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Die Werkstatt stand über die Diele nach der Straße hinaus offen – wo die Leute kamen und gingen: Madam Rasmußen, die es immer hild hatte, der alte Schiffer Elleby, Kontrolleurs Dienstmädchen mit weißer Mütze, bejahrte Altenteiler, die ihre Leibrente aus dem Hof nahmen und sie hier drinnen verzehrten, gichtschwache Schiffer, die der See Lebewohl gesagt hatten. Die Spatzen machten einen Mordsspektakel da draußen auf dem spitzigen Steinpflaster, sie lagen mit aufgeblasenen Federn da und taten sich gütlich an den Pferdeäpfeln, zausten sich, daß es um sie herstob, und schrien fürchterlich.
Auch nach dem Hofe hinaus stand alles offen. Alle vier Fenster waren weit aufgesperrt, und das grüne Licht sickerte hinein und legte sich über die Gesichter. Aber das half alles nichts; es rührte sich kein Wind – und außerdem, Pelles Hitze kam von innen. Vor lauter Angst schwitzte er.
Übrigens zog er das Pech gut auf – ausgenommen, wenn gerade etwas da draußen seinen gequälten Sinn erfaßte und ihn in den Sonnenschein hinausführte.
Alles da draußen plätscherte förmlich im Sonnenschein; hier drinnen von der düsteren Werkstatt aus glich er einem goldigen Fluß, der zwischen den Häuserreihen vorüberströmte, immer in derselben Richtung, nach der See hinab. Da kam eine weiße Daune auf dem Licht dahergesegelt und weißgraue Distelflocken, ganze Mückenschwärme und eine große Hummel, breit und sich wiegend. Es wirbelte schimmernd an der Türöffnung vorüber und fuhr fort zu wirbeln, als sei da etwas, wonach das Ganze renne – ein Unglücksfall oder vielleicht ein Fest.
»Schläfst du, Bengel?« fragte der Geselle scharf. Pelle zuckte zusammen und arbeitete weiter in dem Pech, hielt es in das heiße Wasser und knetete darauflos.
Drinnen beim Bäcker, dem Bruder des alten Meisters, waren sie damit beschäftigt, Mehlsäcke aufzuwinden. Die Winde piepste jämmerlich, und dazwischen hörte man Meister Jörgen Kofod in hohem Fistelton mit dem Sohn herumzanken. »Du bist ein Schafskopf, Sören, ein erbärmlicher Tropf – was soll doch bloß einmal aus dir werden? Denkst du, daß wir nichts weiter zu tun haben, als am Werktag in die Betstunden zu laufen? Schafft uns das vielleicht unser täglich Brot? Jetzt bleibst du hier, – oder Gott sei mir gnädig – ich schlag' dir die Knochen im Leibe entzwei.« Dann zeterte die Frau mit hinein, und es wurde plötzlich still. Und nach einer Weile strich der Sohn wie ein Schatten drüben an der gegenüberliegenden Hausmauer entlang, das Gesangbuch in der Hand. Er hatte Ähnlichkeit mit Heulpeter, drückte sich an den Mauern hin und knickte mit den Knieen ein, wenn ihn jemand scharf ansah. Er war 25 Jahre alt und nahm Prügel von seinem Vater hin, ohne zu mucken. Aber wenn es sich um religiöse Versammlungen handelte, trotzte er dem Gerede der Leute, den Prügeln und dem väterlichen Zorn.
»Schläfst du, Bengel? Ich muß woll mal kommen und dir Eile machen!«
Sonst sprach niemand in der Werkstatt – der Geselle schwieg ja, und da hatten die anderen den Mund zu halten. Jeder hing über seiner Arbeit, und Pelle zog das Pech, so lang er konnte, knetete Fett hinein und zog weiter. Draußen im Sonnenschein schlenderte hin und wieder ein Straßenjunge vorüber. Wenn sie Pelle erblickten, hielten sie sich die geballte Faust unter die Nase, nickten verheißend zu ihm hinein und sangen:
»Der Schuster hat eine pechige Schnauz,
Je mehr er sie wischt, je schlimmer sieht sie aus!«
Pelle tat, als sähe er sie nicht, merkte sich aber verstohlen jeden einzelnen. Es war seine aufrichtige Absicht, sie alle von der Erdoberfläche auszurotten.
Plötzlich rannten sie die Straße hinauf, wo eine mächtige, eintönige Stimme sich erhob und hinausströmte. Es war der verrückte Uhrmacher, der auf seiner hohen Treppe stand und aufs Geratewohl das Verdammungsurteil über die Welt hinausschrie.
Pelle wußte sehr wohl, daß der Mann verrückt war; in den Worten, die er so gewichtig über die Stadt hinausschleuderte, war nicht der geringste Sinn. Aber wunderlich klangen sie dessenungeachtet, und die Pechprobe hing über ihm wie eine Art Weltgerichtsstimmung. Er fing unwillkürlich an zu frieren bei dieser warnenden Stimme, die so schwere Worte auswog, daß sie gar keinen Sinn enthielten – so wie die starken Worte in der Bibel. Dies hier war einfach die Stimme, fürchterlich, wie sie aus der Wolke tönen konnte, so daß sowohl Moses als auch Paulus die Knie schlotterten, verhängnisvoll, wie Pelle sie sich selbst aus der Dunkelheit von Steinhof herausgehorcht hatte, wenn das Strafgericht vor sich ging.
