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Hu, wie schneidend kalt es war! Pelle befand sich auf dem Wege zur Schule, er warf sich im Zuckeltrab dem Sturm entgegen. Bei dem großen Dornbusch stand Rud und wartete; er schloß sich ihm an, und sie liefen nebeneinander wie zwei ermattete Gäule, schnaubend und mit gesenkten Köpfen. Der Kragen der Jacke war über die Ohren hinaufgezogen, und die Hände schlüpften unter den Hosenbund hinein, um Anteil an der Körperwärme zu haben; Pelles Jackenärmel waren zu kurz, seine Handgelenke waren violett vor Kälte.
Sie sagten nicht viel, sondern liefen nur; der Sturm schnappte ihnen sofort die Worte vom Munde weg und stopfte ihn mit Hagel, es war nicht möglich, Luft genug zum Laufen zu schöpfen oder ein Auge aufzumachen. Jeden Augenblick mußten sie stehen bleiben und den Rücken gegen das Wetter stemmen, während sie die Lungen füllten und warmen Atem über das gefühllose Gesicht hinbliesen. Das Schlimmste war der Übergang, ehe man so recht gegen den Wind anlief und wieder in Tritt kam.
Die drei Viertelmeilen nahmen ein Ende, und die Knaben bogen in das Fischerdorf ein. Hier unten am Strande war es beinahe geschützt, das empörte Meer brach den Wind. Es war nicht viel von der See zu sehen; das, was hier und da aus den Böen hervorguckte, kam wie eine wandernde Mauer und stürzte brüllend zusammen in weißgrünem Strudel. Der Wind riß die Kämme der Wellen in wütendem Rütteln ab und führte salzigen Regen über das Land.
Der Lehrer war nicht gekommen. Oben neben dem Pult stand Nilen, er war damit beschäftigt, es mit einem Nachschlüssel zu öffnen, um einer Pfeife habhaft zu werden, die Fris in der Stunde beschlagnahmt hatte. »Hier ist dein Messer!« rief er und warf Pelle ein Dolchmesser hinüber, das dieser schnell einsteckte. Einige Bauernjungen schütteten Kohlen in den Ofen, der schon im voraus glühend war, an den Fenstern saß eine Schar Mädchen, sie überhörten einander Gesangverse. Draußen brauste das Meer unaufhörlich ans Ufer und brach zusammen; wenn sein Dröhnen einen Augenblick sank, stiegen wilde Knabenstimmen auf. Alle Jungen aus dem ganzen Dorf liefen da draußen am Strande, sie sprangen in die Brandung und wieder heraus, obwohl sie aussah als wolle sie sie zerschellen, und zogen Treibholz an Land.
Pelle war kaum aufgetaut, als Nilen ihn mit hinaustriezte. Die meisten von den Jungen waren klatschnaß, aber sie lachten und dampften vor Eifer. Einer von ihnen hatte das Namenbrett eines Schiffes geborgen – »Die Einfalt« stand da. Sie bildeten einen Kreis darum und ergingen sich in schlagfertigem Ton über die Art und Heimat des Schiffes.
»Denn is das Schiff also untergegangen«, sagte Pelle ernsthaft. Die anderen antworteten nicht, es war zu selbstverständlich.
»Ja,« sagte ein Knabe zögernd, »das Namenbrett kann ja auch von den Wellen abgerissen sein; es is ja nur festgenagelt gewesen.« Sie untersuchten es nochmals sorgfältig – Pelle konnte nichts Besonderes daran entdecken.
»Ich glaub' nu eigentlich, die Mannschaft hat es abgerissen und es in die See geworfen – der eine Nagel is ausgezogen«, sagte Nilen und nickte geheimnisvoll.
»Warum sollten sie das woll tun?« fragte Pelle ungläubig.
»Weil sie den Kapitän totgeschlagen und selbst das Kommando übernommen haben, du Klas! Dann taufen sie ganz einfach die Schute um und segeln als Seeräuber.« Die anderen Jungen bestätigten das mit Augen, die von Abenteurerlust funkelten – der Vater von diesem hatte es erzählt, und der Vater von jenem war sogar mit dabei gewesen. Er hatte ja natürlich nicht gewollt, aber da wurde er ganz einfach an den Mast gebunden, als die Meuterei losging.
