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VIII

Jeppe war so ungefähr mit der halben Insel verwandt, aber es interessierte ihn nicht gleich stark, die Verwandtschaft zu entwirren. Es war eine leichte Sache für ihn, ganz oben bei dem Stammvater der Familie anzufangen und das Geschlecht bis zweihundert Jahre hindurchzuführen, die einzelnen Glieder vom Lande in die Stadt, über das Meer und zurück zu verfolgen und nachzuweisen, daß Andres und der Stadtrichter Vettern zweiten Grades sein müßten. Aber wenn dann irgendein kleiner Mann sagte: »Wie war es doch, waren nicht mein Vater und der Meister Geschwisterkinder?« so antwortete Jeppe kurz: »Mag sein, aber die Suppe wird allmählich zu dünne – diese Verwandtschaft.«

»Dann sind Sie und ich ja, weiß Gott, Halbvettern, – und Sie sind auch mit dem Stadtrichter verwandt!« sagte Meister Andres, der andern gerne eine Freude gönnte. Die Armen sahen ihn dankbar an und fanden, daß er so gute Augen hatte – ein Jammer, daß es ihm nicht vergönnt sein sollte zu leben.

Außerdem war Jeppe auch der älteste Handwerksmeister in der Stadt, und unter den Schustern hatte er die größte Werkstatt. Tüchtig war er auch, oder vielmehr, er war es gewesen; er besaß noch die Handfertigkeit der alten Zeit, wo es sich um schwierige Gebiete handelte, um die die Entwicklung gern den Weg herumlegte oder über die sie mit einer Erfindung hinwegsetzte. Zungen- und Zugstiefel hatten das Walken überflüssig gemacht; aber die gute Kunst hatte noch ihren guten Ruf. Und wenn irgendein alter Knopf zu den Meistern kam und Halbstiefel aus Fettleder ohne die neumodischen Teufelskünste haben wollte, so mußte er zu Jeppe gehen – niemand konnte einen Spann walken wie er. Auch wenn es auf die Behandlung des dicken Fettleders zu Seestiefeln ankam, war Jeppe der Mann. Eigensinnig war er auch und lehnte sich hartnäckig gegen alles Neue auf, wo alle andern sich verlocken ließen. Dadurch wurde er noch mehr der Träger der alten Zeit, und man hatte Respekt vor ihm.

Die Lehrlinge waren die einzigen, die ihn nicht respektierten, sie taten alles, um ihn totzuärgern, als Vergeltung für seine harte Fachhand. Alles legten sie darauf an, ihn zu foppen, die selbstverständlichsten Dinge führten sie auf eine verblümte Art aus, um den alten Jeppe mißtrauisch zu machen; wenn er sie dann ausspionierte und sie bei etwas ertappte, das sich als nichts erwies, hatten sie einen großen Tag.

»Was soll das heißen? Wo willst du ohne Erlaubnis hin?« fragte Jeppe, wenn einer von ihnen aufstand, um in den Hof hinauszugehen; er vergaß immer wieder, daß die Zeiten sich verändert hatten. Sie antworteten nicht, und dann geriet er in Harnisch. »Ich bitt' mir Respekt aus!« rief er und stampfte auf den Fußboden, so daß der Staub um ihn aufwirbelte. Meister Andres erhob langsam den Kopf. »Was habt Ihr nur einmal wieder, Vater?« fragte er müde. Dann stürzte Jeppe hinaus und wütete gegen die neue Zeit.

Wenn Meister Andres und der Gehilfe nicht zugegen waren, ergötzten sie sich damit, den Alten in Wut zu versetzen; das wurde ihnen nicht schwer, er erblickte überall Aufsässigkeit. Dann griff er nach einem Spannriemen und fing an, auf den Sünder loszuprügeln. Aber der schnitt die merkwürdigsten Grimassen und gab einen sonderbar glucksenden Laut von sich. »Da, nimm das, obwohl es mir leid tut, zu harten Mitteln zu greifen!« fauchte Jeppe. »Und auch das! – und das! Denn das gehört mit dazu, wenn das Fach bestehen soll.« Dann versetzte er dem Jungen etwas, das schwach an einen Fußtritt erinnern konnte, und stand da und rang nach Atem. »Du bist ein schwieriger Junge – willst du das eingestehen?« – »Ja, meine Mutter schlug jeden zweiten Tag einen Besenstiel auf mir kaputt«, antwortete Peter, der Schurke, und schnob. »Ja, da siehst du's! Aber es kann noch alles gut werden! Die Grundlage is ja nich' schlecht!« Jeppe trippelte hin und her, die Hände hinten auf dem Rücken. Den Rest des Tages war er feierlich gestimmt und bemühte sich, etwaige Spuren der Strafe zu verwischen. – »Es war ja nur zu eurem eigenen Besten!« sagte er versöhnlich.