Nur der Spannriemen des kleinen Nikas hielt ihn davon ab, kerzengrade in die Höhe zu springen und sich fallen zu lassen wie Paulus. Der war ein Stück unentrinnbarer Wirklichkeit mitten in allen Phantasien; in zwei Monaten hatte er ihn gelehrt, nie ganz zu vergessen, wo und wer er war. Er griff sich auch jetzt in den Nacken und begnügte sich damit, alle seine Trübseligkeit in die Bearbeitung dieses Peches hineinzulegen, während sonst die Versuchung so nahe lag, es mit dem Pechpfuhl der Hölle zu vergleichen, in dem er gemartert werden sollte. Aber dann hörte er die helle Stimme des jungen Meisters draußen auf dem Hofe, und das Ganze wich. Ganz gefährlich konnte die Probe wohl auch nicht sein, da die anderen sie ja bestanden hatten – er hatte wahrhaftig in seinem Leben schon mächtigere Burschen gesehen!
Jens saß da und duckte den Kopf, als erwarte er eine Ohrfeige; das war der Fluch von zu Hause her, der beständig über ihm schwebte. Er war so langsam bei der Arbeit, Pelle konnte ihn schon überholen; irgend etwas saß hemmend in ihm, wie eine Verzauberung. Aber Peter und Emil waren fixe Jungen – sie wollten ihn bloß immer prügeln.
Da drinnen unter den Apfelbäumen spielte der frühe Sommer, und dicht unter den Werkstattfenstern stand das Schwein und schmatzte in seinem Trog. Dieser Laut war wie ein warmer Hauch, der über sein Herz hinzog. Seit dem Tage, als Klaus Hermann das quieksende kleine Ferkel aus dem Sack schüttelte, fing Pelle an, Wurzel zu schlagen; so verlassen es auch in der ersten Zeit schrie, etwas von seinem Gefühl der Verlassenheit wurde von diesem Gequiekse mit weggetragen. Jetzt schrie es bloß, weil es schlecht gefuttert wurde, und Pelle wurde ganz wütend, wenn er diese Manscherei sah – ein Ferkel mußte auffressen, das war das halbe Gedeihen. Man konnte nicht so hinrennen und alle fünf Minuten was hineinschütten und wieder hineinschütten; wenn sich die Hitze erst recht meldete, würde es Säure im Bauch bekommen. Aber in diesen Stadtmenschen war ja kein Menschenverstand.
»Tust du eigentlich was, Bengel? Mir deucht, du schnarchst!«
Der junge Meister kam hereingehinkt, nahm einen Schluck und begrub sich in das Buch. Während er las, pfiff er leise zu den Hammerschlägen der anderen. Der kleine Nikas fing an mitzupfeifen, und die beiden ältesten Lehrlinge, die Leder klopften, hämmerten sich in den Takt hinein; sie schlugen immer einmal zwischendurch, so daß es ging wie geschmiert. Die Triller des Gesellen wurden gewaltsamer und gewaltsamer, um mitzukommen – das eine griff in das andere hinein; und Meister Andres hatte den Kopf lauschend von dem Buch erhoben. Er saß da und starrte weit hinaus, in seinem Blick hingen von der Lektüre her verschleierte Bilder. Und dann mit einem Ruck war er gegenwärtig und mitten dazwischen, die Augen huschten schalkhaft über sie alle hin – er stand aufrecht, der Stock saß stützend unter der kranken Hüfte. Die Hände des Meisters tanzten schlaff in der Luft, der Kopf und die ganze Gestalt wandten sich närrisch unter dem Zwang des Rhythmus.
Schwupp, schlugen die tanzenden Hände auf das Zuschneidemesser nieder, und der Meister hüllte die Töne um die scharfe Schneide, den Kopf auf die Seite und mit geschlossenen Augen – der ganze Ausdruck abwesend in nach innen gewandtem Lauschen. Aber dann plötzlich strahlte das Gesicht in Glückseligkeit auf, die ganze Gestalt ballte sich in tollem Genuß zusammen, der eine Fuß griff wie besessen in die Luft, als schlage er die Harfe mit den Zehen; Meister Andres war zugleich Musikidiot und musikalischer Clown. Und klatsch, lag dann das Messer an der Erde, und er hatte den großen blechernen Deckel in der Hand – tschin-da-da-da; tschin-da-da-da! Die Flöte war mit einem Zauberschlag in Trommel und Becken verwandelt.
Pelle lachte, so daß er zusammenbrach, sah erschreckt nach dem Spannriemen und brach von neuem in Lachen aus; aber niemand achtete auf ihn. Des Meisters Finger und Handgelenk tanzten einen Teufeltanz auf dem blechernen Deckel, und plötzlich fuhr der Ellbogen herzu und hieb darauf ein, so daß der Deckel gegen das linke Knie des Meisters sprang, – springen mußte – blitzschnell zurück gegen seinen hölzernen Absatz, der hinten vorstand, auf Pelles Kopf, ringsherum an die unmöglichsten Stellen, dum, dum, in wilder Besessenheit über die Flötentöne des Gesellen. Da war kein Halten mehr; Emil, der älteste Lehrling, fing an, frech mit zu pfeifen, zuerst vorsichtig, und als ihm nichts an den Kopf flog, mit voller Kraft. Und der nächstjüngste Lehrling Jens, – der Musikteufel, wie ihn der Meister nannte, weil ihm alles zwischen den Fingern zu Tönen wurde – der griff so ungeschickt in den Pechdraht, den er gerade strich, daß der anfing, summend unter allem hinzulaufen, steigend und fallend zwischen zwei, drei Noten, wie ein wohlbehagliches Brummen, das das Ganze trug. Da draußen auf den Apfelzweigen kamen die Vögel gehüpft; sie legten den Kopf neugierig auf die Seite, sträubten die Federn wie verrückt und stürzten sich in diese Orgie von Jubel hinein, die von einem Stückchen knallblauen Himmels verursacht war. Aber dann bekam der junge Meister seinen Hustenanfall, und das Ganze geriet von selbst ins Stocken.
