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XI

Im Garten des Schiffers war es öde, Bäume und Büsche waren entblättert; man konnte von der Werkstatt aus quer durch alles hindurchsehen, über andere Gärten hinweg, bis ganz hinüber zu der Hinterseite der Häuser in der Oststraße. Da war kein Spiel mehr, die Gartensteige lagen im Frost und Schneeschlamm da, die Korallenblöcke und großen Muscheln, die mit ihrem Rosenmund und ihren Fischzähnen so mannigfaltig von den großen Meeren sangen, waren des Frostes halber hineingenommen.

Manna sah er oft genug. Sie kam in die Werkstatt hereingestürzt mit der Schultasche oder den Schlittschuhen; es war ein Knopf abgerissen, oder die Schlittschuhe hatten einen Absatz losgewrickt. Es saß frischer Wind in ihrem Haar und in ihren Wangen, die Kälte machte sie erglühen. »Da is Blut!« sagte der junge Meister und sah sich ganz froh an ihr; er lachte und trieb Kurzweil, wenn sie kam. Aber Manna hielt sich an Pelles Schulter und warf ihren Fuß in seinen Schoß, damit er zuknöpfen sollte. Zuweilen kniff sie ihn auch heimlich und sah wütend aus – sie war eifersüchtig auf Morten. Aber Pelle verstand nichts, Mortens kluger, sanfter Sinn hatte ihn ganz unter sich gebeugt und die Leitung übernommen. Pelle war ein unglücklicher Mensch, wenn er eine Stunde zu seiner Verfügung hatte und Morten nicht da war. Dann lief er, die Zunge aus dem Halse heraus, um ihn zu suchen; alles andere war ihm gleichgültig.

Eines Sonntags vormittags, als er Schnee im Hofe fegte, waren sie da drüben; sie machten einen Schneemann.

»Ach, Pelle!« riefen sie und klatschten in die Fausthandschuhe – »komm doch mal 'rüber! Du kannst uns helfen, eine Schneehütte zu bauen. Wir mauern die Tür zu und zünden Tannenbaumlichter an – wir haben Stummel. Ach, komm doch!«

»Denn soll Morten auch mit dabei sein – er muß gleich kommen!«

Manna rümpfte die Nase: »Nein, Morten wollen wir nicht hier haben!«

»Warum nich'? Er is doch so nett«, fragte Pelle verletzt.

»Ja, aber sein Vater ist so scheußlich – alle Leute sind bange vor ihm. Und er hat auch im Loch gesessen.«

»Ja, wegen Prügelei – das is doch nich' so gefährlich! Das hat mein Vater auch getan, als er noch jung war; das schadet nichts wenn es bloß nicht wegen Diebstahl is!«

Aber Manna sah ihn mit einem Ausdruck an, genau so wie Jeppe, wenn er jemanden von seinem Bürgergeist aus richtete. »Aber Pelle! schämst du dich denn gar nicht? So denken nur die Allerärmsten, die gar kein Schamgefühl haben!«

Pelle errötete über seine eigene ordinäre Denkweise. »Morten kann doch nichts dafür, daß sein Vater so is!« wandte er sehr zahm ein.

»Nein, wir wollen Morten nicht hier haben – Mutter will es auch nicht. Sie sagt, mit dir kann es allenfalls gehen, aber dann auch nicht mehr. Wir gehören zu den Feinen«, fügte sie erklärend hinzu.

»Mein Vater hat ein großes Gehöft – das ist doch woll ebenso viel wert wie so 'ne verfaulte Schute«, sagte Pelle hochmütig.

»Vaters Schiff ist gar nicht verfault«, entgegnete Manna gekränkt. »Es ist das beste hier aus dem Hafen, und es hat drei Masten.«

»Du bist aber doch man 'ne lumpige Dirn!« Pelle spie über den Zaun hinüber.

»Ja, aber du bist ein Schwede!« Manna blinzelte triumphierend mit den Augen, Dolores und Aïna standen hinter ihr und steckten die Zungen aus.

Pelle hatte große Lust, über die Gartenmauer zu springen und sie durchzuprügeln; aber da fing Jeppes Alte aus der Küche heraus an zu zetern, und er ging an seine Arbeit.


Jetzt nach Weihnachten war gar nichts zu tun, die Leute verschlissen das Oberleder oder gingen in Holzschuhen. Der kleine Nikas war selten in der Werkstatt, er kam zu den Mahlzeiten und ging wieder, hatte immer seine guten Kleider an. »Der verdient sein täglich Brot leicht«, sagte Jeppe. »Da drüben, da futtern sie ihre Leute nicht den Winter über durch; sobald nichts mehr zu tun is, geben sie ihnen einen Fußtritt.«

Mehrmals am Tage wurde Pelle auf einen Rundgang durch den Hafen geschickt, um die Schiffe abzusuchen. Die Meister standen da unten in ihren Schurzfellen und sprachen über Seewesen oder liefen zueinander vor die Haustüren, um zu plaudern; sie hatten aus alter Gewohnheit ein Stück Werkzeug in der Hand.