Jeppe war ein leiblicher Vetter des verrückten Anker, aber er machte am liebsten keinen Gebrauch davon; der Mann konnte ja nicht dafür, daß er verrückt war, aber er lebte schimpflicherweise davon, Sand auf der Straße zu verkaufen, – ein fachgelernter Bürger. Tagtäglich sah man Ankers lange, dünne Gestalt auf der Straße mit einem Sack voll Sand über dem flachen Nacken; er trug einen blauen Twistanzug und weißwollene Strümpfe, das Gesicht war leichenfahl. Es war keine Faser Fleisch an ihm. »Das kommt von all dem Grübeln,« sagten die Leute – »seht doch den Adjunkt an!«

In der Werkstatt ließ er sich nie mit seinem Sandsack blicken – er war bange vor Jeppe, der jetzt der Älteste der Familie war. Sonst ging er mit seinen klappernden Holzschuhen überall ein und aus; und die Leute kauften von ihm, da sie doch Fußbodensand haben mußten und sein Sand ebenso gut war wie der aller andern. Er brauchte fast nichts für seinen Unterhalt, die Leute behaupteten, er nähme niemals Nahrung zu sich, sondern ernähre sich von innen heraus. Von dem Geld, was er einnahm, kaufte er Material für die neue Zeit; und was dann noch übrigblieb, warf er in seinen großen Augenblicken von seiner hohen Treppe herab. Die Straßenjungen kamen immer gelaufen, wenn der Ruf verkündete, daß der Wahnsinn mit der neuen Zeit über ihn gekommen war.

Er und Bjerregrav waren Jugendfreunde, sie waren früher unzertrennlich gewesen, und keiner wollte seine Pflicht tun und sich verheiraten, obwohl sie in der Lage waren, Frau und Kinder zu versorgen. In dem Alter, wo andere davon in Anspruch genommen sind, sich bei Frauen einzuschmeicheln, liefen die beiden, den Kopf voll Trödelkram, herum: Freiheit und Fortschritt und anderes mehr von dem Teufelskram, der die Leute verrückt macht. Es wohnte damals ein schlimmer Aufrührer bei Bjerregravs Bruder; er hatte viele Jahre auf Christiansö gesessen, aber jetzt hatte ihm die Regierung gestattet, den Rest seiner Gefangenschaft hier zu verleben. Dampe hieß er – Jeppe kannte ihn aus seiner Lehrzeit in der Hauptstadt; er hatte sich das Ziel gesetzt, Gott und König zu stürzen. Es nützte ihm nun freilich nichts, denn er wurde gestürzt wie ein zweiter Luzifer und durfte seinen Kopf nur aus lauter Gnade behalten. Ihm schlossen sich die beiden jungen Leute an, und er verdrehte ihnen den Kopf mit seiner vergifteten Rede, so daß sie anfingen über Dinge zu grübeln, von denen gewöhnliche Menschen sich am liebsten fernhalten sollen. Bjerregrav kam mit einigermaßen heiler Haut davon, aber Anker mußte mit seinem Verstand dafür büßen. Obwohl sie beide ihr reichliches Auskommen hatten, grübelten sie hauptsächlich über die Armut nach, als ob da etwas Besonderes zu entdecken sei!

Das lag jetzt eine Reihe von Jahren zurück – es war um die Zeit, als der Freiheitswahnsinn ringsumher in den Ländern in Blüte stand mit Aufruhr und Brudermord. So schlimm ging es nun wohl nicht her, denn weder Anker noch Bjerregrav waren sehr kriegerisch; aber jeder konnte doch sehen, daß die Stadt anderen Orten in der Welt nicht nachstand. – Hier ging die Eitelkeit auf die Stadt immer mit Meister Jeppe durch, im übrigen aber hatte er nur verurteilende Worte für die ganze Sache. Noch immer konnte es vorkommen, daß er sich mit Bjerregrav in die Haare geriet, wenn die Rede auf Ankers Unglück kam.