An einem Tag wie heute war Pelle der Kleine nach jeder Richtung hin. Das Toben des Meeres bedrückte ihn und machte ihn unsicher; aber die anderen waren so recht in ihrem Fett. Sie bemächtigten sich der ganzen Unheimlichkeit des Meeres und ließen sie übertrieben in ihren Vorstellungen wiederkehren, alle Schrecken der See häuften sie spielend am Strande zusammen: Schiffe, die mit Mann und Maus untergingen oder an den Felsklippen strandeten, angetriebene Leichen lagen in der Brandung und rollten hin und her, ertrunkene Männer in Seestiefeln und Südwester kamen um Mitternacht aus der See gestiegen und stampften mitten in die kleinen Stuben im Dorf hinein, um ihren Heimgang anzusagen. Sie verweilten bei alledem mit einem Ernst, der von innerer Freude strahlte – als sängen sie Lobgesänge zu Ehren des Gewaltigen. Aber Pelle stand außerhalb des Ganzen und kam sich feige vor bei ihren Erzählungen. Er hielt sich hinter den anderen und wünschte, er könne den großen Stier hier herunterziehen und ihn zwischen sie loslassen. Dann sollten sie schutzsuchend zu ihm fliehen!
Die Jungen hatten Auftrag von ihren Eltern, gut acht auf sich zu geben – die alte Schifferwitwe Marta hatte drei Nächte hintereinander die See mit kurzem Bellen eine Leiche fordern hören. Auch davon sprachen sie, und darüber, wann sich die Fischer wohl wieder hinauswagen würden, während sie am Strande umhersprangen. »Eine Flasche! Eine Flasche!« rief plötzlich einer von ihnen und fuhr hart am Wasser entlang, er hatte ganz deutlich eine Flasche aus der Brandung da hinten auftauchen und wieder verschwinden sehen. Die ganze Schar stand lange da und starrte gespannt in den Schaumstrudel. Nilen und noch einer hatten die Jacken abgeworfen, um bereit zu sein, hinauszuspringen, sobald sie sich wieder zeigte.
Die Flasche kam nicht wieder zum Vorschein, aber die Phantasie war in Fluß geraten, jeder Junge hatte seine eigenen feierlichen Kenntnisse von der Sache. Jetzt zur Zeit der Äquinoktialstürme ging wohl manch eine Flasche über die Schiffswand mit einem letzten Gruß an die an Land. Strenge genommen lernte man ja nur deswegen schreiben – um seinen Zettel schreiben zu können, wenn die Stunde kam. Dann ging die Flasche vielleicht in den Magen eines Haifisches, vielleicht wurde sie von dummen Bauern aufgefischt, die sie ihrer Frau mitbrachten, damit sie Getränke darauf abzapfte – das war ein wohlgemeinter Hieb auf Pelle. Aber es kam auch wohl vor, daß sie gerade da an Land trieb, wohin sie bestimmt war; und im übrigen war es die Sache des Finders, sie bei der nächsten Obrigkeit abzuliefern, wenn er nicht seine rechte Hand einbüßen wollte.
Dort am Hafen gingen die Wellen über die Mole, die Fischer hatten ihre Boote auf das Ufer hinaufgezogen. Sie hatten keine Ruhe in der warmen Stube, die See und das böse Wetter bannten sie an den Strand, Tag und Nacht. Sie standen im Schutz der Boote, gähnten kräftig und starrten auf die Tiefe hinaus, wo von Zeit zu Zeit ein Segler vorüberschoß wie ein vom Sturm verschlagener Vogel.
»Kommt herein, kommt herein!« riefen die Mädchen von der Tür des Schulhauses her, die Jungen schlenderten langsam hinauf. Fris ging vor dem Pult auf und nieder, er rauchte seine Pfeife mit dem Bilde des Königs, der »Reichsanzeiger« guckte ihm aus der Tasche. »Zu Platz! Zu Platz!« rief er und schlug mit dem Rohrstock auf das Pult.
»Is da was Neues?« fragte ein Junge, als sie zu Platz gekommen waren – es geschah wohl, daß Fris ihnen die Schiffsnachrichten laut vorlas.
»Das weiß ich nicht!« antwortete Fris mürrisch. »Ihr könnt die Tafeln und Rechenbücher herausholen.«
»Ah, wir soll'n rechnen! Ah, das is fein!« Die ganze Klasse freute sich sichtbar, während sie die Sachen herausholten.
Fris teilte nicht die Freude der Kinder an dem Rechnen – seine Begabung war rein historischer Art, wie er zu sagen pflegte. Aber er kam ihrem Verlangen entgegen, weil jahrelange Erfahrung ihm sagte, daß an einem Unwettertag wie heute leicht die Hölle los sein könne; das Wetter hatte einen eigentümlichen Einfluß auf die Kinder. – Er selbst verstand sich nur auf Chr. Hansens I. Teil, aber da waren ein paar Bauernjungen, die sich auf eigene Hand bis in den dritten Teil hineingearbeitet hatten, die halfen den anderen.
