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Quellen: Albert Einstein: »Die Relativitätstheorie« in der Sammlung »Kultur der Gegenwart«, Band »Physik« unter Redaktion von E. Warburg. Verlag B. G. Teubner, Leipzig, 1915. – Albert Einstein: »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«. »Annalen der Physik«, Verlag von Ambrosius Barth, Leipzig, 1905. – E. Wiechert: »Die Mechanik im Rahmen der allgemeinen Physik«, Abhandlung in der »Physik«. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig. – Alexander Moszkowski, Aufsatz: »Das Relativitätsproblem« im »Archiv für systematische Philosophie«, herausgegeben von Ludwig Stein, 1911. – Dr. Hans Witte: »Raum und Zeit im Lichte der neueren Physik«. Verlag von Vieweg & Sohn, Braunschweig, 1914. – Max Born: »Einsteins Theorie der Gravitation und der allgemeinen Relativität«, »Physikalische Zeitschrift«, 17. Jahrgang. Verlag S. Hirzel, Leipzig. – Dr. Max Planck: »Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung«. Verlag S. Hirzel, Leipzig, 1910.
Hätte der im vorhergehenden Abschnitt geschilderte Versuch des Professors Michelson die Erwartung der Experimentierenden restlos erfüllt, so würde man darin eine schöne Bestätigung der gültigen Naturgesetze erblickt haben. Der vollkommen negative Erfolg nötigte zu einer anderen Auffassung. Da der Versuch als absolut genau anerkannt ward, mußte etwas anderes ungenau sein. Und in hartem Kampf mit ererbtem und erworbenem Denken entschlossen sich mehrere scharfsinnige Forscher zu einem radikalen Denkschritt:
Tatsächlich – anderes ist ungenau; und dieses andere sind die bis jetzt anerkannten Formen der Naturgesetze. In jenem Versuch trat ein Fehler zu Tage, und dieser war nur auf einem Weg zu beseitigen: durch die Annahme, daß der bisherige Ausdruck der großen Physikgesetze nicht absolut, sondern nur »in Annäherung« gültig sei. Konnte es gelingen, eine genauere Annäherung zu finden, dergestalt daß der Fehler verschwand, so öffnete sich ein neuer Weg für die Naturerkenntnis, vielleicht der von Denkern vorgeahnte »königliche Weg«. Es gelang! Der königliche Weg tat sich auf, und beim Fortschreiten aus ihm blickte das Auge in eine neue Welt, in der Raum und Zeit zu einer organischen 261 Einheit verschmolzen. Diejenigen Forscher, die sich in dieser vierdimensionalen Welt zurechtzufinden wußten, entschleierten Rätsel auf Rätsel, die bisher allen Anstrengungen der Physiker und Erkenner getrotzt hatten.
Der Begriff der »Annäherung« möge an einem Beispiel bildlich erörtert werden.
Ein ruhendes Gewässer, etwa die Oberfläche eines großen Binnensees, ist in »erster Annäherung« eine Ebene. Für die gewöhnliche Orientierung auf ihr reicht diese Annahme vollkommen aus, und man gerät mit keinem Naturgesetz in Widerspruch, wenn man an der Ebenheit des Wasserspiegels nicht zweifelt.
Aber vor einer gesteigerten Feinheit der Beobachtung hält diese Annahme nicht mehr Stand. Man muß da festsetzen: der Wasserspiegel ist nicht eben, sondern bildet den Teil einer Kugeloberfläche; weil sich ja die Form des Sees der Kugelform der Erde anschmiegt. Und diese »zweite Annäherung« muß vollzogen werden, um gewisse Erscheinungen zu erörtern, die bei gewöhnlicher Orientierung garnicht in Frage kommen.
Aber die Erde ist ja, noch genauer definiert, keine Kugel, sondern exakt gesprochen ein Rotationsellipsoid. Und auch dieser Eigenschaft paßt sich das Gewässer an. Der Seespiegel ist also in »dritter Annäherung« Teil einer ellipsoidischen Fläche.