Überall nagte man Hungerpfoten, die »Heiligen« hielten jeden Tag Versammlungen ab, die Leute hatten Zeit genug zu kommen. Nun hatte die Stadt so recht Gelegenheit, zu zeigen, wie leicht sie gegründet war; es war nicht so wie draußen auf dem Lande, wo man sich gütlich tun konnte in dem Bewußtsein, daß die Erde für einen arbeitete. Hier machten sich alle so klein und verzehrten so wenig wie möglich, um sich durch die tote Zeit hindurchzudrücken.

In den Werkstätten saßen die Lehrlinge und hämmerten billiges Schuhzeug auf Lager zusammen, jeden Frühling befrachteten die Schuster gemeinsam eine Schute und schickten Schuhzeug nach Island – das half immer eine Strecke weiter. »Ohrfeigt nur drauflos!« mußte der Meister immer wieder von neuem wiederholen – »wir kriegen nich' viel dafür.«

Mit dem Stillstand tauchten ernste Fragen auf. Viele Arbeiter standen schon dem Elend gegenüber, und es hieß, dem Armenwesen würde es schwer werden, allen, die um Unterstützung einkamen, Hilfe zu gewähren. Die Wohltätigkeit war in voller Wirksamkeit. »Und dabei is das gar nichts gegen da drüben. Da soll die Arbeitslosigkeit nach Zehntausenden zählen, hab' ich gehört«, sagte Bäcker Jörgen.

»Wovon die denn woll leben mögen, all die Tausend Ärmsten, wenn die Arbeitslosigkeit so groß is?« sagte Bjerregrav. »Es kann schon schlimm genug sein mit der Not hier in der Stadt, wo doch jeder Meister für das tägliche Brot von seinen Leuten sorgt!«

»Hier leidet keiner Not, wenn er nich' selbst will«, sagte Jeppe. »Wir haben ein gut organisiertes Armenwesen.«

»Du bist wohl Sozialdemokrat geworden, du, Jeppe,« sagte Bäcker Jörgen – »du willst die ganze Geschichte dem Armenwesen aufhalsen!«

Holzbein-Larsen lachte: das war eine neue Auslegung.

»Ja, was woll'n sie denn eigentlich – Denn Freimaurer sind sie ja nich'. Es heißt, daß die da drüben den Kopf wieder herausstecken.«

»Ach, das is woll so was, was mit der Arbeitslosigkeit kommt und geht«, sagte Jeppe. »Etwas müssen die Leute ja vornehmen. Vorigen Winter kam ein Sohn von Segelmachers nach Haus – der war es woll so im geheimen. Aber die Eltern haben es nie eingestehen wollen, und er selbst war ja so klug, daß er sich wieder da 'rauszog.«

»Wär' er mein Sohn, so hält' er 'ne Tracht Prügel besehen!« sagte Jörgen.

»Ob das nich' solche sind, die sich auf das Tausendjährige Reich vorbereiten – von der Sorte haben wir ja auch einige?« sagte Bjerregrav bescheiden.

»Meinst du die armen Tröpfe, die an den Uhrmacher mit seiner neuen Zeit glauben? Ja, das kann ja gern sein«, sagte Jeppe höhnisch. »Aber ich hab' gehört, es soll so viel Schlechtes in ihnen sein. Es is wohl eher der Antichrist, von dem die Bibel ja auch weissagt.«

»Ja, aber was woll'n sie denn eigentlich?« fragte Jörgen. »Worauf geht ihre Verrücktheit denn eigentlich 'raus?«

»Was sie woll'n?« Holzbein-Larsen nahm sich zusammen. »Ich bin mit einer Menge von Leuten zusammen gewesen – soweit ich es verstehen kann, woll'n sie das Recht haben, der Krone das Geldmachen wegzunehmen und es an jedermann zu geben. Und das Ganze woll'n sie umstürzen, das is ganz sicher.«

»Na,« sagte Meister Andres, »das, was sie wollen, is, glaube ich, ganz gut – aber sie erreichen es nur nie. Ich weiß ja auch ein wenig Bescheid darüber durch Garibaldi.«

»Aber was woll'n sie denn, wenn sie die Welt nich' umstürzen woll'n?«

»Was sie woll'n? – Ja, was wollen sie – daß alle gleich viel haben sollen?« Meister Andres war unsicher.

