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Zweites Buch


I

Ein so geringer Zufall wie der, daß der alte Klaus Hermann gerade mit seinem Mistwagen nach der Stadt hineinrummelte, um Dünger zu holen, an jenem hochluftigen Maientag, an dem sich Pelle aus dem Nest stürzte, ward entscheidend für die Lebensstellung des Jungen. Mehr konnte nicht spendiert werden für die Frage: Was soll Pelle werden?

Er selbst hatte sie sich gar nicht gestellt, er zog bloß von dannen in den Tag hinein, den Sinn der lichten Welt geöffnet. Das, was er werden wollte, wenn er da hinaus gelangte, das war etwas so Unbegreifliches, daß es geradzu Torheit war zu raten. Deshalb ging er nur fürbaß.

Jetzt war er an das äußerste Ende des Höhenzuges gelangt. Er lag im Graben und verschnaufte nach der langen Wanderung, müde und hungrig, aber in vorzüglicher Laune. Da unten vor seinen Füßen, nur eine halbe Meile entfernt, lag die Stadt und schimmerte festlich, aus den Hunderten von Herdstätten schlängelte sich der Mittagsrauch in die blaue Luft hinauf, die roten Dächer lachten schelmisch dem Tag in das vergnügte Gesicht. Pelle machte sich gleich daran, die Häuser zu zählen, er hatte sie nur auf eine Million veranschlagt, um nicht zu übertreiben, und war schon bis über hundert gekommen.

Mitten im Zählen sprang er ab – was sie da unten wohl zu Mittag bekamen? Sie lebten sicher gut, die da! Ob es fein war, weiterzuessen, bis man ganz satt war, oder legte man den Löffel auf halbem Wege hin – so wie Gutsbesitzers, wenn sie zu einem Festschmaus waren? Für einen, der immer Hunger hatte, war das eine sehr ernste Frage. Es herrschte starker Verkehr auf der Landstraße, fahrend und gehend zogen sie vorüber, Leute mit der Kiste hinten auf dem Wagen, und andere, die ihr Hab und Gut in einem Sack auf dem Nacken trugen, ganz wie er. Pelle kannte einige von ihnen und nickte wohlwollend; von ihnen allen wußte er Bescheid. Es waren Leute, die in die Stadt wollten – in seine Stadt. Einige wollten weiter fort über das Meer – nach Amerika, oder hinüber, um dem König zu dienen; man konnte das an der Ausstaffierung und an den erstarrten Gesichtern sehen. Andere wollten nur hinein, um den Lohn klein zu machen und Umziehtag zu feiern – sie kamen trällernd in ganzen Haufen, mit freien Händen und ausgelassener Laune. Aber die Eigentlichen, das waren solche, die die Kiste auf einer Schubkarre hatten oder sie an beiden Griffen schleppten. Sie hatten gerötete Wangen und waren fieberhaft in ihren Bewegungen; das waren Leute, die sich von dem Lande und der gewohnten Lebensweise losgesagt und die Stadt gewählt hatten, so wie er selbst.

Da kam ein Häusler mit einer kleinen grünen Kiste auf der Schubkarre, breit im Boden war sie und von ihm selbst mit niedlichen Blumen bemalt. Neben ihm ging die Tochter, sie hatte heiße Wangen, und ihre Augen waren in das Unbekannte hinaus gerichtet. Der Vater sprach, aber sie sah nicht so aus, als höre sie es. »Ja, nun übernimmst du denn die Verantwortung über dich selbst, denke daran und wirf dich nicht weg; die Stadt ist ganz gut für jemand, der vorwärts will und auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist; aber sie nimmt es nicht so genau damit, ob was niedergetreten wird. – Sei auch nicht zu vertrauensselig, die da drinnen sind sehr erfahren in der Verführungskunst. – Aber sanft und freundlich mußt du sein!« Sie antwortete nicht; sie war scheinbar mehr davon in Anspruch genommen, die Füße in den neuen Schuhen nicht so zu setzen, daß sie die Absätze schief trat.

Ein Strom ging auch hinaus; am ganzen Vormittag hatte Pelle Schweden getroffen, die am Morgen mit dem Dampfer gekommen waren und draußen auf dem Lande einen Dienst suchten. Es waren alte, abgearbeitete Leute und kleine Jungen, Mädchen so schön wie die blonde Marie und junge Arbeiter, die die Schlagkraft der ganzen Welt in Lenden und Muskeln liegen hatten. Das war das Leben, das von anderwärts herbeiströmte, um den Platz auszufüllen, den die fortziehenden Scharen hinterließen – aber das ging Pelle nichts an. Schon vor sieben Jahren erlebte er alles das, was jetzt ihre Gesichter mit Unruhe erfüllte; die Runde, die sie jetzt begannen, hatte er hinter sich. Da war nichts, das sich des Umsehens verlohnte.

