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Der große Physiker Kirchhoff sagte einmal, jede wirkliche Neuerkenntnis in der Wissenschaft müsse so beschaffen sein, daß sie zu ihrer erschöpfenden Darstellung nicht mehr Raum beanspruche als eine geschriebene Quartseite. Man könnte in Verlegenheit kommen, wenn man diesen Ausspruch auf Kirchhoffs eigene größte Entdeckung anwenden wollte. Denn sie hat der Menschheit eine Erkenntnis vermittelt, zu deren erschöpfender Darstellung die Folgezeit ganze Bibliotheken gebraucht hat und noch brauchen wird.
Im Kernpunkt der Entdeckung sitzt freilich eine uralte, in wenigen Worten ausdrückbare Volksweisheit: »Die Sonne bringt es an den Tag!« Aber die alten Priester des Sonnenmythus ahnten doch wohl kaum, daß unser Gestirn im Stande sein würde, letzte Geheimnisse der Chemie zu entschleiern, und noch weniger, daß sie uns verraten würde, was sich auf der Sonne selbst an chemischen Prozessen ereignet. Und gerade das leistet die Sonne, wenn man sie richtig, d. h. mit geeigneten Experimenten befragt. Die Fragesteller waren im Jahre 1859 Kirchhoff und Bunsen, ihre Methode, die Spektralanalyse, behauptet neben den Taten des Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton einen ersten Rang in der Wissenschaftsgeschichte.
Ein keilförmig geschliffenes Glas, ein Prisma, zerlegt und verbreitert den einfachen Sonnenstrahl in ein gestrecktes, regenbogenfarbiges Band. Vor ziemlich genau hundert Jahren erkannte ein Münchener Optiker, daß dieses Farbband, das Spektrum, von einem System schwarzer Linien durchsetzt ist. Sie sind bei geeigneter Vergrößerung in großer Anzahl, bis zu tausend, klar sichtlich und heißen nach ihrem Entdecker: die Fraunhoferschen Linien.
Verdampft man nun im Laboratorium gewisse Stoffe in einer Flamme, so liefert auch diese, durch eine Prisma zerlegt, ein Spektrum mit Linien. Allein diese »chemischen« Linien zeigen im Vergleich mit den Fraunhoferschen Sonnenlinien merkbare Wesensverschiedenheit, und die Beziehung beider aus einander sowie die sich daraus ergebenden Folgerungen bilden den Inhalt der Spektralanalyse.
213 Greifen wir aus der Masse der Linien eine vereinzelte heraus, die berühmte D-Linie des Sonnenspektrums; ihr Verhältnis zu einer entsprechenden chemischen Linie bleibt im Großen und Ganzen maßgebend für das ganze System und ermöglicht es, am Einzelfall das Wesen der Sache, wenn auch nicht zu erklären, so doch bis zu einem gewissen Grad zu verdeutlichen.
Jene Linie liegt als dunkler Strich in der linken Hälfte des Sonnenspektrums. Ihr entspricht der Lage nach absolut genau eine Linie im Spektrum verdampfenden Natronsalzes.
Aber diese Salzlinie ist nicht dunkel, sondern gelb.
Und hier setzte mit einem neuen Experiment eine neue Ideenverbindung ein: Kirchhoff ließ weißes Licht durch erhitzten Natriumdampf hindurchgehen, zerspaltete es spektral, und nun zeigte sich ganz genau an der Stelle der hellen gelben Linie des Emissionsspektrums die bereits wohlbekannte D-Linie, die dunkle Absorptionslinie; mit einer Deutlichkeit, die als Gesetz zu formen gestattete: daß der Dampf aus dem ganzen Strahlenkomplex des weißen Lichts gerade nur jene Wellenlängen absorbiert, die er auch auszusenden imstande ist. Hiermit war die Beziehung eines irdisch-chemischen zu einem himmlischen Vorgang gefunden; und nun überstürzten sich die Folgerungen in einer Reihe von spektralanalytischen Wundern.
Das erste Mirakel betraf die Empfindlichkeit des Verfahrens.
Um im Bunsenbrenner die gelbe Natriumlinie hervorzurufen und sichtbar zu machen, genügt eine so winzige Menge des Stoffs, wie sie durch kein anderes Verfahren der Welt erkennbar gemacht werden könnte. Der dreimillionste Teil eines tausendstel Gramms von Natronsalz reicht hin, um die gelbe Linie hervorzuzaubern! Also ein ganz unvergleichliches Steckbrief-Verfahren, das denn auch in rascher Folge zur Entdeckung von Elementen führte, die sich bis dahin in den Schlupfwinkeln anderer Verbindungen verborgen hatten.
So zeigten sich beim Verbrennen winziger Rückstände von Mineralwasser eine bis dahin unbekannte rote und eine feine blaue Linie. Kirchhoff und Bunsen wußten beim ersten Aufflammen dieser Verräterlinien: hier muß ein noch unentdeckter Urstoff vorhanden sein. Die bekannten Stoffe wurden ausgesondert, der Findling blieb zurück: es war ein neues Metall, das Cäsium. Fast gleichzeitig wurde das Rubidium (1860) gefunden, und durch andere Forscher auf dem gleichen spektralanalytischen Weg nach einander: das Thallium, Indium, Gallium, Argon, Helium, Neon, Krypton und Xenon.
214 Und aus jenen Linien erfloß zudem eine neue Erkenntnis der Beschaffenheiten in fernen Welten. Die Sonne hatte es in ihrer Schrift auf ihr Spektrum aufgeschrieben, was sie enthielt. Nun gewannen die dunkeln Runen eine lebendige Sprache, die der Menschheit verkündete: in der Sonnenatmosphäre gibt es Eisen, Natrium, Calcium, Aluminium, Nickel, Chrom, Kupfer, Zink, Kohlenstoff, Wasserstoff. Ein neuer Ausblick in die elementare Einheitlichkeit des Weltgebäudes tat sich auf.
Aber ein Skeptiker könnte einwenden: das sind doch nur Schlüsse, die ebensogut das Richtige treffen, wie fehlgehen können; alles beruht doch hier auf der Deutung jener Spektrallinien, ohne daß ein Mittel vorhanden ist, das Deutungsergebnis direkt an Ort und Stelle, auf der Sonne oder auf einem anderen Stern, zu prüfen?!
Nun, die Skeptiker – falls noch solche vorhanden sein sollten – können sich beruhigen. Es geht eben hier alles nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zu, wie auch sonst in Dingen der Erkenntnis, und die obwaltenden Methoden stellen zum mindesten den Wahrscheinlichkeitsgrad jener Aussagen mathematisch fest. Wenn also behauptet wird, die Spektralanalyse ergibt für die Sonne das Vorhandensein von Natrium oder von Wasserstoff, so heißt dies beispielsweise nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad und ganz populär ausgedrückt: man kann vernünftigerweise eine Trillion gegen eins wetten, daß dies in Wirklichkeit den Tatsachen entspricht.