Die Kinder waren ganz von der Arbeit in Anspruch genommen und lagen ihr mit Eifer ob, ihre langen, regelmäßigen Atemzüge stiegen und fielen im Schulzimmer als tiefe Ruhe, es war ein fleißiges Wandern zu den beiden Rechenmeistern. Nur von Zeit zu Zeit ward der Fleiß von einem kleinen Gaunerstreich unterbrochen, der als Erinnerung diesen oder jenen überkam, aber sie beruhigten sich bald wieder.
Ganz unten in der Klasse ertönte ein Schluchzen, deutlicher und deutlicher; Fris legte ungeduldig die Zeitung nieder.
»Peter weint«, sagten die Zunächstsitzenden.
»So–o!« Fris guckte weit über die Brille hinweg. »Was gibt's denn da!«
»Er sagt, er weiß nich' mehr, wieviel zwei mal zwei is!«
Fris stieß Luft durch die Nase aus und griff nach dem Rohrstock, besann sich jedoch. »Zwei mal zwei ist fünf!« sagte er ruhig. Dann lachten sie ein wenig über Peter und arbeiteten weiter.
Lange herrschte ausschließlich Fleiß, da erhob sich Nilen, Fris sah es, fuhr aber fort zu lesen.
»Was is leichter, ein Pfund Federn oder ein Pfund Blei? Das steht nich' hinten in den Auflösungen.«
Fris' Hände zitterten, während er die Zeitung vor sich hielt, um irgend etwas Wichtiges darin sehen zu können. Die kleinen Teufel machten sich seine Mittelmäßigkeit im Rechnen beständig zunutze; aber er wollte sich nicht mit ihnen einlassen. Nilen wiederholte seine Frage unter dem Gekicher der anderen, aber Fris überhörte es – er war so in seine Lektüre vertieft. Dann schlief die Sache von selbst ein.
Fris sah nach der Uhr, er konnte ihnen bald ihre Pause geben – so eine recht lange Pause. Dann nur noch eine kleine Stunde Quälerei, und dieser Schultag konnte als überstandene Widerwärtigkeit ad acta gelegt werden.
Pelle stand auf seinem Platz mitten in der Klasse, er hatte Mühe, sein Gesicht in die rechten Falten zu legen, und mußte so tun, als wenn seine Nachbarn ihn störten. Endlich brachte er es heraus, aber die Klappohren waren ein wenig rot an den Spitzen: »Wenn ein Pfund Mehl zwölf Öre kostet, was kostet dann eine Tonne Kohlen?«
Fris saß eine Weile da und sah Pelle unentschlossen an, es tat ihm innerlich immer mehr weh, wenn Pelle ungezogen gegen ihn war, als wenn die anderen es taten – er hatte sich in den Jungen vernarrt. »N–na!« sagte er bitter und kam langsam mit dem dicken Rohrstock in der Hand – »n–na!«
»Deck dich!« flüsterten ihm die Jungen zu und schickten sich an, Fris den Durchgang zu versperren. Aber Pelle tat etwas, das gegen alle Regeln und Gewohnheiten verstieß und ihm trotzdem Respekt verschaffte: statt sich gegen die Prügel zu decken, trat er frei vor und streckte beide Hände aus, die Handflächen nach oben; er hatte einen dunkelroten Kopf.
Fris sah ihn überrascht an und hatte zu allem anderen mehr Lust als zum Prügeln – Pelles Augen erfreuten ihn bis ins Herz hinein. Er verstand sich nicht auf die Kategorie Jungen; aber Menschen gegenüber war er feinfühlig, und hier machte sich etwas Menschliches geltend – es würde unrecht sein, es nicht ernsthaft zu nehmen! Er zog Pelle einen tüchtigen Hieb über die Hände und warf dann den Rohrstock hin. »Pause!« sagte er kurz und wandte den Jungen den Rücken.
Der Gischt spritzte bis an die Mauer des Schulhauses herauf. Draußen auf der See, eine Strecke vom Ufer entfernt, segelte eine Kuff, sie sah sehr mitgenommen aus und war in der Gewalt des Unwetters; sie jagte schnell ein Stück vorwärts und stand dann still und schaukelte eine Weile, ehe sie sich wieder bewegte – wie ein Betrunkener – auf das südliche Riff zu.
Die Jungen hatten sich hinter dem Schulhause verkrochen, um ihr Frühstück im Schutz zu verzehren, aber plötzlich donnerte es hohl von Holzschuhstiefeln auf der Strandseite; der Strandvogt und ein paar Fischer liefen vorüber. Und nun kamen sie in sausender Fahrt mit den Rettungsapparaten herbeigeeilt. Die Mähnen der Pferde flatterten im Winde. Es lag etwas Ansteckendes in der Eile, die Knaben mußten alles hinwerfen und sich anschließen.