»Dampe, ja,« sagte Jeppe wütend, »der hat euch beiden den Kopf verdreht.«

»Das lügst du«, stammelte Bjerregrav. »Anker nahm erst später Schaden – nachdem uns König Friedrich die Freiheit geschenkt hatte. Und is es auch nur schwach bestellt mit meinen Fähigkeiten, so hab ich doch Gott sei Dank meinen Verstand!« Bjerregrav führte feierlich die Finger der rechten Hand an die Lippen, das wirkte wie ein verwischtes Überbleibsel von dem Zeichen des Kreuzes.

»Du und dein Verstand!« zischte Jeppe höhnisch – »Du, der du dein Geld dem ersten besten Landstreicher hinschmeißt! Und einen abscheulichen Aufwiegler verteidigst, der nich' einmal des Tages ausging wie andere Leute, sondern sich des Nachts herumtrieb.«

»Ja, denn er schämte sich der Menschen, er wollte die Welt schöner gestalten!« Bjerregrav errötete vor Scham, daß er das gesagt hatte.

Aber Jeppe fuhr aus dem Häuschen vor Hohn. »Na! also, die Zuchthauskandidaten schämen sich der anständigen Leute? – Also darum machte er seine nächtlichen Spaziergänge? Ja, die Welt würde allerdings schön werden, wenn sie mit Leuten wie du und Dampe angefüllt würde.« – –

Das Traurige bei Anker war, daß er ein so guter Handwerker war. Er hatte die Uhrmacherei vom Vater und Großvater geerbt, und seine Bornholmer Schlaguhren waren über die ganze Welt bekannt – es kamen Bestellungen für ihn aus Fühnen, wie aus der Hauptstadt. Damals, als das Grundgesetz (Konstitution) gegeben wurde, gebärdete er sich wie ein Kind – als wenn man hier auf der Insel nicht immer Freiheit gehabt habe! Das sei die neue Zeit, sagte er, und ihr zu Ehren wollte er in seiner unsinnigen Freude eine kunstfertige Uhr machen, die den Mond anzeigen und angeben sollte, welch Datum es war und in welchem Jahr und Monat man sich befand. Tüchtig war er, und er brachte es auch fertig, aber dann hatte er den Einfall, daß die Uhr auch das Wetter anzeigen sollte. Wie so manch anderer, dem Gott Gaben verliehen hat, wagte er sich zu weit hinaus und wollte mit dem lieben Gott selber wetteifern. Aber da wurde er gebremst –, das Ganze war nahe daran, in die Binsen zu gehen. Lange Zeit hindurch nahm er es sich sehr zu Herzen, aber als die Arbeit fertig dastand, war er doch froh. Man bot ihm viel Geld für sein Kunstwerk, und Jeppe riet ihm, zuzuschlagen; aber verschroben, wie er nun einmal war, antwortete er: »Das hier läßt sich nicht mit Geld bezahlen. Alles, was ich sonst mache, hat Geldeswert, dies aber nicht. Kann jemand mich vielleicht kaufen?«

Lange war er im Zweifel darüber, was er mit seinem Werk tun sollte, aber dann eines Tages kam er zu Jeppe und sagte: »Jetzt weiß ich es, der Beste soll die Uhr haben –, ich schicke sie dem König. Er hat uns die neue Zeit geschenkt, und die soll diese Uhr anzeigen.« Anker schickte die Uhr ab, und nach einiger Zeit erhielt er 200 Taler durch die Amtskasse ausbezahlt.

Das war eine große Summe Geldes, aber Anker war nicht zufrieden – der hatte wohl ein Dankschreiben von des Königs eigener Hand erwartet. Er ging so wunderlich herum, alles ging ihm verkehrt, und nach und nach nistete sich das Verstörtsein bei ihm ein. Das Geld gab er den Armen, und er selbst trauerte darüber, daß die neue Zeit doch nicht gekommen sei. So arbeitete er sich immer tiefer in seine Verrücktheit hinein, es half alles nichts, wie sehr ihn Jeppe auch ausschalt und ihm zuredete. Schließlich kam er so weit, daß er sich einbildete, er sei dazu berufen, die neue Zeit zu schaffen – und da wurde er wieder fröhlich.