Pelle arbeitete im Pech herum, knetete und tat Fett hinein. Wenn die schwarze Masse im Begriff war, steif zu werden, jagte er beide Hände in das heiße Wasser, so daß er Nagelwurm bekam. Der alte Jeppe kam vom Hof hereingetrippelt, schnell legte Meister Andres das Zuschneidebrett über das Buch und strich fleißig sein Messer.
»Das is recht,« sagte Jeppe, »in die Wärme mit dem Pech, um so besser bindet es.«
Pelle hatte Pech zu Kugeln gerollt und sie in den Weichbottich geworfen, jetzt stand er schweigend da; er hatte nicht den Mut, selbst »fertig« zu melden. Die anderen hatten die Pechprobe zu etwas Ungeheuerlichem aufgebauscht, es wuchsen alle Schrecken aus diesem Rätselhaften heraus, das seiner jetzt harrte; und wenn er nicht selbst gewußt hätte, daß er ein fixer Junge war – ja, dann hätte er das Ganze im Stich gelassen. Aber jetzt wollte er es über sich ergehen lassen, wie schlimm es auch kommen mochte, er mußte nur Zeit haben, erst herunterzuschlucken. Dann gelang es ihm am Ende, den Bauern nachdrücklich abzuschütteln, und das Handwerk stand ihm offen mit seinem Gesang und Wanderleben und flotten Gesellenkleidern. Die Werkstatt hier war doch im Grunde nur ein beklommenes Loch, wo man saß und sich mit stinkenden Schmierstiefeln abmühte; aber er sah ein, daß man da hindurch mußte, um in die große Welt hinauszugelangen, wo die Gesellen am Werkeltag mit Lackschuhen gingen und Schuhzeug für den König selber machten. Die kleine Stadt hatte Pelle vorläufig eine Ahnung davon gegeben, daß die Welt fast unüberwindlich groß war; und diese Ahnung erfüllte ihn mit Ungeduld. Es war seine Absicht, das Ganze zu bewältigen.
»Nu bin ich fertig!« sagte er resolut; jetzt sollte es sich entscheiden, ob er und das Handwerk zueinander paßten.
»Dann kannst du einen Pechdraht ziehen – aber lang wie ein böses Jahr!« sagte der Geselle.
Der alte Meister war Feuer und Flamme. Er ging umher und gab acht auf Pelle, die Zunge zum Munde heraus, fühlte sich ganz jung und verbreitete sich über seine eigene Lehrzeit vor sechzig Jahren in Kopenhagen. Das waren noch Zeiten! Da lagen die Lehrlinge nicht und schnarchten bis um sechs Uhr morgens, und schmissen die Arbeit hin, sobald die Uhr acht war – bloß um 'rauszukommen und zu rennen. Nein, um vier Uhr auf, und dann dabei geblieben, solange was da war. Damals konnten die Leute arbeiten – und da lernte man noch was; jedes Ding wurde einmal gesagt und dann – der Spannriemen. Damals genoß das Handwerk auch noch Ansehen, selbst die Könige mußten ein Handwerk erlernen. Es war nicht so wie jetzt, Pfuscherei und billiger Kram und sich herumdrücken um das Ganze!
Die Lehrlinge blinzelten einander zu, Meister Andres und der Geselle schwiegen; man konnte sich ebensogut mit der Nadlermaschine zanken, weil sie schnurrte. Jeppe durfte alleine die Leine auslaufen.
»Du pechst doch gut?« sagte der kleine Nikas, »es is für Schweineleder.«
Die anderen lachten, aber Pelle strich den Draht mit einem Gefühl, als zimmere er sein eigenes Schafott.
»Nu bin ich fertig«, sagte er mit leiser Stimme.
Das größte Paar Männerleisten kam von dem Bort herunter, sie wurden an das eine Ende des Pechdrahtes gebunden und ganz unten auf den Bürgersteig gebracht. Da draußen sammelten sich die Leute an und blieben stehen, um zu glotzen. Pelle mußte ganz auf den Fenstertritt hinauf und sich gut vornüber beugen, Emil, als ältester Lehrling, legte ihm den Pechdraht über den Nacken. Sie waren alle auf den Beinen, mit Ausnahme des jungen Meisters; er nahm nicht teil an der Belustigung.
»Dann zieh,« befahl der Geselle, der die feierliche Handlung leitete, »so – gerade herunter nach den Füßen.«
Pelle zog, und die schweren Leisten humpelten über das Steinpflaster hin; aber er hielt mit einem Seufzer inne, der Pechdraht hatte sich über seinem Nacken warm gelaufen. Er stand da und trat wie ein Tier, das mit den Füßen gestoßen wird und den Sinn davon nicht versteht, hob vorsichtig die Füße in die Höhe und sah sie gequält an.
