß es nicht mit rechten Dingen zugehe, aber das mit der Maschine spukte ihm doch im Kopfe herum. Er kam immer wieder darauf zurück.

»Nun machen sie wohl auch bald Menschen auf der Maschine«, stieß er wütend hervor.

»Nee, da glaub' ich denn doch, daß sich da die alte Methode erhält«, sagte Bäcker Jörgen.

Eines Tages trat der Schiffer zur Werkstattür herein, schmiß ein paar Schuhe auf den Fenstertritt und ging wieder. Sie waren in England gekauft und gehörten dem Steuermann auf einer Bark, die eben in den Hafen gelaufen war. Der junge Meister sah sie an, drehte sie in der Hand herum und sah sie wieder an. Dann rief er Jeppe. Sie waren durchgenäht, Schuhe für erwachsene Männer und durchgenäht. Zum Überfluß stand der Fabrikstempel noch unter der Sohle.

Jeppe ließ ihnen nicht für zwei Schillinge Ehre. Aber über die Tatsache selbst konnte er nicht hinwegkommen.

»Dann sind wir ja überflüssig«, sagte er zitternd, und seine ganze Größe war wie weggeblasen. »Denn wenn sie das eine auf der Maschine machen können, dann können sie auch das andere. Und dann is das Fach zum Tode verurteilt, und wir sind alle eines schönen Tages brotlos. Na, ich habe gottlob nich' mehr lange vor mir!« Es war das erstemal, daß Jeppe eingestand, daß auch er dem lieben Gott einen Tod schuldig war.

Jedesmal, wenn er in die Werkstatt hinauskam, fing er von demselben Thema an und stand da und drehte den geschmähten Schuh zwischen den Händen. Dann kritisierte er ihn: »Wir müssen uns nächsten Winter mehr Mühe geben!«

»Vater vergißt, daß es mit uns Matthäi am letzten is«, sagte der junge Meister müde.

Dann schwieg der Alte und humpelte hinaus. Aber nach einer Weile war er wieder da und fingerte an dem Schuhzeug herum, um den Fehler ausfindig zu machen. Seine Gedanken umkreisten beständig dies Neue; es kam kein Lobgesang über das Fach mehr von seinen Lippen. Wenn die jüngeren Meister kamen und um seine Hilfe in einem schwierigen Falle baten, sagte er nein; er fühlte kein Bedürfnis mehr, mit den alten Kunstgriffen über die Jugend zu triumphieren, sondern schlürfte umher und fiel zusammen. »Und alles, was wir so hoch gestellt haben, was is es damit?« konnte er fragen. »Denn Maschinen machen doch wohl nich' Meisterstücke und Medaillenarbeit, wo bleibt da die Tüchtigkeit!«

Der junge Meister sah nicht so weit, er dachte hauptsächlich an das Geld, das ihnen jetzt fehlte. »Zum Teufel auch, wie sollen wir jetzt jedem gerecht werden, Pelle?« fragte er trübselig. Der kleine Nikas mußte sich nach etwas anderem umsehen, die Mittel erlaubten ihnen jetzt nicht mehr, einen Gesellen zu halten. So beschloß er denn, sich zu verheiraten und sich als Meister nach Norden zu niederzulassen. Der Schuster der Baptistengemeinde war gerade gestorben, und er konnte Kunden genug bekommen, wenn er sich in die Sekte einschlich, er lief schon zu ihren Versammlungen. »Geh aber vorsichtig zu Werke!« sagte Jeppe, »sonst geht die Sache schief!«

Es war ein harter Stoß für sie alle. Klausen machte Bankrott und mußte Arbeit am neuen Hafen annehmen. Blom nahm Reißaus und hinterließ Frau und Kinder, die mußten nach Hause zu ihren Eltern gehen. In der Werkstatt war es schon lange zurückgegangen. Nun kam das noch dazu und warf ein grelles Licht auf den ganzen Rückgang. Aber der junge Meister schob es von sich. »Jetzt bin ich bald wieder gesund,« sagte er, »und dann sollt ihr nur sehen, wie ich das Geschäft in die Höhe bringen werde!« Er lag jetzt mehr zu Bett und war empfindlich gegen allerlei Witterung. Pelle mußte alles übernehmen.

»Lauf hin und pumpe!« sagte der Meister nur. Und wenn Pelle mit einem Nein zurückkam, sah er ihn mit seinem großen, verwunderten Blick an. »Solche Krämerseelen!« rief er aus. »Da müssen wir die Sohlen festpflöcken.«

»Bei Damenlackschuhen geht das nich'!« erwiderte Pelle sehr bestimmt.

»Verdammt und verflucht, das geht! Wir putzen den Boden mit schwarzem Wachs über!«

Aber als das Schwarze abgetreten war, kamen Fräulein Lund und die andern und waren böse. Sie waren nicht daran gewöhnt, mit gepflöckten Schuhen zu gehen. »Das is ein Mißverständnis!« sagte der junge Meister, der klare Schweiß stand ihm auf der Stirn. Oder auch er versteckte sich und überließ es Pelle. Wenn es dann überstanden war, keuchte er vor Ermattung und langte nach dem Bord hinauf. »Kannst du mir nich' was schaffen, Pelle?« flüsterte er.

Eines Tages, als sie allein waren, faßte Pelle Mut und sagte, es sei gewiß nicht gesund mit all dem Spiritus, der Meister brauche ja so viel.