Aber da kam der alte Großknecht von Neuendorf dahergewandert, ganz amerikamäßig ausgerüstet, mit Mantelsack und seidenem Halstuch und die innere Tasche des offenen Rockes von Papieren strotzend. Also hatte er sich endlich entschlossen und reiste der Braut nach, die schon drei Jahre drüben war.

»Hallo!« rief Pelle, »geht's nu los?«

Der Knecht kam heran und setzte den Mantelsack auf den Grabenrand.

»Ja, nu soll es ja losgehen«, sagte er. »Laura will nich' länger auf mich warten. Denn müssen die Alten ja sehen, wie sie ohne Sohn fertig werden; nu hab' ich drei Jahre alles für sie getan. Wenn sie nu man bloß allein fertig werden.«

»Das werden sie schon können,« sagte Pelle erfahren, »und sonst müssen sie sich Hilfe nehmen. Das is keine Zukunft für junge Leute in dem Haus.« Er hatte die Älteren das sagen hören und schlug überlegen mit dem Stock in das Gras.

»Nein, und Laura will auch nich' Häuslerfrau werden. – – Na, denn adjö!« Er reichte Pelle die Hand und versuchte zu lächeln, aber die Züge gingen ihren eigenen Weg, und es kam nur etwas Gequältes dabei heraus. Er stand eine Weile da und sah auf seine Stiefel nieder, der Daumen ging tastend über sein Gesicht, als wolle er das Quälende wegstreichen; dann nahm er den Mantelsack und ging. Es war offenbar nicht weit her mit ihm.

»Ich kann gern das Billett und die Braut für dich übernehmen!« rief Pelle ausgelassen und streckte sich wie ein Erwachsener; er war verteufelt gut aufgelegt.

Den Weg, den Pelles eigenes Blut wies, wanderte heute Allewelt – jeder Bursche mit ein wenig Muck im Leibe, jede Dirne, die gut aussah. Der Weg war auch nicht einen Augenblick frei von Verkehr, es war wie ein großer Aufbruch – fort von den Stätten, wo ein jeder sich verurteilt wußte, genau auf dem Fleck zu sterben, wo er geboren wurde – hinaus in die spannende Ungewißheit. Die kleinen Ziegelsteinhäuser, die über dem Stadtanger zerstreut lagen oder in zwei einfachen Reihen aufmarschiert standen, da wo die Landstraßen in die Stadt hineinliefen – das waren die kleinen Hütten des Bauernlandes, die sich von allem da draußen losgesagt und sich in städtische Gewänder gekleidet hatten und hinabgewandert waren. Und unten am Strande standen die Häuser in Haufen zusammengequetscht um die Kirche; es war nicht dazwischen durchzufinden, so drängten sie darauflos. Das waren die Scharen, die sich auf der Wanderung befanden, getrieben von ihrer Sehnsucht in die Ferne – und dann hatte das Meer ihnen ein Ziel gesetzt.

Pelle selbst hatte nicht die Absicht, sich von irgend etwas ein Ziel setzen zu lassen. Vielleicht fand er keinen Gefallen an der Stadt, sondern ging zu See. Und dann eines Tages traf er eine Küste, die ihm gefiel, stieg an Land und legte sich auf die Goldgräberei. Da draußen gingen die Mädchen ja splitternackend und verhüllten ihre Scham mit blauen Tätowierungen; aber Pelle, der hatte daheim seine Braut sitzen, die treu auf ihn wartete. Sie war noch schöner als Bodil und die blonde Marie zusammen, und ein ganzer Schwarm folgte ihren Fußspuren, aber sie saß getreulich da und sang die Liebesklage:

»Ich hatt' einen Schatz, und der verschwand,
Er fuhr über das falsche Meer,
Drei Jahre ist es her, daß ich mit ihm sprach,
Und er schreibt mir auch gar nicht mehr!«

Und während sie so sang, kam der Brief zur Türe herein. Aber aus jedem Brief, den Lasse bekam, fiel ein Zehnkronenschein heraus; und eines Tages waren da Dampferbilletts für alle beide. Da taugten die Lieder nicht mehr, denn darin kamen sie immer auf der Überfahrt um, und der arme Jüngling stand den Rest seiner Tage am Strande und spähte in der Finsternis des Wahnsinns nach jedem schwellenden Segler aus. Aber Lasse und sie kamen richtig an – nach vielen Beschwerlichkeiten, versteht sich – und Pelle stand am Strande und nahm sie in Empfang. Er hatte sich als Wilder verkleidet und tat, als wolle er sie fressen, ehe er sich zu erkennen gab.