»Zieh, zieh«, befahl Jeppe. »Du mußt die Sache in Bewegung halten, sonst klebt es fest!« Aber es war zu spät, das Pech war in den feinen Nackenhaaren erstarrt – Vater Lasse hatte sie die Glückslocke genannt und ihm daraus eine so große Zukunft prophezeit – und da stand er und konnte den Pechdraht nicht vom Fleck ziehen, wie er sich auch abmühte. Er schnitt verrückte Grimmassen vor Schmerz, das Wasser lief ihm aus dem Munde.
»He, er kann ja nich' mal ein Paar Leisten handhaben«, sagte Jeppe spöttisch. »Es wird wohl am besten sein, wenn er aufs Land hinauskommt und den Kühen wieder den Hintern abwischt!«
Da gab sich Pelle zornentbrannt einen Ruck, er mußte die Augen schließen und sich winden, als es loßließ. Etwas Kleistriges glitt zusammen mit dem Pechdraht durch seine Finger, das war wohl blutiges Haar; und über dem Nacken brannte sich der Pechdraht seinen Weg vorwärts, in einer Rinne aus Blutwasser und geschmolzenem Pech. Aber Pelle fühlte keine Schmerzen mehr, es wallte nur bitter auf in seinem Kopf, er empfand ein wunderlich unklares Verlangen, einen Hammer zu nehmen und sie alle niederzuschlagen, die Straße hinabzulaufen und alles, was er traf, auf den Schädel zu hauen. Aber dann nahm ihm der Geselle die Leisten ab, der Schmerz war wieder da und seine ganze Erbärmlichkeit. Er hörte Jeppes kreischende Stimme, und sah den jungen Meister, der dasaß und sich duckte, ohne den Mut zu haben, seine Meinung zu äußern – er empfand auf einmal ein solches Mitleid mit sich selbst.
»Das war recht,« brummte Jeppe, »ein Schuster darf nicht bange sein, sich die Haut ein wenig einzupechen. Was? Ich glaub' wirklich, es hat dir Wasser aus den Augen gezogen! Nein, als ich noch Lehrling war, da war es eine Pechprobe, wir mußten den Pechdraht zweimal um den Hals schlingen, ehe wir zuziehen durften. Der Kopf hing an einem dünnen Faden und baumelte, wenn wir fertig waren. Ja, das waren noch Zeiten!«
Pelle stand da und trippelte, um das Weinen zu bekämpfen; aber er mußte doch vor reiner Schadenfreude kichern – bei dem Gedanken an Jeppes baumelnden Kopf.
»Dann müssen wir woll mal sehen, ob er einen an den Brummschädel vertragen kann«, sagte der Geselle und stellte sich auf, um zuzuschlagen.
»Nein, damit warte nur, bis er es verdient hat«, fiel ihm Meister Andres hastig ins Wort. »Es wird sich schon eine Veranlassung finden.«
»Mit dem Pech wird er ja fertig,« sagte Jeppe, »aber wie is es, kann er sitzen? Ja, denn es gibt welche, die die Kunst nie erlernen.«
»Das muß ja ausprobiert werden, ehe er für brauchbar erklärt wird«, sagte der kleine Nikas mit Grabesernst.
»Seid ihr bald fertig mit euren Narrenpossen?« fragte der junge Meister zornig und ging seiner Wege.
Aber Jeppe war ganz in seinem Element; er hatte den Kopf voll von Jugenderinnerungen, eine ganze Kette von kleinen teuflischen Einfällen, um die Weihe feierlich zu gestalten. »Damals, da brannte man ihnen das Fach unauslöschlich ein, sie nahmen niemals Reißaus, sondern hielten es hoch in Ehren, solange sie atmeten. Aber jetzt war die Zeit weichlich und voll Anstellerei, der eine konnte dies nich' vertragen, und der andere das nich'; es gab Lederkolik und Sitzkrankheit und Gott weiß was. Jeden zweiten Tag kamen sie mit einem Attest angerannt, daß sie an Sitzgeschwüren litten, und dann konnte man wieder von vorne anfangen. Nein, zu meiner Zeit, da gingen wir anders vor – den Bengel nackend über ein Dreibein gezogen und zwei Mann mit Spannriemen drauflos! Das war Leder auf Leder, und dabei lernten sie, verdammt und verflucht, das Sitzen auf den Stühlen vertragen!«
Der Geselle machte ein Zeichen.
»Na, is der Stuhlsitz nun schon geweiht und darüber gebetet? – Ja, dann kannst du ja hingehen und dich setzen.«
Pelle ging stumpfsinnig hin und setzte sich – ihm war jetzt alles ganz egal. Aber er fuhr mit einem Angstschrei in die Höhe und sah sich gehässig um, er hatte einen Hammer in die Hand genommen. Der entfiel ihm jetzt wieder, und nun weinte er aus allen Schleusen.
»Was zum Teufel stellt ihr da eigentlich mit ihm an?«
Der junge Meister kam aus der Zuschneidekammer herausgefahren. »Was für Niederträchtigkeiten habt ihr nun wiederausgeheckt?« Er ließ die Hand über den Stuhlsitz fahren, der mit abgebrochenen Pfriemenspitzen besetzt war. »Ihr seid teuflische Barbaren; man sollte glauben, daß man zwischen Wilden wäre!«
»Äh, so 'n Weichling,« höhnte Jeppe, »heutzutage darf man einen Jungen woll nich' mal ordentlich in die Lehre nehmen und ihn ein bißchen gegen die Geschwüre impfen. Man soll die Bengels woll vorn und hinten mit Honig salben, so wie die Könige von Israel? Aber du bist ja Freigeist!«
»Ihr sollt 'rausgehen, Vater!« schrie Meister Andres ganz außer sich. »Ihr sollt 'rausgehen, Vater!« Er zitterte und war ganz grau im Gesicht. Und dann schob der alte Meister ab, ohne Pelle den Schulterschlag gegeben und ihn ordentlich ins Handwerk aufgenommen zu haben.