Eine vierte Annäherung wäre denkbar. Die Atome in der Oberschicht des Wassers ordnen sich überhaupt nicht nach dem üblichen Begriff irgend einer Fläche, die doch einen regelmäßigen, stetigen Zusammenhang voraussetzt. Mit nonplusultramikroskopischen Augen bewaffnet, würden wir die atomistische Struktur des Wasserspiegels erkennen, für welche die elementaren Flächenbegriffe gar nicht ausreichen. Erst bei dieser »vierten Annäherung« würde vielleicht eine vollkommene Exaktheit erreicht werden.
Dieses Wasserspiegel-Gleichnis leite zu den Naturgesetzen über. Wohl wußte man schon lange, daß manche von ihnen (wie z. B. das Gasgesetz von Mariotte) nicht durchgreifend richtig waren. Aber an den Grundgesetzen der klassischen Mechanik wagte man nicht zu rütteln. In Sonderheit standen die von Newton ausgesprochenen, durch Gleichungen formulierten Gesetze in absoluter Sicherheit da und so unverrückbar wie etwa der pythagoreische Lehrsatz.
Bis man auf dem königlichen Weg erkannte, daß auch hier nur Näherungswerte vorlagen, Korrekturen erheischend, die zur allertiefsten Erkenntnis führen.
Die neuen Annäherungen in jenen Grundgesetzen ergeben sich, wenn man statt der dreidimensionalen Welt, in der wir zu leben meinen, eine vierdimensionale annimmt, in der die Zeit genau dieselbe Rolle spielt, wie die Länge, Breite und Höhe; in der wir für unsere Vorstellung nicht mehr getrennte 262 Projektionen empfangen, Raum einerseits – Zeit anderseits, sondern für jede einzelne Wahrnehmung: Raumzeit.
Der Nullpunkt der Zeit, der unaufhörlich sich verschiebende Gegenwartspunkt, auf den wir alle Erlebnisse beziehen, wird ungültig. Genau so ungültig wie ein angenommener Nullpunkt im unendlichen Raum. Die Frage nach einem solchen räumlichen Orientierungspunkt im Unbegrenzten, aus den man die Lage anderer existierender, sich bewegender Körper beziehen könnte, wäre an sich sinnlos. Und so müssen wir uns analog auch entschließen – wenn auch in einem geradezu athletischen Denkakt – von dem uns so geläufigen Gegenwartspunkt der Zeit loszukommen.
In der vierdimensionalen Welt ist das möglich, vornehmlich deshalb, weil in ihr der Begriff der »Gleichzeitigkeit«, den wir sonst als etwas Gegebenes und Selbstverständliches betrachten, sich als ein Phantom erweist. Die »Zeit« hat ihr Absolutes verloren, sie ist relativiert, und eine Zeitangabe erhält nunmehr erst dann einen bestimmten Sinn, wenn sie auf einen bestimmten Beobachter und dessen Geschwindigkeit bezogen wird. Zwei Ereignisse, die chronometrisch für eine Beobachtung als gleichzeitig gelten, zerfallen, anders bezogen, in Ungleichzeiten, mit veränderlichem Vorher und Nachher. Aller Geschwindigkeit übergeordnet wird die Lichtgeschwindigkeit, die in allen Geschehnissen nicht nur als ein begleitender, loszulösender Umstand, sondern als wesenbestimmender Faktor auftritt. Alle Erscheinungen einschließlich der körperlichen Form und Masse werden relativiert, alle erweisen sich als abhängig von der eigenen Geschwindigkeit in unauflöslicher Verbindung mit dem Lichttempo.
Anders werden die Fragen an die Natur in dieser Welt gestellt, anders beantwortet. Es entschleiert sich eine elektromagnetische Welt, welche die altmechanische in sich aufnimmt und sie auch dort noch erklärt, wo die früheren Erkenntnismethoden Unstimmigkeiten übrig ließen oder ganz versagten. Selbst die für unerschütterlich gehaltene Gravitationslehre nimmt ein anderes Gesicht an und findet neue Annäherungen an die Wahrheit. Um nur ein Beispiel zu nennen: in der Bahn der Planeten bliebe allen astronomischen Berechnungen zum Trotz bis in die neuesten Zeiten ein Element unerklärlich. Es war das Fortschreiten des Perihels der Merkurbahn um 43 (Bogen-)Sekunden in 100 Jahren. Alle erdenklichen Einbezüge von Planetenstörungen und alle zur Hilfe herbeigezogenen Hypothesen erwiesen sich als unwirksam. Erst in der relativierten Welt wurde des Rätsels Schlüssel gefunden: der Begründer der neuen Relativitätstheorie, Albert Einstein, brachte über Newton hinaus die zweite Annäherung zustande, und diese ergab genau den richtigen Betrag mit Einschluß jener 43 Sekunden in 100 Jahren!!