Die Kuff war nun ganz unten an der Landzunge, sie lag da vor Anker und stampfte und ließ die Wellen über sich hinspülen, das Achterende dem Riff zugewendet, sie glich einem alten Gaul, der wütend gegen das Hindernis hinten ausschlägt. Der Anker konnte sie nicht halten, sie trieb rückwärts auf das Riff zu.
Es waren eine Menge Menschen am Strande, von der Küste wie auch vom Lande her – die Bauern waren offenbar heruntergekommen, um zu sehen, ob das Wasser naß war! Die Kuff war auf Grund gestoßen und lag da und rollte auf dem Riff; sie hätten an Bord wie Schweine manövriert – sagten die Fischer – übrigens war es kein Russe, sondern eine Lappenkuff. Die Wellen gingen über sie hin, so daß der ganze Schiffsrumpf zitterte; die Mannschaft war in die Takelage gekrochen, da hingen die Leute und fochten mit den Armen. Sie riefen wohl etwas, aber die Brandung verschlang es.
Pelle hing mit Augen und Ohren an allen Vorbereitungen; er zitterte vor Spannung und mußte mit seiner krankhaften Anlage kämpfen, die sich jedesmal wieder zeigte, wenn irgend etwas das Blut in ihm zum Wallen brachte. Am Strande waren sie beschäftigt, sie trieben Pfähle in den Sand ein, um die Winde zu halten und ordneten Taue und Trossen, damit das Ganze glatt gehen konnte. Auf die lange, dünne Leine, die die Rakete nach dem Schiffe hinaustragen sollte, wurde besondere Sorgfalt verwandt; sie wurde wohl zehnmal gerichtet.
Der Lotsenkommandeur stand da und stellte den Rettungsapparat zum Zielen ein – sein Blick war wie eine Klaue, indem er hinausschweifte und wieder zurückkehrte, um die Entfernung zu messen. »Alles klar!« sagten die anderen und gingen beiseite. »Alles klar!« antwortete er ernsthaft. Einen Augenblick war es ganz tot, er stellte und stellte wieder zurück.
Hu–y–y–y–u! Die dünne Leine stand wie ein zitternder Wurm in der Luft, bohrte sich mit ihrem wildgewordenen Kopf draußen in den Nebel über der See hinein; von der Rolle jagte ihr Körper mit kreischenden Rucken und ritt hinaus auf tiefen Brummtönen, und weit da draußen kämpfte er sich vorwärts durch den Sturm. Die Rakete hatte die Wegeslänge vortrefflich zurückgelegt, sie war eine Strecke über das Wrack hinausgeschossen, aber zu weit windwärts. Sie hatte sich matt gelaufen und stand nun und schlingerte in der Luft wie ein unruhiger Schlangenkopf, während sie sich herabsenkte.
»Sie geht vorneherum!« sagte ein Fischer. Die anderen schwiegen, aber man konnte es ihnen ansehen, daß sie dasselbe dachten. »Es kann noch kommen!« entgegnete der Lotsenkommandeur. Die Rakete hatte das Wasser ein gut Stück nordwärts getroffen, aber die Leine stand noch in einem Bogen in der Luft, der Druck hielt sie da oben. Sie fiel in langen Stößen südwärts, schlug ein paar Falten vor dem Sturm und legte sich matt über den Vordersteven des Schiffes. »Da is sie! Sie hat famos getroffen!« riefen die Jungen und sprangen im Sande umher, die Fischer trampelten vor Freude herum, nickten dem Lotsenkommandeur mit dem Kopfe zu und sahen sich anerkennend an. Da draußen krabbelte ein Mann in der Takelage herum, bis er die Leine gepackt hatte, dann kroch er wieder zu den anderen in die Wanten hinab. Es mußte schwach bestellt sein mit ihren Kräften, denn sie rührten sich nicht weiter.
Am Ufer herrschte große Geschäftigkeit. Die Winde wurde noch fester in den Boden eingerammt und der Rettungsstuhl klar gemacht. Die dünne Leine wurde mit einem dreiviertelzölligen Tau zusammengeknüpft, das wiederum die schwere Trosse an Bord schleppen sollte – es kam darauf an, daß alle Gerätschaften hielten. An der Trosse hing eine Talje so groß wie ein Kopf, in der die Taue laufen sollten; man wußte ja nicht, was für Hilfsmittel sie an Bord so eines Seelenverkäufers hatten. Der Sicherheit halber wurde eine Tafel an die Leine gebunden, die auf englisch besagte, daß sie so lange ziehen sollten, bis die Trosse Kaliber so und so an Bord käme; das war überflüssig für gewöhnliche Menschen, aber man wußte ja niemals, wie dumm solche Finnlappen sein konnten.