Drei, vier Familien in der Stadt von den Allerärmsten – so verkommen, daß die Sekten nichts mit ihnen zu schaffen haben wollten – scharten sich um Anker und hörten Gottes Stimme in seinem Rufen. »Sie verlieren ja nichts dabei, wenn sie sich unter einen verrückten Mann stellen«, sagte Jeppe höhnisch. Anker selbst achtete auf nichts, – er ging seinen eigenen Weg. Bald war er ein verkleideter Königssohn und war mit der ältesten Tochter des Königs versprochen – dann sollte die neue Zeit kommen! Oder wenn sein Gemüt ruhiger war, saß er da und arbeitete an einem unfehlbaren Uhrwerk, daß die Zeit nicht zeigen, sondern selbst die Zeit sein sollte – die neue Zeit.

Er kam hin und wieder in die Werkstatt, um Meister Andres den Fortschritt seiner Erfindung zu zeigen, – zu ihm hatte er eine blinde Zuneigung gefaßt. Jedes Jahr um die Neujahrszeit mußte der junge Meister einen Freiersbrief für ihn an des Königs älteste Tochter schreiben und es auf sich nehmen, ihn in die rechten Hände zu befördern; von Zeit zu Zeit kam Anker angerannt, um zu fragen, ob eine Antwort eingetroffen sei, und zu Neujahr ging ein neuer Freiersbrief ab. Meister Andres hatte sie alle liegen.


Eines Abends gleich nach Feierabend donnerte es an die Werkstattür. Draußen auf der Diele ertönte ein Marsch. »Könnt ihr denn nicht aufmachen?« rief eine feierliche Stimme, »der Prinz ist da!«

»Pelle – schnell mach die Tür auf!« sagte der Meister.

Pelle riß die Tür weit auf, und Anker marschierte herein. Er hatte einen Papierhut mit wehendem Büschel auf und trug Epaulettes aus Papierfransen; sein Gesicht strahlte, indem er mit der Hand an dem Hut dastand und den Marsch ersterben ließ. Der junge Meister erhob sich munter und schulterte das Gewehr mit seinem Stock.

»Königliche Majestät,« sagte er, »wie geht es mit der neuen Zeit?«

»Es geht gar nicht«, antwortete Anker und wurde ernsthaft. »Mir fehlen die Lote, die das Ganze im Gang halten sollen.« Er stand da und starrte zu Boden; in seinen Schläfen arbeitete es rätselhaft.

»Sie sollen wohl aus Gold sein?« Es blitzte in den Augen des Meisters, aber er war der personifizierte Ernst.

»Sie sollen aus Ewigkeitsstoff sein,« erwiderte Anker unwillig, – »und der muß erst erfunden werden.«

Lange stand er da und starrte mit seinen grauen Augen leer vor sich hin, ohne etwas zu sagen. Er rührte sich nicht, nur in seinen Schläfen fuhr es fort zu arbeiten, als nage dort irgendein Wurm, der heraus wolle. Es wurde schließlich unheimlich; Ankers Schweigen konnte sein wie die Dunkelheit, die um einen her lebendig wird. Pelle saß da und bekam Herzklopfen.

Dann ging der Verrückte hin und beugte sich über des jungen Meisters Ohr. »Ist Antwort vom König gekommen?« fragte er mit einem schneidenden Flüstern.

»Nein, noch nich'! Aber ich erwarte sie jeden Tag. Ihr könnt ganz ruhig sein«, gab der Meister flüsternd zurück. Anker stand wieder eine Weile stumm da, – es sah so aus, als denke er nach, aber auf seine eigene Weise. Dann machte er kehrt und marschierte hinaus.

»Geh hinter ihm drein und sieh zu, daß er gut nach Hause kommt«, sagte der Meister. Seine Stimme klang jetzt traurig. Pelle folgte dem Uhrmacher die Straße hinab.

Es war Sonnabendabend, die Arbeiter befanden sich auf dem Wege abwärts von den großen Steinbrüchen und den Tonwerken, die eine halbe Meile oberhalb der Stadt lagen. Sie kamen in dichten Scharen, den Vorratskasten auf dem Rücken und eine Bierflasche vorn, um das Gleichgewicht zu halten. Die Stöcke schlugen hart auf das Steinpflaster, und es stoben Funken aus den eisernen Absätzen unter den Holzschuhen. Pelle kannte diesen müden Gang, der war, als wenn die Last und die Müdigkeit selbst sich über die Stadt hinabwälzten. Und er kannte die Laute aus den schweigsamen Reihen, diese knurrenden Laute, wenn dieser oder jener unversehens eine unfreiwillige Bewegung mit den steifen Gliedern machte und vor Schmerz stöhnen mußte. Aber heute abend warfen sie einander Bemerkungen zu, und etwas, das einem Lächeln glich, durchbrach den krustenähnlichen Steinstaub in ihren Gesichtern – es war der Widerschein der neun blanken Kronen, die nach der mühseligen Arbeit der Woche in ihrer Tasche lagen. Einige von den Arbeitern mußten auf die Post, um die Lose zu erneuern oder um Aufschub zu bitten; hin und wieder wollte einer in ein Wirtshaus einkehren und wurde noch im letzten Augenblick von einer Frau mit einem Kind an der Hand abgefangen.