»Denn sollt' also der Schiffsjunge ebensoviel haben wie der Kapten, nee, zum Teufel auch noch mal!« Der Bäcker schlug sich auf die Schenkel und lachte.

»Den König woll'n sie nu auch abschaffen«, sagte Holzbein-Larsen eifrig.

»Wer zum Kuckuck soll uns denn regieren – denn käme der Deutsche woll gleich angelaufen. – Das is denn doch das schlimmste, daß dänische Leute ihr eigenes Land dem Feinde ausliefern wollen! Ich wundere mich bloß, warum man die nich' ohne Gesetz und Urteil niederschießt! Hier auf Bornholm gewinnen sie doch nie Einlaß.«

»Das kann man gar nich' wissen!« Der junge Meister lachte.

»Zum Deubel auch – wir stell'n uns alle am Strand auf und knallen auf sie los: lebendig soll'n sie nie an Land!«

»Und denn is das Ganze woll so 'n armseliges Gesindel«, sagte Jeppe. »Ich möcht' woll wissen, ob da auch bloß ein ordentlicher Bürger zwischen is.«

»Natürlich sind es immer die Armen, die über das Elend klagen,« sagte Bjerregrav – »darum hat die Sache auch nie ein Ende.«

Bäcker Jörgen war der einzige, der was zu tun hatte – es mußte schlimm kommen, wenn die Leute kein Schwarzbrot mehr kauften. Er hatte fast mehr als sonst zu tun; je mehr die Leute an Fleisch und Belag abknappsten, um so mehr Brot aßen sie. Oft lieh er sich Jeppes Lehrlinge, damit sie ihm beim Teigkneten helfen sollten.

Aber guter Laune war er nicht. Da war ein ewiges Geschimpf auf Sören bei offenen Türen, weil dieser nicht an seine junge, dralle Frau 'ranwollte. Der alte Jörgen hatte ihn mit eigenen Händen genommen und zu ihr ins Bett gepackt, aber Sören weinte sich von der ganzen Sache weg und zitterte wie ein neugeborenes Kalb.

»Ob er am Ende verhext is?« fragte der Alte Meister Andres.

»Jung und hübsch is sie, da is auch nich' das geringste an ihr auszusetzen – und wir haben ihn den ganzen Winter mit Eiern gefüttert. Sie muß nu 'rumgehen und den Kopf hängen lassen und kriegt keinen Besuch von ihm. Marie, Sören – ruf ich, um Leben in sie 'reinzubringen – er sott akkurat solch Deubel werden, wie ich gewesen bin, hört ihr! Sie lacht und wird rot, aber Sören, der verkriecht sich bloß. Eine wahre Schande is es, so niedlich, wie sie in jeder Beziehung is – das hätt' man in meinen jungen Tagen sein soll'n, du!«

»Ihr seid ja noch jung genug, Oheim Jörgen!« lachte Meister Andres.

»Ja, beinah könnt' man dazu kommen – wenn man so mit ansehen muß, was für ein großes Unrecht vor den eigenen Augen begangen wird. Denn siehst du, Andres, ich bin woll ein Schweinigel in bezug auf so allerlei gewesen – aber ein munterer Bursch, der bin ich auch gewesen; die Leute mochten immer gern mit mir zusammen an Bord sein. Und Kräfte hab' ich auch gehabt zum Saufen, zu einem Mächen und zu harter Arbeit bei bösem Wetter. Das Leben, das ich geführt hab', is gar nich' übel gewesen – ich würd' es gleich noch einmal wieder durchmachen. Aber Sören, was is das für ein verirrter Jammerlappen, der nich' wieder 'reinfinden kann. – Wenn du mal mit ihm schnacken wollest – du hast ja Macht über ihn.«

»Ich will es gern versuchen.«

»Danke – aber hör' mal, ich glaub', ich bin dir noch Geld schuldig.« Jörgen nahm zehn Kronen und legte sie auf den Tisch, indem er ging.

»Pelle, du Teufelsjunge, kannst du eine Besorgung für mich machen?« Der junge Meister hinkte in die Zuschneidekammer, Pelle folgte ihm auf den Fersen.