»Nun könnten sie meinetwegen gern da draußen ziehen, so daß die Sache ein Ende bekäme!« sagte der Lotsenkommandeur und schlug die Hände gegeneinander.
»Sie sind am Ende zu arg herunter – sie haben woll Schlimmes durchgemacht!« sagte ein junger Fischer.
»Ein dreiviertelzölliges Tau müßten sie doch wohl zu sich heranziehen können. Bindet eine Hilfsleine an das Tau, so daß wir ihnen behilflich sein können, die Trosse an Bord zu ziehen – wenn es so weit kommt.«
Das geschah. Aber draußen auf dem Wrack hingen sie so sinnlos stumpfsinnig in der Takelage, ohne sich zu rühren – was in Himmels Namen war denn in sie gefahren? Die Leine lag noch immer tot im Sande, ohne zu gleiten. Am Boden hing sie nicht, sie tönte, als sie vom Ufer straff aus gezogen wurde; sie mußte an dem Mast festgemacht sein.
»Sie haben sie festgemacht, die Dummköpfe!« sagte der Lotsenkommandeur. »Sie erwarten wohl am Ende, daß wir ihnen die Kuff an Land ziehen sollen – an dem Garnende!« – Er lachte verzweifelt.
»Sie wissen es woll nich' besser, die Ärmsten!« sagte der Mormone.
Niemand sprach oder rührte sich. Sie standen da, gelähmt von dem Unfaßbaren; ihre Augen wanderten in schrecklicher Spannung von dem Wrack hinab auf die unbewegliche Leine und wieder zurück. Die schwerlastende Angst, die dort folgt, wo Menschen ihr Äußerstes aufgeboten haben und von der Dummheit selbst zurückgeschlagen werden, befiel sie. Das einzige, was die Schiffbrüchigen taten, war, daß sie mit den Armen fochten. Sie meinten wohl, man könne hier am Lande stehen und Wunder vollführen – trotz ihnen.
»In einer Stunde is es aus mit ihnen«, sagte der Kommandeur traurig – »es is schwer, stillzustehen und zuzusehen.«
Ein junger Fischer trat vor. Pelle kannte ihn gut; er hatte ihn mehrmals da drinnen an dem Steinhaufen getroffen, wo die Kinderseele in den Sommernächten brannte.
»Wenn einer von euch mitgeht, will ich versuchen, an sie 'ranzutreiben!« sagte Niels Köller ruhig.
»Das is der sichere Tod, Niels«, sagte der Kommandeur und legte die Hand auf seine Schulter, »darüber bist du dir doch wohl klar? Ich bin nicht für mein Leben besorgt, aber es wegwerfen, das tue ich nicht. Jetzt kennst du meine Ansicht.«
Die anderen betrachteten es nicht anders. Es war ganz einfach unmöglich, in dem Wetter ein Boot aus dem Hafen herauszubekommen – es würde sofort bei den Molen zerschellen – geschweige denn, sich bis zu dem Wrack hinabzuarbeiten, wo Sturm und Wellen von der Seite kommen! Daß das Meer auch seine Ansprüche auf das Dorf gerichtet hatte, dagegen war nichts zu machen – seinem Schicksal konnte sich niemand entziehen! Aber dies war offenbarer Wahnsinn. Mit Niels Köller war es ja auch so seine eigene Sache: mit einem Kindesmord halbwegs auf dem Gewissen und die Braut im Zuchthaus! Er hatte seine eigene Abrechnung mit dem lieben Gott – ihm dürfte niemand abraten!
»Es will also niemand von euch?« sagte Niels und starrte zu Boden, »ja, denn muß ich es allein versuchen.« Schwerfällig ging er hinab. Wie er hinauskommen wollte, begriff kein Mensch, er selbst am wenigsten – die Macht war offenbar über ihm.
Sie standen da und sahen ihm nach. »Ich muß woll mitgehen und das eine Ruder nehmen«, sagte ein junger Bursche langsam – »allein kann er ja nichts ausrichten.« Es war Nilens Bruder.
»Es würde wunderlich klingen, wenn ich dich zurückhalten wollte, Sohn,« sagte der Mormone – »aber könnt ihr zu zweien mehr ausrichten als einer?«
»Niels und ich haben zusammen auf der Schulbank gesessen und sind immer Kameraden gewesen«, antwortete der junge Mann und sah den Vater eine Weile an. Dann ging er; bald fing er an zu laufen, um Niels einzuholen.