Pelle saß da und besann sich, er war im Grunde verlegen. Aus allen den verblümten Andeutungen war etwas Schreckliches, aber zugleich auch Imponierendes emporgesproßt. Er hatte die Probe in seiner Phantasie zu etwas von dem aufgebauscht, was die großen Grenzscheiden im Leben setzt, so daß man auf der anderen Seite als ein ganz anderer hervorgeht, etwas in dem Sinne der geheimnisvollen Beschneidung in der Bibel – eine Einweihung zu dem Neuen. Und dann war das Ganze nur eine boshaft ersonnene Tortur!
Der junge Meister warf ihm ein paar Kinderschuhe hin, die zu besohlen waren; in das Fach aufgenommen war er also und brauchte sich nicht länger damit zu begnügen, Pechdraht für die anderen anzufertigen. Die Tatsache wollte sich nur nicht in Freude verkehren. Er saß da und kämpfte mit etwas Sinnlosem, das fortfuhr, aus seinem Grunde aufzusteigen; wenn es niemand sah, netzte er die Finger mit Spucke und strich sich über den Nacken hin. Er kam sich vor wie eine halbersoffene Katze, die sich aus dem Strick befreit hat und nun dasitzt und ihre Strähnen trocknen läßt.
Draußen unter den Apfelbäumen schwamm das Sonnenlicht golden und grün, und ganz weit hinten drin – drüben im Garten des Schiffers – gingen drei hellgekleidete Mädchen und spielten; sie glichen Wesen aus einer anderen Welt: Glückskindern am sonnenhellen Strande, wie es im Liede hieß. Von Zeit zu Zeit kam eine Ratte hinter dem Schweinekoben zum Vorschein und watete rasselnd in dem großen Haufen Glasscherben umher. Und das Schwein stand da und knaupelte verdorbene Kartoffeln in sich hinein, mit diesem verzweifelten Geräusch, das allen stolzen Zukunftsträumen Pelles ein Ende machte und ihn mit Sehnsucht erfüllte – ach, mit einer so unsinnigen Sehnsucht.
Daß auch alles mögliche auf ihn einstürmen mußte in diesem Augenblick, wo er sich eigentlich als Sieger fühlen sollte: alle Drangsale der Probezeit hier in der Werkstatt, die Straßenjungen, die Lehrlinge, die ihn nicht anerkennen wollten, alle seine eigenen Ecken und Kanten, mit denen er hier in der Fremde beständig anrannte. Und dann diese düstere Werkstätte selbst, wohin nie ein Sonnenstrahl kam – und der Respekt! Der Respekt, der bei ihm immer zu kurz kam.
Wenn der Meister nicht zugegen war, ließ sich der kleine Nikas zuweilen zu einem Geplauder mit den ältesten Lehrlingen herab. Dann konnten Äußerungen fallen, die Pelle neue Gesichtskreise eröffneten – und er mußte fragen; oder sie sprachen von dem Lande da draußen, das Pelle besser kannte, als sie alle zusammen, und er plumpste mit einer Berichtigung heraus. Klatsch, war die Ohrfeige da, so daß er in die Ecke trundelte; er hatte seinen Mund zu halten, bis man sich an ihn wandte. Aber Pelle, der Augen und Ohren gebrauchte und mit Vater Lasse über alles im Himmel und auf Erden geschwatzt hatte, der konnte es nicht lernen, den Mund zu halten.
Sie trieben mit harter Hand ein jeder sein Quantum Respekt ein, von den Lehrlingen bis zu dem alten Meister, der vor Fachstolz beinahe platzte; nur Pelle hatte keine Ansprüche auf irgend etwas, er mußte Steuer an alle sie zahlen. Der junge Meister war der einzige, der sich nicht wie ein Joch auf den Kindersinn des Jungen legte. Licht wie er war, konnte er gleichgültig über den Gesellen und das Ganze hinwegsetzen und zufällig da niederplumpsen, wo Pelle saß und sich klein fühlte.
Da draußen brach sich die Sonne auf eine eigene Weise in den Bäumen, es kam ein eigentümlicher Ton in das Gezwitscher der Vögel, das war um die Zeit, wo die Kühe nach dem Wiederkäuen des Nachmittags aufstanden. Und da kam ein Junge aus den kleinen Tannen heraus und knallte aufs lustigste mit der Peitsche, der General des Ganzen, Pelle, der Junge, der keinen Menschen über sich hatte. Und die Gestalt, die dort über die Äcker dahergestolpert kam, um die Kühe umzupflöcken – das war ja Lasse!
Vater Lasse, ja!
Er konnte nichts dafür, aber es entrang sich ihm ein Schluchzen, es überkam ihn so sinnlos. »Halt's Maul!« rief der Geselle drohend. Und dann war es ganz um ihn getan, er machte nicht einmal den Versuch, dagegen anzugehen.
Der junge Meister kam hin und nahm etwas von dem Bort über seinem Kopf, er lehnte sich vertraulich auf Pelles Schulter, das schwache Bein hing frei und baumelte. Er stand eine Weile da und starrte in die Luft hinaus – zögernd; und diese warme Hand auf der Schulter des Knaben sprach ihn zur Ruhe.