263 Auf vielerlei Weisen hat diese neue Weltanschauung die experimenta crucis bestanden, und es verschlägt nichts, daß man, um sie sich anzueignen, ganz ungeheure Denkschwierigkeiten bestehen muß. Ja man muß sogar durch scheinbaren Widersinn hindurch, um doch jenseits bei Sinn und Wirklichkeit zu landen. Wunder der Erkenntnis und Gegenwunder anscheinender Unmöglichkeit liegen hier bei einander.
Greifen wir einige dieser Gegenwunder heraus:
Die Begriffe »früher« und »später« sind der Vertauschung fähig. Das heißt ins Philosophische übersetzt: was für ein Bezugsystem Ursache ist, kann für ein anderes Wirkung werden und umgekehrt.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind relative, nach dem Standort wechselnde Begriffe.
Eine Masse, das Greif- und Wägbare eines Körpers, ist nicht mehr konstant. Die Masse verändert sich in der Bewegung und mit der Geschwindigkeit. Sie wird unendlich groß, wenn sie die Lichtgeschwindigkeit erreicht. Eine Flintenkugel, die diese Geschwindigkeit erzielte, würde dadurch schwerer als alle Erden, Sonnen und Siriusse zusammengenommen; alle Gewalten der Welt wären nicht mehr vermögend, ihr eine Beschleunigung zu erteilen.
Die Geschwindigkeit arbeitet aber auch in entgegengesetztem Sinn: während sie die Substanz verdickt, verdünnt sie die Figur. Eine sehr schnell bewegte Kugel verflacht sich und nähert sich bei immenser Beschleunigung einer Kreisoblate. Der Grenzfall wäre: ein Schatten ohne Körper, und zwar ein Schatten von unendlicher Schwere.
Die Liste der Gegenwunder könnte noch verlängert werden. Aber was dem ersten Blick als Absurdität erscheint, beruht im letzten Grund doch wohl auf überwindbaren Denkwiderständen. Vor Kopernikus war auch die Vorstellung der Antipoden ein Widersinn, und es bedurfte der Denkarbeit von Generationen, um sie der allgemeinen Begreiflichkeit anzupassen. In der Mathematik sind die Imaginärwerte an sich widersinnig; und sie bilden dennoch die Stützwerke des großen mathematischen Baus. Hier wie anderwärts wiederholt sich das Wunder vom Reiter über den Bodensee. Die Eisdecke ist so dünn, daß sie keinen Reiter zu tragen vermöchte. Naturlogik und Menschenlogik verlangen, daß er durchbricht. Aber er kommt hinüber, im Widersinn gegen die anschauliche Vorstellung und findet drüben festen Halt.
So ist auch das jenseitige Ufer der neuen Theorie, der Relativität, nur unter Gefahr zu gewinnen. Aber der Wagemutige, der hinüberkommt, sieht sich in einer unermeßlichen neuen Welt, in der auf Schritt und Tritt ungeahnte Wahrheitswunder erblühen. Und mit Bewunderung gedenkt er der Männer, 264 die ihm diesen Weg wiesen. Zu ihnen gehören die Physiker und Mathematiker Lorentz und Minkowski, vor allen aber der gewaltige Baumeister des neuen Relativitätsgebäudes, der Galilei des zwanzigsten Jahrhunderts: Albert Einstein.
Vor sieben Jahrhunderten lebte ein Wundermann der Naturlehre, der Graf von Bollstädt, der sich den Namen eines Großen, Albertus Magnus, errang. Die Bezeichnung Albertus Maximus ist noch frei. Es könnte sein, daß dieser Titel für Albert Einstein vorbehalten bleibt und ihm dereinst verliehen wird. 265