Die Fischer sahen ihnen schweigend nach. »Jugend und Torheit!« sagte einer. »Ein Segen, daß sie das Boot nie aus dem Hafen 'rausbringen werden.«
»Wenn ich Karl recht kenne, so werden sie das Boot schon aus dem Hafen 'rausbringen«, sagte der Mormone düster.
Es verging eine lange Weile. Dann tauchte ein Boot auf der Südseite des Hafens auf, wo ein wenig See war – sie mußten es mit Hilfe von Frauen über Land geschleppt haben. Der Hafen schob sich eine Strecke hinaus, und das Boot kam aus der ärgsten Brandung heraus, ehe der Schutz aufhörte. Sie arbeiteten sich vorwärts. Sie konnten so eben das Boot gegen das Wetter halten, und viel weiter kamen sie nicht. Jeden Augenblick zeigte das Boot sein ganzes Inwendige, als solle es für ein gutes Wort kentern. Aber das hatte das Gute, daß das Wasser, das sie übernahmen, wieder über Bord lief.
Es war deutlich, daß sie sich so weit hinausarbeiten wollten, daß sie die hohen Wellen benutzten und sich von ihnen an das Wrack treiben ließen – ein verzweifelter Einfall. Aber das Ganze war ja halsstarriges Tollhäuslerwerk; man sollte nicht glauben, daß dies Leute waren, die von Kindesbeinen an der Wasserkant gelebt hatten. Nachdem sie eine halbe Stunde gerudert hatten, konnten sie offenbar nicht mehr; sie waren nur ein paar gute Kabellängen aus dem Hafen herausgekommen. Sie lagen still; der eine saß an den Riemen und hielt das Boot gegen die Wellen, während der andere sich mit etwas abmühte – einem Stück Segel so groß wie ein Sack. Also so! Wenn sie nun die Riemen einnahmen und sich dem Wetter anvertrauten – mit Wind und Wellen quer, etwas von hinten! – dann mußten sie doch sofort voll Wasser laufen.
Aber sie nahmen die Riemen nicht ein. Der eine saß da und spähte wie ein Verrückter, während sie vor dem Wind herliefen; ganz toll sah es aus, aber man mußte zugeben, daß es eine größere Macht über das Boot gab. Dann auf einmal ließen sie das Segel los und ruderten das Boot hart gegen den Wind an – wenn eine Welle sich brechen wollte. Etwas Ähnliches von Segelei erinnerte sich kein Fischer je erlebt zu haben; es war junges Blut, und sie verstanden ihren Kram! Jeden Augenblick mußte man »Jetzt!« sagen. Aber das Boot war wie ein lebendiges Wesen, das allem zu begegnen wußte – beständig kam es über alle Launen hinaus. Der Anblick machte einem das Herz warm, so daß man für eine Weile vergaß, daß es ein Segeln um den Tod war. Kamen sie wirklich glücklich bis an das Wrack hinan – was dann? Sie wurden ja unfehlbar an der Schiffswand zerschellt.
Der alte Ole Köller, Niels Vater, kam über die Dünen herab. »Wer is das da draußen, der sich wegwirft?« fragte er. Die Frage wirkte brutal in dem Schweigen und der Spannung. Niemand sah ihn an – Ole pflegte den Mund ziemlich voll zu nehmen. Er warf einen Blick über die Schar, als suche er nach etwas Bestimmtem. »Niels – hat keiner von euch Niels gesehen?« fragte er leise. Einer nickte nach der See hinaus. Da verstummte er und brach zusammen.
Die See mußte die Riemen gebrochen oder sie ihnen aus der Hand geschlagen haben; sie machten das Segel los, das Boot wühlte ratlos mit seinem Steven und legte sich dann träge mit der Breitseite in den Wind. Da faßte eine große Welle sie und führte sie mit einem langen Wurf nach dem Wrack, sie verschwanden in den zusammenbrechenden Wassermassen.
Als das Wasser sich wieder beruhigte, lag das Boot da und rollte im Schutz des Schiffes, den Kiel nach oben.
Ein Mann war im Begriff, sich vom Deck in die Takelage hinaufzuarbeiten. »Das is gewiß Niels?« sagte Ole und starrte, daß ihm die Augen voll Wasser liefen – »ob es wohl nich' Niels is?«
»Nein, das is mein Bruder Karl!« sagte Nilen.