Anker stand auf dem Bürgersteig still, das Gesicht ihnen zugewandt, während sie vorüberzogen. Er hatte den Kopf entblößt, der mächtige Federbüschel hing zur Erde hinab; er sah bewegt aus, es schien etwas in ihm aufzuquellen, was nicht zu Worte kommen konnte, es wurde zu einzelnen unverständlichen Lauten. Die Arbeiter schüttelten trübselig den Kopf, indem sie weiter trabten; ein vereinzelter junger Bursche schleuderte ihm eine übermütige Bemerkung zu. »Behalt doch den Hut auf, es is kein Leichenzug!« rief er. Ein paar fremde Seeleute kamen über den Hafenhügel dahergeschlendert; sie trieben sich auf der Straße im Zickzack hin und her, spien in alle Straßentüren hinein und lachten übermäßig darüber. Einer von ihnen ging mit ausgestrecktem Arm geradeswegs auf Anker zu, strich ihm den Hut ab und schritt, den Arm in der Luft, weiter, als sei nichts geschehen. Plötzlich aber drehte er sich herum. »Was, machst du dich noch mausig?« und ging dem Verrückten zu Leibe, der sich erschrocken zur Wehr setzte. Dann kam ein anderer Seemann gelaufen und schlug Anker in die Kniegelenke, so daß er umfiel. Er lag da und schrie und stieß vor Entsetzen mit den Füßen, und die ganze Schar warf sich über ihn.

Die Jungen zerstreuten sich nach allen Seiten, um Steine zu sammeln und Anker zu Hilfe zu kommen; Pelle stand da, sein Körper zuckte krampfhaft, als wolle das alte Leiden wieder über ihn kommen. Einmal über das andere sprang er vor, aber in ihm versagte etwas, – die Krankheit hatte ihm den blinden Mut geraubt.

Da war ein blasser, schmächtiger Junge, der nicht bange war. Er ging mitten zwischen die Seeleute, um sie von dem Irren fortzuziehen, der ganz wild unter ihren Händen geworden war. »Er is ja nich' bei Verstand!« rief der Junge, wurde aber mit blutendem Gesicht weggeschleudert.

Das war Morten, der Bruder von Jens in der Werkstatt. Er war so wütend, daß er weinte.

Ein großer Mann kam aus der Dunkelheit herausgeschwankt, er ging dahin und redete halblaut mit sich. »Hurra!« schrien die Jungen, »da kommt die Kraft!« Aber der Mann hörte nichts, er machte halt bei den Kämpfenden und stand leise schwatzend da. Seine Riesengestalt segelte über ihnen hin und her. »Vater, hilf ihm«, rief Morten. Der Mann lächelte töricht und fing langsam an, seine Jacke auszuziehen. »So hilf ihm doch!« brüllte der Junge ganz außer sich und zerrte den Vater am Arm. Jörgensen streckte die Hand aus, um seinem Jungen die Wange zu streicheln, da sah er, daß er Blut im Gesicht hatte. »Hau sie!« schrie der Junge wie besessen. Da ging ein Ruck durch den Hünen, ungefähr so, als wenn eine schwere Last in Bewegung gesetzt wird; dann beugte er sich ein wenig wackelnd nieder und fing an, die Seeleute zur Seite zu werfen. Einer nach dem andern standen sie einen Augenblick da und fühlten die Stellen, wo er hingepackt hatte, – und dann rannten sie, was das Zeug halten wollte, dem Hafen zu.

Jörgensen stellte den Verrückten wieder auf die Beine und begleitete ihn nach Hause. Pelle und Morten folgten Hand in Hand hinterdrein. Eine eigene Befriedigung durchströmte Pelle – er hatte die Kraft selbst in Wirksamkeit gesehen, und er hatte einen Kameraden bekommen.