»Gesund?« sagte der Meister, »nein, weiß Gott, es is nich' gesund! aber die Viecher fordern es ja! Anfangs konnte ich das Gesöff nich' 'runterkriegen, namentlich kein Bier, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Wenn ich sie nich' fütterte, würden sie bald über mich selbst herstürzen und drauflosfressen.«

»Verzehren sie es denn?«

»Na und ob! – So viel, wie du nur auf sie 'runtergießen willst. Oder hast du mich jemals berauscht gesehen? Ich kann gar nich' betrunken werden, die Tuberkeln nehmen das Ganze. – Und für die is es das reine Gift. An dem Tage, wo ich wieder betrunken werden kann, will ich Gott danken, denn dann sind die Biester krepiert, und der Spiritus kann wieder auf mich losgehen. Dann handelt es sich nur darum, wieder aufzuhalten, sonst geht der Verstand zum Deubel!« – –

Die Kost wurde noch schmäler, seit der Geselle weg war. Meisters hatten kein Geld gehabt im Frühling, um ein Ferkel zu kaufen. So war niemand da, der den Abfall bekommen konnte. Nun mußten sie alles selbst aufessen. Meister Andres war nie bei Tisch. Er nahm fast keine Nahrung mehr zu sich; ein paar Stück Butterbrot hin und wieder, das war alles. Das Frühstück um halb acht aßen sie allein. Es bestand aus Salzheringen, Brot mit Schweineschmalz und Suppe. Die Suppe war aus allerlei Brot- und Grützresten mit einem Zusatz von Dünnbier gemacht. Sie war gegoren und ungenießbar. Was von einem Frühstück übrigblieb, kam in eine große Kruke, die in einer Ecke in der Küche an der Erde stand, und wurde am nächsten Tage mit ein wenig Zusatz von frischem Bier wieder aufgewärmt. So ging es das ganze Jahr. Der Inhalt wurde nur erneuert, wenn irgendeiner gegen die Kruke stieß, so daß sie zerbrach. Die Jungen hielten sich an den Hering und das Schmalz, die Suppe benutzten sie nur, um darin herumzufischen. Sie machten sich einen Spaß daraus, irgendeinen Gegenstand hineinzuwerfen und ihn nach einem halben Jahr wiederzufinden.

Jeppe lag noch im Alkoven und schlief, die Nachtmütze war schief über das eine Auge geschoben. Im Schlaf hatte er noch immer einen komischen Zug von Selbstgefühl. Die Stube war dick von Dünsten, der Alte holte auf eigene Weise Luft, atmete mit einem langen Schnarchen ein und ließ es rummelnd durch sich hindurchlaufen. Wurde es zu arg, so machten die Jungen Lärm, dann erwachte er und schimpfte.

Heiß sehnten sie sich nach dem Mittagessen; sobald Jeppe sein »Essen!« zur Tür hineingerufen hatte, warfen sie alles hin, ordneten sich nach dem Alter und tummelten hinter ihm drein. Sie hielten einander hinten an den Jacken fest und machten stumme Grimassen. Oben am Tischende thronte Jeppe, ein Käppchen auf dem Kopfe, bemüht, stramme Tischsitte zu halten. Niemand durfte vor ihm anfangen oder fortfahren, wenn er aufgehört hatte. Dann griffen sie nach dem Löffel, legten ihn mit einem entsetzten Blick auf den Alten wieder hin und waren nahe daran, vor verhaltenem Lachen zu vergehen. »Ja, ich bin heute sehr hungrig, aber daran braucht ihr euch ja nich' zu kehren!« pflegte er sie zu warnen, wenn sie so recht im Gang waren. Pelle blinzelte den andern zu, und sie fuhren fort zu essen, leerten eine Schüssel nach der andern und fuhren fort. »Es gibt keinen Respekt mehr!« brüllte Jeppe und schlug auf den Tisch. Aber wenn er aufstieß, fuhr die Disziplin plötzlich in sie hinein, und sie stießen alle der Reihe nach auf. Meister Andres mußte sich zuweilen etwas im Zimmer zu schaffen machen, wenn es zu arg wurde.

Die lange Arbeitszeit, die schlappe Kost und die schlechte Werkstattluft hinterließen ihre Spuren bei Pelle. Seine Hingebung für Meister Andres war ohne Grenzen; er konnte bis Mitternacht dasitzen und ohne Vergütung arbeiten, wenn irgend etwas fertigzustellen versprochen war. Im übrigen aber glitt er unmerklich in den Schlendrian der andern hinein und bekam ihre Auffassung von dem Tage als etwas endlos Garstigem, über das hinwegzukommen man sich bemühen mußte. Es war physisch notwendig, mit halber Kraft zu arbeiten, und er wurde träge in den einzelnen Bewegungen, überhaupt weniger entschlossen zu handeln, mehr grübelnd. Das Halbdunkel in der sonnenverlassenen Werkstatt bleichte seine Haut und erfüllte ihn mit ungesunden Phantasien.

Für eigene Rechnung verdiente er nicht viel; aber er hatte gelernt, mit wenigem hauszuhalten. Jedesmal, wenn er ein Zehnörestück erwischen konnte, kaufte er eine Sparmarke dafür und konnte auf diese Weise die Schillinge zusammenhalten, so daß eine kleine Summe daraus wurde; und hin und wieder erhielt er auch ein wenig Unterstützung von Lasse, dem es übrigens schwerer und schwerer wurde, etwas zu entbehren. Und im übrigen hatte er gelernt, sich bei seiner Arbeit zu beruhigen.


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