Hundertmal war der Meister in der Haustür, lief aber gleich wieder hinein – er konnte die Kälte nicht vertragen. In seinem Blick träumten andere Länder mit milderer Witterung, er sprach von seinen beiden Brüdern, von denen der eine drüben in Südamerika verschollen war – wohl gemordet. Aber der andere war in Australien und hütete Schafe; er verdiente mehr damit, als der Stadtrichter an Gehalt hatte – und war der tüchtigste Boxer im Umkreis. Dann verschlang der Meister die blutlosen Hände ineinander und ließ sie geballt auf Pelles Rücken niederfallen. »Das nennt man Boxen«, sagte er überlegen. »Bruder Martin kann einen Mann mit einem Schlag zum Krüppel schlagen. Er wird dafür bezahlt – pfui Kuckuck!« Der Meister schauderte. Der Bruder hatte sich mehrmals erboten, ihm eine Fahrkarte zu schicken – aber das verdammte Bein. »Willst du mir sagen, was ich da drüben anfangen soll – willst du mir das sagen, Pelle!«

Pelle mußte täglich Bücher von der Leihbibliothek holen und lernte bald, welche Schriftsteller die spannendsten waren. Er versuchte auch selbst zu lesen, konnte aber nicht damit zurechtkommen; es war amüsanter, bei der Schlittschuhbahn zu stehen und zu frieren, und zuzusehen, wie die andern über das Eis hinjagten. Aber von Morten ließ er sich spannende Bücher nennen und brachte sie dem Meister, so den »fliegenden Holländer«. – »Das is ein Dichterwerk – Herr du meines Lebens!« sagte der Meister und erzählte Bjerregrav den Inhalt wieder, den dieser für Wirklichkeit nahm.

»Du hätt'st Anteil an der großen Welt haben soll'n, du, Andres – ich für mein Teil tue am besten, hier in der Heimat zu bleiben. Aber dir is es vergönnt – das sag' ich!«

»Die große Welt!« – sagte der Meister höhnisch. Da er nicht teil daran haben konnte, war sie ihm nicht groß genug. »Wenn ich auszöge, wollte ich den Eingang in das Innere der Erde suchen – auf Island soll es solche Eingänge geben. Spaßig wäre es auch, eine Fahrt auf den Mond zu machen; aber das bleibt wohl eine ewige Lüge.«

Zu Anfang des neuen Jahres kam der verrückte Anker und diktierte dem Meister einen Freierbrief an die älteste Tochter des Königs. »Dies Jahr muß er doch woll antworten«, meinte er grübelnd. »Die Zeit vergeht, und das Glück entschwindet, ohne daß viele teil daran bekommen – wir haben die neue Zeit sehr nötig.«

»Ja, das haben wir«, entgegnete Meister Andres. »Aber wenn nun das Unglück wollte, daß der König nich' will, dann bist du doch woll Manns genug, die Sache allein zu deichseln, Anker!«

Eine flaue Zeit war es, und als es gerade am allerflauesten war, ging Schuster Bohn hin und etablierte sich mit einem Laden am Marktplatz. Er war ein Jahr drüben gewesen und hatte modernen Humbug gelernt: es standen nur ein Paar Stiefel im Ladenfenster, und das waren seine eigenen Sonntagsstiefel. Jeden Montag wurden sie aufgeputzt und wieder hinausgestellt, damit es doch nach was aussehen sollte. Wenn er selbst im Laden war und mit den Leuten redete, saß seine Frau in der Stube dahinter und klopfte auf einen Stiefel, damit es so klingen sollte, als habe er Mannschaft in der Werkstatt.

Aber um Fastnacht bekam Jeppe Arbeit. Meister Andres kam eines Tages ganz aufgeräumt aus Bierhansens Keller nach Hause, er hatte die Bekanntschaft einiger Schauspieler von einer eben ankommenden Truppe gemacht. »Das waren Leute, ja!« sagte er und faßte sich an die Wangen. »Sie reisen beständig von einem Ort zum andern und treten auf – die bekommen die Welt zu sehen!« Er konnte nicht ruhig sitzen.

Am nächsten Vormittag kamen sie lärmend und füllten die Werkstatt mit ohrenbetäubendem Gewirr. »Sohlen und Hinterflecken –« »Hintersohlen, die sich nicht ablösen –« »Ein bißchen Hackwerk und zwei auf die Schnauze!« So fuhren sie fort, sie holten Schuhzeug in großen Mengen unter dem Mantel hervor oder holten es aus grundlosen Taschen heraus – und warfen es in Haufen auf den Fenstertritt, ein jeder mit seiner ulkigen Bemerkung. Schuhzeug nannten sie »Untertanen«, sie drehten und wendeten jedes Wort und ließen es wie einen Ball von Mund zu Munde fliegen, bis kein Körnchen Vernunft mehr darin war.