Seit jenem Tage wurden die beiden unzertrennlich, die Freundschaft brauchte nicht erst an Stärke zu wachsen, sie stand da und beschattete sie mächtig, magisch aus den Herzen hervorgezaubert. In Mortens schönem, bleichen Antlitz lag etwas Namenloses, das das Herz in Pelle pochen machte, alle bekamen auch eine sanftere Stimme, wenn sie mit ihm sprachen. Pelle begriff offen gestanden nicht, was an ihm selber anziehend sein konnte; aber er badete sich in dieser Freundschaft, die wie wohltuender Regen auf seinen verheerten Sinn fiel.

Morten stellte sich in der Werkstatt ein, sobald Feierabend war, oder er stand oben an der Ecke und wartete – sie liefen immer, wenn sie sich treffen wollten. Wenn Pelle noch nach Feierabend arbeiten mußte, ging Morten gar nicht aus, sondern saß auf der Werkstatt und unterhielt ihn. Er las sehr gern und erzählte Pelle von dem Inhalt der Bücher.

Durch Morten kam Pelle Jens auch näher und entdeckte, daß er viele gute Eigenschaften unter den verhutzelten hatte. Jens hatte ja das verzagte, zerbrochene Wesen, worin Kinder instinktiv ein verachtetes Heim wittern. Pelle hatte im Grunde vermutet, daß sie aus der Armenkasse unterstützt würden; er begriff es nicht, wie ein Junge darunter leiden konnte, daß sein Vater ein Hüne war, der der ganzen Stadt Schrecken einjagte. Jens war so dick an der Nasenwurzel und sah schwerhörig aus, wenn jemand ihn anredete. »Er hat so viel Prügel gekriegt«, sagte Morten. »Vater konnt' ihn nich' ausstehn, weil er dumm is.« Klug war er nicht, aber er konnte die wunderbarsten Melodien mit den bloßen Lippen pfeifen, so daß die Leute stillstanden und ihm lauschten.


Pelle hatte nach seiner Krankheit jetzt ein eigenes Ohr für alles; er ließ nicht mehr unbekümmert wie ein Kind die Wellenschläge über sich hingehen, sondern streckte selbst die Fühler aus – er suchte etwas. Gar zu einfach hatte sich alles für ihn gestaltet, gar zu handgreiflich geradeaus war sein Traum vom Glück aufgebaut; er mußte leicht zerplatzen, und dann war nichts weiter dahinter, was trug. Jetzt hatte er das Bedürfnis, sich besser zu unterbauen, er forderte Nahrung von weiter her, und seine Seele war im Begriff sich hinauszuwagen; ganz hinaus in das Ungeahnte ließ er seine Fäden treiben, um sich zu befestigen. Das Ziel seines Sehnens mußte in das Unbekannte hinaus, sein Grauen holte er jetzt aus dem großen, mystischen Dadraußen, wo die Umrisse des rätselhaften Gottesangesichts verborgen liegen.

Der Gott der biblischen Geschichten und der Sekten war für Pelle nur ein Mensch gewesen, ausgestattet mit Bart und Gerechtigkeit und Gnade und dem Ganzen; er war nicht übel, aber die Kraft konnte doch noch stärker sein. Bisher hatte Pelle keinen Gott nötig gehabt, sondern hatte nur dunkel seine Zugehörigkeit zu der Alliebe gespürt, die sich aus den stinkenden Lumpenbündeln erhebt und den Himmel überschattet – in den wahnwitzigen Träumen der Verarmten, die aus tausend bitteren Entbehrungen eine Pilgerwanderung nach dem gelobten Lande erschaffen. Aber nun suchte er das, was sich nicht sagen läßt – das »tausendjährige Reich« erhielt einen eigenen Klang in seinen Ohren.

Anker war ja verrückt, wenn die andern es sagten; wenn sie lachten, dann lachte Pelle mit – aber es blieb etwas in ihm zurück, in erster Linie Reue darüber, daß er mitgelacht hatte. Pelle selbst wollte auch von seiner hohen Treppe herab Geld in die Grabbel werfen, wenn er reich würde; und fabelte Anker mit seltsamen Worten von einer Glückszeit für alle Armen – Vater Lasses Seufzer hatte doch von demselben wieder geklungen, solange er zurückdenken konnte. Der Grund von des Knaben Wesen wurde auch von demselben heiligen Schauer berührt, der Lasse und den andern da draußen auf dem Lande verbot, über Wahnsinnige zu lachen; denn Gottes Finger hatte sie berührt, so daß ihre Seelen in Gegenden schweiften, wohin kein anderer gelangen konnte. Pelle fühlte das Angesicht des unbekannten Gottes aus dem Nebel auf sich herabstarren.