»Denn is Niels weggegangen,« sagte Ole jammernd – »denn is Niels ja weggegangen.« Die anderen wußten nichts dazu zu sagen; es war ja von vornherein abgemacht gewesen, daß Niels weggehen würde.
Ole stand eine Weile da und kroch zusammen, als warte er darauf, daß jemand sagen würde, es sei Niels. Er trocknete seine rinnenden Augen und versuchte, auf eigene Hand da hinauszustarren; aber sie liefen voll Wasser. »Du hast junge Augen,« sagte er zu Pelle – »kannst du nich' sehen, daß es Niels is?« Sein Kopf zitterte.
»Nein, es ist Karl«, sagte Pelle leise. Da ging Ole gebeugt durch die Schaar, ohne jemand anzusehen oder auszuweichen. Er ging, als sei er ganz allein auf der Welt, an dem Südstrand entlang – er ging, um der Leiche zu begegnen.
Jetzt war keine Zeit, den Gedanken nachzuhängen: die Leine begann lebendig zu werden; sie glitt in die See hinab und zog das Tau nach sich. Faden für Faden rollte es seine Windungen ab und glitt langsam ins Meer hinaus wie ein erwachendes Seetier, und die dicke Trosse fing an sich zu rühren.
Karl befestigte sie hoch oben am Mast; und da war Verwendung für alle Mann – auch für die Jungen, um sie straff zu ziehen. Trotzdem hing sie in einer schweren Bucht infolge ihres Gewichts, und der Rettungsstuhl mußte sich durch die Wellenkämme schleppen, als er leer hinausging. Er ging mehr unter als über Wasser, als sie ihn mit dem ersten von der Besatzung, einem lächerlich kleinen, dunkelhaarigen Mann in graues, abgenagtes Pelzwerk gekleidet, zurückzogen. Er war beinahe erstickt auf der Reise, aber als sie erst das Wasser von ihm abgeschüttelt hatten, fehlte ihm nichts, und er schwatzte unaufhörlich drauflos, in einer drolligen Sprache, die niemand verstand. Mit fünf kleinen, in Pelz gekleideten Wesen kam der Stuhl herbeigewandert. Einer nach dem andern kam an Land. Und schließlich kam Karl, ein kleines schreiendes Ferkel im Arm.
»Das waren verdammt schlechte Seeleute!« sagte Karl, während er Wasser herauswürgte – »die verstanden, Gott sei's geklagt, nicht das geringste. Die Raketenleine hatten sie an die Wanten festgemacht und das lose Ende dem Kapitän um den Leib gebunden! Und ihr hättet die Wirtschaft sehen sollen, die da an Bord herrschte!« Er sprach mit lauter Stimme, aber sein Blick war wie ein Schleier, der sich über etwas legte.
Dann zog man nach Hause ins Dorf mit den Schiffbrüchigen. Die Kuff sah so aus, als könne sie noch eine Weile dem Wasser Widerstand leisten.
Als die Schulkinder nach Hause gehen sollten, kam Ole schlingernd, die Leiche seines Sohnes auf dem Nacken. Er lief mit schlotternden Knien, strich flach über die Erde hin und jammerte leise unter seiner Bürde. Fris hielt ihn an und war ihm behilflich, die Leiche in die Schulstube zu legen; sie hatte ein großes Loch in der Stirn. Als Pelle die Leiche mit der klaffenden ausgewaschenen Wunde sah, fing er an zu hüpfen; er sprang kurz in die Höhe und ließ sich niederfallen wie ein toter Vogel. Die Mädchen zogen sich schreiend von ihm zurück; Fris beugte sich über ihn herab und sah ihn schmerzlich an.
»Das is keine Schändlichkeit,« sagten die anderen Jungen, »das is sein Leiden – er wird manchmal so. Das hat er mal gekriegt, als er gesehen hat, wie ein Mann zuschanden geschlagen wurd'.« Sie zogen mit ihm nach der Pumpe, um ihn wieder zu sich zu bringen.
Fris und Ole machten sich mit der Leiche zu schaffen, legten ihr etwas unter den Kopf und wuschen den Kies weg, der sich ihm in die Gesichtshaut hineingescheuert hatte. »Er war mein bester Junge!« sagte Fris und strich mit zitternder Hand über den Kopf der Leiche. »Seht ihn nur ordentlich an, Kinder, und vergeßt ihn nie wieder – er war mein bester Junge!«
Dann stand er schweigend da und starrte hinaus, mit betauter Brille, die Hände schlaff herabhängend. Ole stand da und jammerte leise; er war erbärmlich alt geworden, auf einmal, ganz zusammengefallen.
»Ich muß ihn wohl mit nach Hause nehmen?« sagte er klagend und faßte unter die Schultern des Sohnes, aber die Kräfte waren verschwunden.