Die Lehrlinge vergaßen alles und konnten sich kaum halten vor Lachen, der junge Meister sprühte vor Witz – er nahm es mit ihnen allen auf. Jetzt sah man, daß es keine Prahlerei und keine Lügen waren mit dem Glück, das er bei den Damen hatte. Die junge Schauspielerin mit dem Haar wie der hellste Flachs verwandte kein Auge von ihm, obwohl sie offenbar alle die andern am Gängelbande führte; sie machte den Gefährten Zeichen zu, daß sie den großen, prächtigen Schnurrbart des Meisters sehen sollten. Der Meister hatte sein krankes Bein vergessen und den Stock weggeworfen, er lag auf den Knien und nahm ihr Maß zu hohen Stiefeln mit Lackstulpen und Harmonikafalten an den Schäften. Sie hatte ein Loch im Hacken ihres Strumpfes, aber darüber lachte sie; einer von den Schauspielern sagte: »Spiegelei!« und dann lachten sie stürmisch.

Der alte Jeppe kam herausgestürzt, von der Lustigkeit herbeigerufen. Die Blonde nannte ihn Großvater und wollte mit ihm tanzen, und Jeppe vergaß die Würde und lachte mit. »Ja, zu uns kommen sie, wenn sie was haben wollen, was taugt«, sagte er stolz. »Ich hab' auch in Kopenhagen gelernt und bin mit Schuhzeug zu mehr als einem Komödianten gelaufen. Wir hatten für das ganze Theater zu arbeiten; Jungfer Pätges, die später so in die Höhe kam, kriegte ihre ersten Tanzschuhe von uns.«

»Ja, das waren Menschen!« sagte Meister Andres, als sie von dannen brausten – »zum Teufel doch noch mal Menschen.« Jeppe konnte gar nicht begreifen, wie sie ihren Weg hierhergefunden hatten, und Meister Andres klärte ihn nicht darüber auf, daß er im Wirtshaus gewesen war. »Ob Jungfer Pätges sie an mich verwiesen haben sollte?« sagte er und starrte in die Ferne. »Sie muß mich dann auf irgendeine Weise im Auge behalten haben.«

Freibilletts strömten herbei, der junge Meister war jeden Abend im Theater. Pelle bekam jedesmal, wenn er ein Paar Stiefel ablieferte, ein Galeriebillett. Er sollte nichts sagen, aber der Preis stand deutlich mit Kreide unter der Sohle. »Hast du Geld bekommen?« fragte der Meister gespannt, er stand die ganze Zeit auf den Treppenfliesen und wartete. Nein, Pelle sollte vielmals grüßen und sagen, sie kämen selbst und machten das ab. »Na ja, die Art Leute sind sicher genug«, sagte der Meister.

Eines Tages mitten in alledem kam Lasse in die Werkstatt gestapft, ganz wie ein Großbauer, den Pelzkragen über die Ohren gezogen. Er hielt draußen mit einem Sack Kartoffeln; das war ein Geschenk an Meisters, weil der Junge seine Sache so gut lernte. Pelle bekam frei und fuhr mit dem Vater, alle Augenblicke schielte er nach dem Pelzkragen hinüber. Endlich konnte er nicht länger an sich halten, sondern hob ihn untersuchend in die Höhe. Enttäuscht ließ er ihn wieder fallen.

»Ach so, der – hm ja, der is bloß an den Fahrmantel angehakt! Es sieht ja immer nach was aus, und er wärmt die Ohren gut. Du glaubtest also, ich käm' in einem richtigen Pelz angestiegen? Nee, dazu reicht es noch nich', aber das kommt schon! Und ich kann dir mehr als einen Großbauer nennen, der auch nichts weiter hat als dies.«

Ja, ja, ein wenig enttäuscht war Pelle doch. Aber er mußte zugeben, daß kein Unterschied zu sehen war zwischen diesem Mantel hier und einem richtigen Bärenpelz. »Geht es sonst gut?« fragte er.

»Ach ja – nu zurzeit klopf ich Steine. Ich muß zwanzig Klafter klopfen, wenn ich an Teufels Geburtstag (11. Dezember, Abrechnungstag) jedem bezahlen will, was ihm zukommt. Wenn wir man bloß unsere Kräfte und unsere Gesundheit behalten, Karna und ich.«

Sie fuhren zum Kaufmann und stellten die Pferde ein. Pelle fand, daß die Leute beim Kaufmann nicht so eifrig vor Lasse sprangen wie vor den richtigen Bauern; aber Lasse selbst trat ganz großmächtig auf. Er stapfte geradenwegs in das Kontor des Kaufmanns hinein, ganz so wie die andern, stopfte seine Pfeife aus der Tonne und schenkte sich einen Schnaps ein. Ein frischer Luftzug lag über ihm, während er so mit aufgeknöpftem Mantel zum Wagen und wieder zurückging; er trat so fest auf die Pflastersteine auf, als habe er auch Hartkorn in den Stiefelsohlen.

