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Quelle: »Die Simplonlinie«. Herausgegeben vom Publizitätsdienst der Schweiz. Bundesbahnen in Bern, 1908.
Gegen ungeheure Schwierigkeiten, in zähestem, gigantischem Kampf gegen die feindselige Natur, die immer neue Schwierigkeiten den Vordringenden in den Weg warf, ist der ausgedehnteste aller Tunnel dem Gebirge abgetrotzt worden. Es war beschlossen, das gewaltige Bergmassiv des Simplon zu durchbohren, und alle Schrecken, welche die unheimlichen unterirdischen Mächte den Menschen entgegenwarfen, haben die Durchführung des Werks nicht verhindern können. Mens agitat molem – der Geist hat hier einen durchgreifenden Sieg über die Materie davongetragen.
Der Simplontunnel erstreckt sich geradlinig in einer Länge von 19 730 Metern, also von fast 20 Kilometern zwischen dem Bahnhof Domo d'Ossola, dem Endpunkt der italienischen Mittelmeerbahn, und der Station Brig auf der schweizerischen Seite. Er liegt unter allen Alpendurchstichen am tiefsten, an seiner höchsten Stelle 450 Meter tiefer als der Gotthard-Tunnel, 600 Meter tiefer als der Tunnel durch den Mont Cenis. Durch diese Basislage wurde die große Längenausdehnung bedingt.
Der Bau ist in der verhältnismäßig sehr kurzen Arbeitszeit von 6½ Jahren fertiggestellt worden. Die großen Fortschritte in der Tunnelbaukunst treten durch den Hinweis klar zu Tage, daß man für die Herstellung des im Jahre 1880 durchgeschlagenen, nur 15 Kilometer langen Gotthard-Tunnels, die weit weniger schwierig war, 8 Jahre, für den 1871 vollendeten 12 Kilometer langen Mont Cenis-Tunnel 13 Jahre gebraucht hat.
Am 13. August 1898 begannen die von der Firma Brandt, Brandau & Co. ausgeführten Arbeiten, am 24. Februar 1905 fiel die letzte Scheidewand, welche die von beiden Seiten vorgetriebenen Galerien trennte. Auf der ganzen Erde wurde dieser Durchschlag als ein Sieg des Menschengeschlechts gefeiert. Trotz 19 mancher Änderungen in der ursprünglichen Baurichtung wichen die Achsen der beiden Bauhälften beim Zusammentreffen nur um eine ganz geringfügige Erstreckung von einander ab, nämlich um 20 Zentimeter in der Wagerechten, 2,8 Meter in der Senkrechten, was einen außerordentlichen Erfolg der Meßtechnik bedeutete.
Riesenhoch türmten sich beim Bau des Simplontunnels immer von neuem die Schwierigkeiten, trotzig legte der Berg immer neue Hindernisse in den Weg. „Bald erhöhte er die Wärme im Innern zu unerträglicher Hitze, bald schob er heimtückisch weiches, bröckelndes Gestein in die zu erbohrende Bahn, bald suchte er mit lastender Masse das Gewölbe einzudrücken und bald ließ er wieder aus seinem Schoß mächtige kalte und warme Quellen, wahre Bergbäche, in die mühsam gebauten Stollen einbrechen, Vernichtung und Untergang drohend.
Bis zum November 1903 sollte nach der ursprünglichen Berechnung der Tunnel erbohrt sein. Nach den Fortschritten der ersten Zeit glaubte man, den Durchschlag noch früher ermöglichen zu können. Als man jedoch auf der Nordseite beim sechsten Kilometer angelangt war, stieg plötzlich die Gesteinswärme in erschreckender und ganz ungeahnter Weise. Für den siebenten Kilometer hatte man auf 36–37 Grad gerechnet; statt dessen fand man aber 45–46 Grad; 500 Meter weiter waren es bereits 53 Grad, und immer noch schien die Hitze sich steigern zu wollen. Die bloße Zuführung kalter Luft genügte nicht mehr, um die weitern Bohrarbeiten zu ermöglichen; es mußten besondere Vorrichtungen aufgestellt werden, die durch mächtige Sprühregen von eisigkaltem Wasser die Luft vor Ort so weit abkühlten, daß die Arbeit wieder aufgenommen und fortgesetzt werden konnte.
War es im Nordstollen die Hitze, so waren es im Süden das nachdrückende Gestein und die gewaltigen Wassereinbrüche, welche die Arbeiten fast völlig zum Stillstand brachten. Der Druck des Bergs war ungeheuer; er zersplitterte die stärksten eingebauten Holzstämme und verbog mächtige Eisenbalken. Erst durch den Einbau gewaltiger Zementblöcke und stärkster Eisenträger gelang es, der fürchterlich lastenden Wucht dauernden Widerstand zu leisten. Die einbrechenden kalten und warmen Quellen, die den Tunnel überschwemmten, mußten mit unendlicher Mühe gefaßt und abgeleitet werden. Durch die Spalten des Gesteins rinnen jetzt ungefähr 1000 Sekundenliter ins Gewölbe und durch den Parallelstollen ins Freie.
Das Maximum des Arbeiterstands zeigte die Ziffer von 4000 Mann. Weit über eine Million Kubikmeter Ausbruchmaterial mußte aus dem Berginnern ins Freie geschafft werden. Zu den Sprengungen wurden etwa 1350 Tonnen Dynamit verwendet; dazu kamen etwa 4 Millionen Sprengkapseln und 20 ungefähr 5300 Kilometer Zündschnüre. Die Anzahl der erforderlichen Bohrlöcher betrug rund 4 Millionen.”
Der stärkste der Wassereinbrüche, der plötzlich einsetzte, begrub eine Anzahl von Arbeitern im nachstürzenden Gestein. An der Stelle, wo sie gestorben sind, liegen sie noch heute im steinernen Ehrengrab, über dem sich als das mächtigste aller Monumente das Simplonmassiv hoch emporwölbt.