Hopsa! Pelle stand auf seinen Beinen. Oben vom Wege her tönte ein Rasseln, als ob mindestens tausend Sensen in Streit geraten seien, und ein Bretterwagen wackelte langsam auf ihn zu, von zwei Heidekracken gezogen, wie er sie elender noch niemals gesehen hatte. Auf dem Sitzbrett saß ein alter Bauersmann und baumelte ebenso zum Fallen bereit wie all das Übrige. Ob es der Wagen selber war oder die zwei knochengefüllten Häute davor, was einen so gewaltigen Spektakel aus dem Schrittgang machte, das wußte Pelle nicht sogleich. Aber als das Fuhrwerk endlich bis zu ihm hinabgelangt war und der alte Bauer anhielt, konnte er der Einladung aufzusitzen nicht widerstehen. Seine Schulter schmerzte noch von dem Sack.

»Du willst am Ende nach der Stadt?« sagte der alte Klaus und wies auf seine Habseligkeiten.

Nach der Stadt, ja! Das war ein Griff gerade in Pelles überfülltes Herz hinein, und ehe er sich's versah, hatte er sich und seine ganze stolze Zukunft dem alten Bauer ausgeliefert.

»Na ja – ja woll auch – ja natürlich!« fiel Klaus nickend ein, während Pelle vorwärts schritt. – »Ja, das versteht sich! Weniger kann's ja nich' tun – Und was hast du dir denn gedacht, was zuletzt aus dir werden soll – Landrat oder König?« Er sah langsam auf – »Ja, in die Stadt, ja woll, den Weg nehmen sie ja all', die sich zu was berufen fühlen. Sobald ein junger Windhund Kräfte in den Knochen fühlt oder einen Schilling in der Tasche hat, in die Stadt muß er und es da lassen. Und was kommt denn nachher aus der Stadt? Mist und nichts weiter! Was anderes hab' ich da nie in' Leben auftreiben können, und nu bin ich fünfundsechzig. Aber was nützt all das Reden? Nich' mehr, als daß man den Hintern 'raussteckt und gegen das Wetter anbläst. Es kommt über sie wie das Magenkneifen über die jungen Kälber, und hu, hei, – weg müssen sie – hin und was Großes machen. Nachher, denn kann Klaus Hermann es wieder hinter ihnen her 'rausfahren! Einen Platz haben sie nich', auch keine Verwandtschaft, bei die sie unterkommen können; aber was Großes is es immer, was auf sie wartet. Denn da in der Stadt, da stehen ja die Betten aufgemacht auf der Straße, und die Rinnsteine fließen über von Essen und von Geld. – Oder was hast du dir denn gedacht? Laß uns das mal hören.«

Pelle wurde dunkelrot. Er war noch nicht bis zum Anfang gelangt und wurde schon dabei ertappt, daß er sich wie ein Rindvieh aufführte.

»Na ja, ja,« sagte Klaus gutmütig – »du bist ja kein größerer Narr als all' die anderen. Aber wenn du auf meinen Rat hören willst, denn geh' bei Schuster Jeppe Kofod in die Lehre; ich will gerade zu ihm hin und Mist abholen, und ich weiß, daß er einen Lehrling sucht. Dann brauchst du nich' im ungewissen 'rumzuzappeln, und du wirst gleich vor die Tür gefahren wie 'ne Herrschaft.«

Pelle zuckte zusammen – nie im Leben hatte er sich es einfallen lassen, daß er Schuster werden wollte. Selbst draußen auf dem Lande, wo man doch zu den Handwerkern aufsah, hieß es immer, wenn ein Junge nicht recht gedeihen wollte: Ach was, ein Schuster oder ein Schneider kann immer noch aus ihm werden! Aber Pelle war kein Krüppel, der eine sitzende Lebensweise wählen mußte, um durchzukommen – er hatte Kräfte und den guten Wuchs. Was er werden würde – ja, das lag in den guten Händen des Glücks; aber so viel hatte er im Gefühl, daß es etwas Flottes sein sollte, etwas, wo Schneid drin war. Und er war sich auf alle Fälle gründlich klar darüber, was er nicht werden wollte.