Dann gingen sie zu Dues hinaus, Lasse war neugierig zu sehen, wie es dort ging. »Es is ja nich' so leicht, wenn der eine Teil gleich mit einer Zugabe zu der Liebe ankommt.«

Pelle setzte ihm auseinander, wie die Sachen standen. »Sag' doch an Kalles, daß sie die kleine Marie wieder zu sich nehmen. Anna mißhandelt sie. Sie sind sonst gut vorwärtsgekommen; nu woll'n sie sich Pferde und Wagen kaufen und selbst ein Fuhrmannsgeschäft anfangen.«

»Das is sie woll? Ja, der kommt leicht zu was, der kein Herz hat.« Lasse seufzte.

»Du, Vater,« sagte Pelle plötzlich, »hier is jetzt Theater – und ich kenne alle Schauspieler. Ich bring ihnen ihr Schuhzeug, und sie schenken mir jeden Abend ein Billett. Ich hab' das Ganze gesehen, du!«

»Das sind doch woll Lügen?« Lasse mußte stehen bleiben, um den Ausdruck des Jungen zu erforschen. »Also du bist im richtigen Theater gewesen, du? Ja, wer in der Stadt wohnt, der kann sich beim Teufel dafür bedanken, wenn er klüger is als ein Bauer – hier kann man ja alles haben!«

»Willst du heute abend mit? Ich kann uns Billetts verschaffen.« Lasse kraute sich. An Lust fehlte es ihm nicht – aber dies war ja etwas ganz Ungewöhnliches. Es wurde so geordnet, daß er die Nacht bei Dues schlafen sollte, und am Abend gingen die beiden ins Theater. »Is es hier?« fragte Lasse erstaunt, als sie an einen großen Speicher kamen, vor dem viele Leute standen. Aber inwendig war es fein, sie saßen ganz oben, hinten, wie an einem Hügelrand und sahen auf das Ganze hinab. Tief unten, nach vorne zu, saßen einige Damen, die nackend waren, soweit Lasse sehen konnte. »Das sind woll die Auftretenden?« fragte er.

Pelle lachte: »Nee, das sind ja die feinsten Damen in der Stadt, die Doktorfrau und die Bürgermeisterin und die Frau von Herr Inspektor – und solche Art.«

»Ach, und die sind so fein, daß sie nich' mal Zeug anzuziehen haben!« rief Lasse aus – »das nennen wir bei uns Armut. Aber wo sind denn die, die spielen?«

»Die sitzen da hinter dem Vorhang.«

»Hat es denn schon angefangen?«

»Nee, das kannst du doch sehen – der Vorhang muß doch erst aufgehen!«

Es war ein Loch im Vorhang, ein Finger kam heraus und fing an, sich nach den Zuschauern zu rundherum zu drehen; Lasse lachte. »Verteufelte Komödie!« sagte er und schlug sich auf die Schenkel, als es sich wiederholte.

»Es hat noch gar nich' angefangen«, sagte Pelle nur.

»Na ja«, da dämpfte Lasse seine Laune wieder.

Aber dann fing der Kronleuchter plötzlich an, in das große Loch der Decke hinaufzulaufen; da oben lagen ein paar Jungen auf den Knien und bliesen die Lampen aus. Und der Vorhang ging auf, und da war ein großer heller Saal, in dem sich viele schöne junge Mädchen in den wunderlichsten Kostümen bewegten – und sie sprachen! Lasse war ganz erstaunt, daß er verstehen konnte, was sie sagten, so sonderbar fremd sah das Ganze aus; es war ja wie ein Hineingucken in das Traumland. Aber ganz für sich saß da eine und spann, und das war die Schönste von ihnen allen.

»Das is woll eine sehr feine Dame?« meinte Lasse.

Aber Pelle flüsterte, es sei nur ein armes Waldmädchen, das der Schloßherr geraubt habe und nun zwingen wolle, seine Geliebte zu werden. Nun – alle die andern machten schrecklich viel aus ihr, kämmten ihr goldenes Haar und lagen vor ihr auf den Knien; aber sie sah nur unglücklich aus. Und manchmal wurde es ihr zu traurig, dann öffnete sie die schönen Lippen und ließ ihre Herzenswunde in einem Gesang verbluten, der Lasse so ergriff, daß er tief Atem schöpfen mußte.

Da kam ein großer Mann mit mächtig rotem Bart hineingestampft, Lasse fand, er sei so gekleidet wie jemand, der geradenwegs vom Fastnachtsritt kommt.

»Das is der, der die seinen Stiefel bei uns hat machen lassen,« flüsterte Pelle – »der Schloßherr, der sie verführen will.«

»Pfui Deubel – sieht der eklich aus!« sagte Lasse und spie aus. »Dagegen war der Steinhöfer-Bauer doch ein reines Kind Gottes!« Pelle bedeutete ihn zu schweigen.