Aber von Frohwerden konnte keine Rede sein, jetzt, wo er deutlich wußte, daß das Ganze Vater Lasse war – so eine schreckliche Sehnsucht. Er hatte den Vater nicht gesehen seit jenem hellen Morgen, als er selber auszog und den Alten in Einsamkeit zurückversinken ließ; gehört hatte er auch nicht von ihm, er hatte kaum einen Gedanken zu ihm hinausgesandt. Er hatte mit heiler Haut durch den Tag hindurchzukommen und sich anzupassen; eine ganz neue Welt war da, die man absuchen, in der man sich zurechtfinden mußte. Pelle hatte ganz einfach keine Zeit gehabt; die Stadt hatte ihn verschlungen.
Aber in diesem Augenblick stieg es vor ihm auf als die größte Treulosigkeit, die die Welt je gekannt hatte. Und in seinem Nacken fuhr es fort zu schmerzen, – er mußte irgendwohin, wo ihn niemand sah. Er machte sich etwas draußen auf dem Hof zu schaffen, ganz unten hinter dem Waschhaus, und kauerte sich in das Brennholzloch beim Brunnen.
Da lag er und kroch in schwarzer Verzweiflung zusammen, weil er Vater Lasse so schändlich im Stich gelassen hatte, über all dieses Neue und Fremde. Ja, und damals, als sie zusammen arbeiteten, war er ja auch weder so gut noch so sorgfältig, wie er hätte sein sollen. Es war wohl im Grunde Lasse, der – so alt er war – sich für Pelle opferte, ihm die Arbeit erleichterte und die Lasten auf sich nahm, obwohl Pelle die jüngeren Schultern hatte. Ein wenig hart war er auch gewesen damals, als das mit Madam Olsen über dem Vater zusammenbrach; und mit seinem gemütlichen Greisengeschwätz, wofür Pelle jetzt, wenn er ihm lauschen könnte, Leben und Wohlfahrt hingeben würde, hatte er damals so wenig Nachsicht gehabt. Er erinnerte sich nur allzudeutlich des einen und des anderen Falles, wo er nach Lasse gebissen hatte – ihn dahingebracht hatte, sich in einem Seufzer festzufahren. Denn Lasse biß ja nicht wieder – er schwieg nur so trübselig.
Nein, wie schrecklich das war! Pelle warf alle Großmächtigkeit über Bord und gab sich der Verzweiflung hin. Was sollte er hier, wenn der alte Lasse einsam unter Fremden umherging und sich nicht zu schützen vermochte? Da war nichts, womit er sich trösten konnte, keine Ausflucht, Pelle erkannte brüllend, daß dies Treulosigkeit war. Und wie er so dalag und verzweifelt an den Gegenständen zerrte und sich lens brüllte, wuchs ein ganz männlicher Entschluß in ihm auf: er mußte all sein Eigenes aufgeben – die Zukunft und die große Welt und alles – und sein Leben dafür opfern, dem Alten das Dasein angenehm zu machen. Er mußte wieder nach Steinhof zurück! Er vergaß, daß er nur ein Kind war und eben das Essen für sich selbst verdienen konnte. Den alten krüppeligen Vater Lasse in allen Punkten decken und ihm das Leben leicht machen – das war gerade, was er wollte. Und Pelle war nicht danach angetan, daran zu zweifeln, daß er es vermochte. Mitten in seinem Zusammenbruch nahm er alle Pflichten eines starken Mannes auf sich.
Wie er dalag und vergrämt mit ein paar Stücken Brennholz spielte, teilten sich die Holunderzweige hinter dem Brunnen, und ein Paar große Augen starrten ihn verwundert an. Es war nur Manna.
»Haben sie dich geschlagen – oder warum weinst du?« fragte sie ernsthaft.
Pelle wandte das Gesicht ab.
Manna schüttelte die Locken zurück und sah ihn fest an:
»Haben sie dich geschlagen, wie? Wie, du? – Denn dann geh ich hin und schelt sie aus!«
»Was geht das dich an?«
»So antwortet man nicht – dann ist man nicht gebildet.«
»Ach, halt den Mund!«
Dann bekam er Ruhe; drüben im Hintergrund des Gartens kletterten Manna und die beiden kleineren Schwestern im Spalier herum, da hingen sie und starrten unverwandt nach ihm hinüber. Aber was ging das ihn an – er wollte nichts davon wissen, sich von Frauenröcken beklagen zu lassen und sie als Fürbitter zu haben. Es waren ein paar naseweise Dirnen, selbst wenn ihr Vater auf den großen Meeren fuhr und viel Geld verdiente; hätte er sie hier gehabt, würden sie Prügel von ihm besehen haben! Jetzt mußte er sich damit begnügen, die Zunge auszustecken.
Er hörte ihre entsetzten Ausrufe – aber was dann? Er wollte nicht mehr zu ihnen hinüberklettern und in dem Garten mit den großen Muscheln und Korallenblöcken spielen! Er wollte aufs Land hinaus und für seinen alten Vater sorgen! Hinterher, wenn das überstanden war, wollte er selbst in die Welt hinaussegeln und solche Sachen mit nach Hause bringen – ganze Schiffsladungen voll!
Von dem Werkstattfenster her wurde gerufen; »wo in aller Welt bleibt das Biest denn ab?« hörte er sie sagen. Er zuckte zusammen – er hatte ganz vergessen, daß er in der Schusterlehre war. Aber nun kam er auf die Beine und lief schleunigst hinein.