Aber als sie durch die Stadt rollten und Pelle – zuvorkommend gegen die große Welt – die Mütze vor jedem abnahm, ohne daß irgend jemand wiedergrüßte, sank sein Mut, und ein Gefühl der eigenen Unbedeutendheit beschlich ihn. Das elende Fuhrwerk, auf das die Kleinstädter lachend mit den Fingern zeigten, trug wohl auch das Seine dazu bei.

»Vor solchem Pack die Mütze abzunehmen,« brummte Klaus, »sieh doch bloß, wie aufgeblasen sie sich anstellen, und dabei haben sie doch alles, was sie haben, von uns anderen gestohlen. Oder was meinst du – kannst du sehen, ob sie die Sommersaat schon in die Erde haben?« Er starrte höhnisch die Straße hinab.

Nein, auf dem Steinpflaster wuchs nichts, und alle diese kleinen Häuser, die dalagen und sich gegenseitig aus der Reihe zu drücken schienen, benahmen Pelle allmählich den Atem. Hier waren die Menschen zu Tausenden, wenn das überhaupt verschlug, und alles blinde Zutrauen mußte der einfachen Frage weichen, wo sie ihre Nahrung herbekamen. Damit war er wieder daheim in seiner bekannten, armseligen Welt, wo kein Rausch auch nur zur Anschaffung von ein Paar Socken verschlug. Er wurde auf einmal so herzlich demütig und erkannte, daß es schwer genug für ihn halten konnte, sein täglich Brot hier zwischen diesen Steinen zu finden, wo man es nicht auf natürliche Weise aus dem Erdboden aufzog, sondern es – ja, wie bekam?

Die Straßen waren voll von Dienstboten. Die Mädchen standen in Haufen da, sich um die Taille fassend, und starrten mit brennenden Blicken die ausgestellten Baumwollstoffe an; sie wiegten sich leise hin und her, als träumten sie. Ein rotfleckiger Dienstbursche in Pelles Alter ging mitten auf der Straße und fraß an einem großen Weizenbrot, das er mit beiden Händen hielt; seine Ohren waren voll Schorf und die Hände dick von Kälte. Bauernknechte kamen mit einem roten Bündel in der Hand dahergeschleppt, der Überzieher schlug ihnen gegen die Waden. Sie blieben plötzlich an einer Straßenecke stehen und sahen sich vorsichtig um und schossen dann eine Seitenstraße hinab.

Draußen vor den Läden gingen die Kaufleute barhäuptig auf und nieder, wenn jemand vor ihren Fenstern stehen blieb, luden sie ihn mit den höflichsten Wendungen ein, näherzutreten – und blinzelten einander verstohlen über die Straße hinüber zu.

»Heut haben die Kaufleute ihre Waren wohl ordentlich ausgelegt«, meinte Pelle.

Klaus nickte. »Ja, ja, heut haben sie all' das 'rausgekriegt, was sie sonst nich' loswerden können. – Denn heut sind die Dummbeutel zu Markt gekommen. Das da unten, das sind die Schenkwirte«, er zeigte in die Seitenstraßen hinein. »Die sehen so sehnsuchtsvoll nach hier 'rauf, aber an die kommt die Reihe auch noch. Wart' man bis heut abend, und denn geh' mal herum und frag' die verschiedenen, wieviel sie noch von dem vorjährigen Lohn übrig haben. Ja, die Stadt is 'ne herrliche Gegend – pfui Deubel!« Klaus spie angeekelt aus.

Pelle hatte seinen ganzen, blinden Mut zugesetzt. Er sah ja nicht einen, der das tat, womit er sich selbst sein Brot verdienen konnte. Und wie gern er auch mit zu dieser neuen Welt gehört hätte, – sich in etwas hineinzuwagen, wo er, vielleicht ohne es zu wissen, mit dabei war, seinen alten Genossen das Zeug vom Leibe zu reißen, das konnte er nicht. All seiner Tüchtigkeit entkleidet, und mit einem jämmerlichen Gefühl, daß selbst sein einziger Reichtum, die Hände, hier drinnen wertlos waren, ließ er sich willenlos mit hinaus zu Meister Jeppe Kofods Werkstatt rummeln.


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