Der Schloßherr jagte alle die anderen Frauen hinaus, dann ging er mit Sturmschritten auf und nieder, schielte nach dem Waldmädchen hinüber und kehrte das Weiße aus den Augen heraus. »Na, hast du dich endlich entschlossen?« brüllte er und schnob wie ein wütender Stier. Und plötzlich sprang er auf sie los, um sie mit Gewalt zu nehmen.

Aber die Waldmaid stand aufrecht da, einen blitzenden Dolch in der Hand.

»Ha! Rühr' mich nicht an!« schrie sie – »oder bei dem lebendigen Gott, ich stoße diesen Dolch in mein Herz! Du glaubst, du kannst meine Unschuld kaufen, weil ich arm bin; aber die Ehre des armen Mannes ist nicht für Gold feil.«

»Das war ein wahres Wort!« sagte Lasse laut.

Der Schloßherr aber lachte heimtückisch und zupfte an seinem roten Bart – er rollte das R fürchterlich. »Ist dir mein Anerbieten nicht genug? Wohlan, bleib diese Nacht bei mir, und du sollst ein Gehöft mit zehn Stück Vieh haben, so daß du morgen mit deinem Jäger vor den Altar treten kannst!«

»Halt's Maul, du Hurenbock!« schrie Lasse wütend.

Ringsumher suchte man ihn zu beruhigen, der eine und der andere puffte ihn in die Seite. »Na, hat man nich' mal mehr Erlaubnis, den Mund aufzumachen«, wandte sich Lasse gekränkt an Pelle. »Ich bin kein Paster, aber wenn das Mächen nu doch mal nich' will, soll er sie ruhig gehen lassen. Und ungestraft soll er seine Brunft nich' in Gegenwart von hundert Menschen offenbaren – so ein Schweinigel!« Lasse sprach laut, und es schien, als wenn seine Worte ihre Wirkung auf den Schloßherrn ausübten. Er stand eine Weile da und schielte vor sich hin, dann rief er einen Mann und hieß ihn, das Mädchen wieder in den Wald hinauszuführen.

Lasse atmete erleichtert auf, als der Vorhang fiel und die Jungen da oben im Loch den Kronleuchter mit den Lampen wieder anzündeten und ihn herunterließen. »So weit is sie gut davon abgekommen,« sagte er zu Pelle, »aber ich trau dem Schloßherrn nich' – er is ein Schuft!« Er schwitzte stark, so recht vergnügt schien er nicht zu sein.

Die nächste Welt, die da unten hervorgezaubert wurde, war ein Wald. Wunderschön war er mit Pelargonien auf dem Boden und einem Quell, der aus etwas Grünem hervorquoll. »Das is ein zugedecktes Bierfaß!« flüsterte Pelle, und nun unterschied Lasse auch den Hahn; aber ungeheuer natürlich sah es aus. Ganz im Hintergrund sah man die Ritterburg auf einem Felsen, und im Vordergrund lag ein umgestürzter Baumstamm; zwei grüne Jäger saßen rittlings darüber und schmiedeten böse Pläne. Lasse nickte – er hatte Erfahrung über die Heimtücke der Welt.

Jetzt hörten sie etwas und verkrochen sich hinter dem Baumstamm, wo sie sich verbargen, ein Messer in der Hand. Einen Augenblick war alles still, dann kam die Waldmaid mit ihrem Jäger in größter Unbefangenheit Hand in Hand den Waldpfad hinabgewandert, sie nahmen Abschied am Quell, so herzlich, zärtlich; dann kam er in den Vordergrund geeilt, dem sicheren Tod entgegen.

Das war nicht zum Aushalten. Lasse stand auf. »Paß auf!« rief er gedämpft – »paß auf!« Die hinter ihm Sitzenden zogen ihm am Rock und schimpften. »Nein, zum Teufel auch, dazu schweig' ich nich' auch noch«, sagte Lasse und schlug um sich. Dann streckte er sich ganz vor: »Nimm dich in acht, du! Es gilt dein Leben! Sie liegen hinter dem Baumstamm!«

Der Jäger blieb stehen und starrte hinaus, die beiden Meuchelmörder halten sich erhoben und glotzten, aus den Kulissen kamen männliche und weibliche Schauspieler hervor, sie lachten und starrten zu dem Zuschauerplatz hinüber. Lasse sah ja, daß der Mann gerettet war, aber sonst erging es ihm übel, der Aufseher wollte ihn hinauswerfen. »Ich kann ganz gut selbst gehen,« sagte er – »denn in dieser Gesellschaft is ein ehrlicher Mann wohl überflüssig.« Unten auf der Straße redete er laut mit sich selbst, er war in heller Empörung.