»Laß ihn nur liegen«, sagte Fris. »Er hat einen harten Tag gehabt, und nun ruht er aus.«
»Ja, er hat einen harten Tag gehabt«, sagte Ole und führte die Hand des Sohnes an den Mund, um sie anzuhauchen. »Und sieh, da, wo er den Riemen geführt hat – das Blut ist ihm durch die Fingerspitzen gesprungen –« Ole lachte mitten im Weinen. »Er war ein guter Jung', er war für mich Essen und Trinken – und Licht und Wärme auch. Nie kam ein böses Wort gegen mich aus seinem Munde, der ich ihm doch zur Last lag. Und nun bin ich ohne Sohn, Fris – ich bin kinderlos! Und ich bin zu nichts mehr nutz!«
»Du sollst schon dein Auskommen haben, Ole«, sagte Fris.
»Ohne ins Armenhaus zu kommen? Ich will so ungern ins Armenhaus!«
»Ja, ohne ins Armenhaus zu kommen, Ole!«
»Wenn er jetzt doch Frieden finden könnte; er hat so wenig Frieden gehabt, hier auf Erden, in letzter Zeit. Es is ein Lied über sein Unglück im Umlauf, Fris; jedesmal, wenn er das hörte, war er wie ein neugeborenes Lamm in der Kälte. Die Kinder singen es auch.« Ole sah sich flehend in ihrem Kreise um. – »Es war ja nur ein jugendlicher Leichtsinn, und nun hat er seine Strafe auf sich genommen.«
»Dein Sohn hat keine Strafe bekommen, Ole, und auch keine verdient«, sagte Fris und legte den Arm um seine Schulter. »Aber ein großes Geschenk hat er gemacht, so wie er daliegt und zu allem schweigen muß. Fünf Menschenleben hat er geschenkt und sein eigenes hat er hergegeben! Für das seine, das er in Gedankenlosigkeit verwirkt hat. Einen freigebigen Sohn hast du gehabt, Ole!« Fris sah ihm hell ins Gesicht.
»Ja,« sagte Ole strahlend, »er hat ja fünf Menschenleben gerettet – das hat er ja getan – ja, das hat er getan!« Ole hatte bisher gar nicht daran gedacht – es war ihm wohl gar nicht in den Sinn gekommen. Aber nun hatte ein anderer dem Form gegeben, und er klammerte sich fortan daran fest. »Fünf Menschenleben hat er doch gerettet, wenn es auch nur Finnlappen waren. Dann wird der liebe Gott ihn wohl auch kennen.«
Fris nickte, so daß ihm das graue Haar über die Augen fiel. »Vergeßt ihn niemals, Kinder!« sagte er. »Und jetzt geht still nach Hause!« Leise nahmen die Kinder ihre Sachen und gingen; sie würden in diesem Augenblick alles getan haben, was Fris ihnen befohlen hätte – er hatte vollkommen Macht über sie.
Ole stand da und starrte geistesabwesend, dann faßte er Fris beim Ärmel und zog ihn an die Leiche. »Er hat gut gerudert,« sagte er – »das Blut ist ihm aus den Fingerspitzen getreten, sieh selbst!« Und er hob die Hände des Sohnes gegen das Licht. »Das sind auch noch Handgelenke, Fris! Mich alten Mann konnt' er nehmen und mit mir gehen, als wär' ich ein kleines Kind«, – Ole lachte kläglich. »Aber ich trug ihn auch, den ganzen Weg von dem südlichen Riff trug ich ihn auf meinem Nacken. Ich bin eine zu schwere Bürde für dich, Vater! konnt' ich ihn sagen hören, denn er war ein guter Sohn. Aber ich hab' ihn getragen – und nu kann ich nich' mehr – wenn sie das nu bloß sehen,« er betrachtete wieder die blutunterlaufenen Finger – »er hat ja sein Bestes getan. Wenn ihn bloß der liebe Gott selbst abmustern wollt'!«
»Ja,« sagte Fris, »der liebe Gott wird ihn selbst abmustern – und er sieht ja alles, Ole!«
Es kamen einige Fischer in die Stube. Sie nahmen die Mütze ab, gingen einer nach dem anderen hin und gaben Ole die Hand. Dann strichen sie sich, Mann für Mann, über das Gesicht und wandten sich fragend dem Küster zu – Fris nickte. Sie nahmen die Leiche zwischen sich und gingen mit schweren, vorsichtigen Schritten über die Diele und auf das Dorf zu. Ole trippelte hinter ihnen drein, zusammengefallen und leise jammernd.