Pelle wurde schnell mit dem Aufräumen nach Feierabend fertig. Die anderen waren auf Lustbarkeiten ausgeflogen, er stand allein oben auf der Bodenkammer und sammelte sein Hab und Gut in den Sack. Da war eine ganze Sammlung von Herrlichkeiten: Dampfschiffe aus Blech, Eisenbahnzüge und Pferde, die inwendig hohl waren – alles, was er von den unwiderstehlichen Wundern der Stadt für fünf blanke Kronen hatte erwerben können. Das kam in die Wäsche hinein, um keinen Schaden zu leiden, den Sack schmiß er durch das Giebelfenster in den schmalen Gang hinab. Nun galt es, selbst durch die Küche hindurchzuschlüpfen, ohne daß Jeppes Alte Unrat ahnte; sie hatte Augen wie eine Hexe, und Pelle hatte ein Gefühl, als müsse ihm jeder Mensch ansehen können, was er vorhatte.
Aber es ging. Er schlenderte so beherrscht, wie es ihm nur möglich war, bis an die nächste Straßenecke, damit man glauben sollte, er trage Wäsche zur Wäscherin. Dann ging er in vollen Lauf über – es war Heimatsverlangen in ihm. Ein paar Straßenjungen schrien und warfen Steine hinter ihm drein, aber das war Pelle ganz einerlei, wenn er nur entkam; allem anderen gegenüber war er abgestumpft; Reue und Heimweh waren hart über sein Gemüt hingegangen.
Es war über Mitternacht, als er atemlos und mit hackender Milz draußen zwischen den Wirtschaftsgebäuden von Steinhof stand – er lehnte sich gegen die verfallene Schmiede und schloß die Augen, um besser zur Ruhe zu kommen. Sobald er sich verschnauft hatte, ging er von hinten in den Kuhstall hinein und auf die Kuhhirtenkammer zu. Der Fußboden des Futterganges kam ihm so bekannt unter den Füßen vor, und nun kam er im Dunkeln an dem großen Stier vorbei. Der sog Luft von seinem Körper ein und blies sie weit hinaus – ob er ihn noch kannte? Aber der Geruch in der Kuhhirtenkammer war ihm fremd. »Vater Lasse vernachlässigt sich wohl«, dachte er und zog das Federbett von dem Kopf des Schlafenden weg. Eine fremde Stimme fing an zu schimpfen. »Ist das denn nicht Lasse?« sagte Pelle; die Kniee schlotterten unter ihm.
»Lasse –?« rief der neue Kuhhirte aus und richtete sich auf. »Sagtest du Lasse? Kommst du, um das Gotteskind noch abzuholen, du Teufel? Sie sind schon aus der Hölle hier gewesen und haben ihn mitgenommen, bei lebendigem Leibe haben sie ihn dahin geführt, er war zu gut für diese Welt, weißt du. Der alte Satan war selbst hier und hat ihm Frauenzimmermaß genommen; ja, da mußt du ihn denn woll aufsuchen. Geh man immer geradeaus, bis du zu des Teufels Urgroßmutter kommst, nachher brauchst du dich denn bloß bis zu dem Zottigen weiterzufragen.«
Pelle stand eine Weile in dem unteren Hof und überlegte. Also durchgebrannt war Vater Lasse! – Und wollte sich verheiraten, oder war er am Ende schon verheiratet. Und mit Karna, das konnte er verstehen! Er stand kerzengerade da und versank in Traulichkeit; der große Hof lag in Mondlicht getaucht da – in tiefem Schlummer; und ringsumher spannen die Erinnerungen alles liebkosend in Schlaf – mit diesem gemütlichen Schnurren aus seiner Kindheit, wenn die kleinen Katzen auf seinem Kopfkissen schliefen und er die Wange gegen den weichen, zitternden Körper legte.
Pelles Sinne hatten tiefe Wurzeln. Einmal bei Oheim Kalles hatte er sich in die große Zwillingswiege gelegt und sich von den anderen Kindern wiegen lassen – er war damals wohl neun Jahre alt. Als sie ihn eine Weile gewiegt hatten, gewann die Situation Macht über ihn; er sah eine räucherige Balkendecke, die nicht zu Kalles Haus gehörte, hoch über seinem Kopf schlingern und hatte das Gefühl, daß eine eingemummelte ältere Frau wie ein Schatten hinter dem Kopfende saß und die Wiege trat. Die Wiege humpelte mit argen Stößen, und jedesmal, wenn der Fuß von den Gängeln glitt, schlug er mit dem Geräusch eines gesprungenen Holzschuhes auf den Fußboden auf. Pelle sprang auf – »sie humpelt ja«, sagte er verwirrt. – »So? Das hast du gewiß geträumt.« Kalle sah lachend unter die Gängel. »Humpelt«, sagte Lasse. »Das sollte doch erst recht was für dich sein! Damals, als du klein warst, konntest du nicht schlafen, wenn die Wiege nicht humpelte, wir mußten die Gängel ganz viereckig machen. Sie war beinah nicht zu treten, Bengta trat manch schönen Holzschuh kaputt, um dir und deiner Laune zu Willen zu sein.« – –
Der Hof hier war auch wie eine große Wiege, die in dem unsicheren Mondlicht ging und ging, und als Pelle sich erst ganz dahineingegeben hatte, wollte alles das, was aus den Kindheitsjahren dort aufstieg, kein Ende mehr nehmen. Das ganze Dasein mußte vorbei und über seinem Kopf hinwackeln wie damals, und die Erde mußte sich überall, wo nur ein dunkler Fleck war, zu Abgründen auftun.