»Es war ja man bloß Komödie«, sagte Pelle ganz kleinlaut, er schämte sich in der Seele seines Vaters.

»Darüber brauchst du mich nich' zu belehren! Ich weiß recht gut, daß das all längst vergangen is und daß ich nichts dabei machen kann, wenn ich mich auch auf den Kopf stellen wollt'. Aber daß sie solche gemeine Handlungen wieder ins Leben rufen wollen! Hätten die anderen so gewollt wie ich, dann hätten wir den Schloßherrn genommen und ihn totgeschlagen, wenn es auch hundert Jahre zu spät gekommen wär'!«

»Ihn – aber das war ja doch der Schauspieler West, der jeden Tag zu uns auf die Werkstatt kommt!«

»So? Schauspieler West – so? Denn bist du woll Schauspieler Dorsch, daß du dir so was vormachen läßt. Ich hab' schon früher Leute getroffen, die die Gabe besessen haben, sich hinfallen zu lassen und längst Verstorbene an ihrer Stelle heraufzubeschwören – wenn auch nich' so leibhaftig wie hier, versteht sich! Wenn du da hinter dem Vorhang gewesen wärst, würdest du gesehen haben, daß West daliegt wie ein Toter, während er, der andere – der Teufel – herumregiert. Ich wollt' mir nu die Gabe nich' wünschen, denn das is gefährliches Spielwerk. Vergessen die andern zum Beispiel das Wort, das West wieder ins Leben zurückrufen soll, so is er fertig, und der andere regiert an seiner Stelle weiter.«

»Das is bloß Aberglaube! Wenn ich nu doch weiß, daß es West is, der Komödie spielt – ich hab' ihn doch gleich wiedergekannt, Vater!«

»Ja, natürlich! Du bist ja immer der Klügste – du wolltst dich woll jeden Tag mit dem Teufel in einen Disput einlassen. Also, das sollt' bloß 'ne Vorstellung sein? – So wie er das Weiße aus den Augen kehrte vor fressender Begier! Du kannst mir glauben, wenn sie das Messer nicht gehabt hätt', denn hätt' er sich über sie gestürzt und seine Lust vor aller Augen gestillt. Denn wenn man längst vergangene Zeiten heraufbeschwört, dann muß die Handlung auch ihren Gang haben, wie viele da auch zusehn. Aber, aber, daß sie so was für Bezahlung tun, pfui Deubel. – Und nu will ich nach Haus.« Lasse ließ sich nichts sagen, sondern ließ anspannen.

»Am besten is es, wenn du da nich' wieder hingehst«, sagte er beim Abschied. »Aber wenn es schon Gewalt über dich gekriegt hat, denn steck' dir wenigstens den Streichstahl in die Tasche. Ja, und denn schicken wir dir deine Wäsche an einem von den ersten Sonnabenden mit Schlachter Jensen mit.« – – –

Pelle ging nach wie vor ins Theater, er hatte seine kluge Auffassung davon, daß das Ganze nur Komödie war. Aber etwas Geheimnisvolles war doch dabei, eine übernatürliche Gabe mußten die Leute besitzen, die Abend für Abend ihr Gewand so total wechseln und ganz in den Menschen hineingehen konnten, den sie spielten. Pelle glaubte, er wolle Schauspieler werden, wenn er erst so weit gekommen war.

Aufsehen erregten sie, wenn sie in den Straßen umherstreiften mit ihren flatternden Kleidern und wunderlichen Kopfbedeckungen, da liefen die Leute an die Fenster, um sie zu sehen, und die Alten spien hinter ihnen drein. Die Stadt war wie ausgetauscht, solange sie da waren. Jeder Sinn hatte eine schiefe Richtung angenommen. Die jungen Mädchen lagen da und schrien im Schlaf und träumten von Entführungen – sie öffneten selbst das Fenster ein klein wenig; und jeder Bursche war bereit, mit der Truppe auf und davon zu gehen. Wer nicht theatertoll war, ging zu christlichen Versammlungen, um das Übel zu bekämpfen.

Und eines Tages verschwanden die Schauspieler, wie sie gekommen waren – und hinterließen eine Menge Schulden. »Teufelspack!« sagte der Meister mit seinem verzagten Ausdruck – »da haben sie uns angeschmiert. Aber prächtige Leute waren es doch, auf ihre Weise! Und die Welt hatten sie gesehen!«

Aber nach der Geschichte konnte er gar nicht wieder warm werden. Er kroch ins Bett und blieb den größten Teil des Monats liegen.


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