Er war nach seiner Krankheit ein anderer geworden, seine Bewegungen hatten mehr Nachdenken bekommen, mitten in seinem runden Kindergesicht waren markierte Züge emporgesproßt. Die beiden Wochen Krankenlager hatten die Sorgen von ihm geschüttelt und sie als Ernst in seine Person eingegraben. Er ging still umher, ging und umgab sich in Einsamkeit – und beobachtete den jungen Meister, auf seine eigene nachdrückliche Weise. Er hatte den Eindruck, daß der Meister ihn auf die Probe stellte, und das tat ihm weh. Er wußte bei sich selbst, daß das, was vor der Krankheit lag, sich niemals wiederholen konnte, und wand sich fürchterlich unter dem Verdacht.

Eines Tages konnte er es nicht länger ertragen. Er nahm die zehn Kronen, die ihm Lasse gegeben hatte, um sich einen gebrauchten Winterüberzieher dafür zu kaufen, ging damit zu dem Meister in die Zuschneidekammer und legte sie auf den Tisch. Der Meister sah ihn mit seinem verwunderten Gesicht an, aber in seinen Augen dämmerte es.

»Was zum Teufel soll das?« fragte er langgezogen.

»Das is Meisters Geld«, sagte Pelle mit abgewandtem Gesicht. Meister Andres ließ seinen träumerischen Blick auf ihm ruhen. Der kam schon wie aus einer anderen Welt, und auf einmal verstand Pelle, was alle sagten – daß der junge Meister sterben müsse. Da brach er in Tränen aus.

Aber der Meister selbst verstand es ja nicht.

»Zum Kuckuck auch – das macht ja nichts, du!« und ließ den Zehnkronenschein in der Luft tanzen. »Herr, du meines Lebens – so viel Geld! Du bist aber nich' billig!« Er stand da und wußte weder aus noch ein, die Hand hatte er auf Pelles Schulter gelegt.

»Es stimmt,« flüsterte Pelle, »ich habe es genau ausgerechnet. Und der Meister muß mir nich' mißtrauen – ich will auch nie wieder – –«

Meister Andres machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, er wollte etwas sagen, bekam aber im selben Augenblick einen Hustenanfall. »Du Teufelsjunge«, stöhnte er und lehnte sich schwer gegen Pelle, er war blaurot im Gesicht. Dann kam das Erbrechen, der Schweiß perlte ihm über die Stirn. Er stand eine Weile da und ließ, nach Luft schnappend, das Leben wieder in sich zurückrinnen, steckte Pelle dann das Geld zu und schob ihn zur Tür hinaus.

Pelle war ganz niedergeschlagen. Die Gerechtigkeit hatte ihren Lauf nicht gehabt, und was würde dann aus der Rechtfertigung? Er hatte sich mächtig dazu gefreut, die ganze Schande jetzt loszuwerden. Aber am Spätnachmittag rief der Meister ihn zu sich herein in die Zuschneidekammer. »Du, Pelle,« sagte er vertraulich, »ich möchte gern mein Los erneuern, hab' aber kein Geld – kannst du mir nich' die zehn Kronen auf eine Woche leihen?« So kam es doch, wie es kommen sollte; es war seine Absicht, jetzt alle Schande von sich abzutun.

Jens und Morten halfen ihm dabei; sie waren jetzt ihrer drei, und Pelle hatte ein Gefühl, als habe er ein ganzes Heer im Rücken. Die Welt war nicht kleiner geworden und nicht weniger anziehend als früher durch die endlosen Niederlagen des Jahres. Von Grund aus und bis dahin, wo er selber stand, hatte Pelle sein sicheres Wissen – und das war bitter genug. Da unten lag nichts im Nebel, die Blasen, die hin und wieder an die Oberfläche aufstiegen und zerplatzten, versetzten ihn in kein mystisches Staunen über die Tiefe. Aber er fühlte sich auch nicht bedrückt dadurch, bedrückt von dem, – was so war, wie es eben sein mußte. Und über ihm wölbte sich die andere Halbkugel der Welt in himmelblauer Verwunderung und stimmte noch einmal wieder ihr fröhliches: Drauflos! an.


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