Und das Weinen sickerte heraus – schicksalsschwanger – und übergoß das Ganze, so daß Kongstrup wie ein begossener Pudel von dannen schlich und die anderen böse und unregierlich wurden. Und Lasse – ja, wo war Vater Lasse?
Pelle stand mit einem Sprung in der Braustube und klopfte an die Tür zu der Mägdekammer.
»Bist du es, Anders?« flüsterte eine Stimme von drinnen, und dann tat sich die Tür auf, und ein paar Arme umfaßten ihn warm und zogen ihn hinein. Pelle stieß um sich, seine Hände sanken in einen nackten Busen – es war ja wohl die blonde Marie!
»Is Karna noch hier?« fragte er. »Kann ich nich' mal mit Karna sprechen?«
Sie freuten sich, ihn wieder zu sehen, die blonde Marie faßte ihn ganz warm um die Wangen – es war kurz davor, daß sie ihn auch küßte. Karna konnte sich gar nicht von ihrer Überraschung erholen, solche städtische Haltung, wie er gekriegt hatte. »Und jetzt bist du also Schuster in der größten Werkstatt der Stadt – ja, wir haben es gehört, Schlachter Jensen hat es auf dem Markt zu wissen gekriegt. Und groß bist du geworden und stadtfein! Du hältst dich gut!« Karna zog sich an.
»Wo is Vater Lasse?« fragte Pelle nun; er hatte einen Kloß im Halse, wenn er den Vater nur nannte.
»Ja, ja, laß mir man Zeit, denn will ich dich hinbegleiten. – Wie fein in Zeug du doch geworden bist, ich hätt' dich beinah' gar nich' wiedergekannt. Nich', Marie?«
»Er is 'n süßen Jung – das is er immer gewesen«, sagte Marie und stieß mit dem hochspannigen Fuß nach ihm – sie war wieder im Bett.
»Es is derselbe Anzug, den ich immer gehabt habe«, sagte Pelle.
»Ja, ja, aber dann trägst du ihn anders – da in der Stadt sehen sie ja all' wie die Grafen aus. Woll'n wir denn geh'n?«
Pelle sagte der blonden Marie freundlich Lebewohl, es fiel ihm ein, daß er ihr viel zu verdanken habe. Sie sah ihn so sonderbar an und wollte seine Hand unter das Oberbett ziehen.
»Was is es denn mit dem Vater?« fragte er ungeduldig, sobald sie draußen waren.
Ja, Lasse, der hatte also Reißaus genommen! Er hatte es nicht aushalten können, als Pelle fort war. Die Arbeit war auch zu schwer für einen. Wo er sich im Augenblick aufhielt, wußte Karna auch nicht zu sagen – »er is bald hier, bald da und sieht sich Grund und Boden an«, sagte sie stolz. »Du kannst eines schönen Tages auf seinen Besuch in der Stadt gefaßt sein.«
»Wie steht es denn sonst hier?« fragte Pelle.
»Hm, Erik hat ja seine Sprache wiedergekriegt und fängt an, wieder Mensch zu werden – er kann sich nu doch verständlich machen. Und Kongstrup und seine Frau die saufen um die Wette.«
»Sie saufen zusammen, so wie der Holzschuhmacher und seine Alte?«
»Ja, und zwar so, daß sie oft in den Stuben da oben liegen und schwimmen und sich vor Spiritusnebel nich' sehen können. Hier geht alles schief, das kannst du dir wohl denken, herrlos – wehrlos, sagt ein altes Sprichwort. Aber was soll man dazu sagen, weiter haben sie ja nichts nich' gemein! Denn das Beste zwischen ihnen, damit is es ja aus. – Aber mir is es ganz egal, denn sobald Lasse was gefunden hat, lauf ich hier weg.«
Das konnte Pelle gut verstehen – er hatte nichts dagegen.
Karna sah ihn staunend von Kopf zu Fuß an, während sie weitergingen: »Ihr lebt woll höllisch fein, da in der Stadt?«
»Ja – 'ne essigsaure Suppe und ranzigen Speck, hier haben wir weit besser gelebt.«
Sie wollte es nicht glauben, es klang zu töricht: »Aber wozu is denn all das, was sie in den Kaufmannsläden haben, all die Eßwaren und das Gebäck und die süßen Sachen – wo bleibt das denn all?«
»Das weiß ich nich'«, sagte Pelle mürrisch – er hatte selbst über diese Frage nachgegrübelt. »Ich krieg, so viel ich essen kann, aber für Wäsche und Kleider muß ich selbst sorgen.«
Karna konnte sich gar nicht von ihrem Schreck erholen, sie hatte die Sache so angesehen, als sei Pelle schon zu Lebzeiten in den Himmel aufgenommen. »Aber wie machst du das denn?« sagte sie bekümmert, »das kann ja schwer genug für dich werden. – Ja, ja, sobald wir erst den Fuß unter den eigenen Tisch setzen, woll'n wir dir nach besten Kräften helfen.«
Oben an der Landstraße trennten sie sich, und Pelle machte sich müde und niedergeschlagen auf den Rückzug. Es war fast Tag, als er wieder anlangte, er kam ins Bett, ohne daß jemand etwas von dem Fluchtversuch merkte.