Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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172. Die Augen-Orgel

Quelle: Alexander Moszkowski: »Die Kunst in tausend Jahren«. Verlegt bei Alfred Kröner, Berlin, 1910.

Die Schwingungszahlen von 32 bis 32000 in der Sekunde bezeichnen das Reich der Töne. Von hier aus bis zu den Erscheinungen des Lichts klafft eine ungeheure Lücke, denn die am langsamsten schwingende Farbe, das Rot beginnt bei etwa 400 Billionen Schwingungen. Am Ende der Reihe im Farbenspektrum liegt das Violett mit etwa 800 Billionen Schwingungen, sodaß sich die Skala der sichtbaren Farben im Raum einer einzigen Oktave abspielt.

Man hat oft versucht in dieser Oktave einen Wechsel der Farben zu erzeugen, um dadurch künstlerische Reizungen nach Art der musikalischen hervorzurufen. Und wie in allen Kunstangelegenheiten ist auch in der Darstellung der Farbenakkorde die Praxis der Theorie vorangeeilt.

Schon im Jahre 1725 verfertigte der Pariser Jesuit Castel eine »Augen-Orgel«, auf der kombinierte Farben durch einen Tastenmechanismus angeschlagen wurden. Der beabsichtigte Kunsteffekt wollte sich allerdings nicht einstellen. Auch dem verbesserten Farbenklavier von Rueta ist es nicht gelungen, die farbigen Akkorde im Raum zu einer sinnlich erfaßbaren, in der Zeit fortschreitenden Melodie umzubilden. Indes mehrt sich die Zahl der Beurteiler, die hierfür nur die mangelhafte Konstruktion des Apparats verantwortlich machen wollen. Gewisse Anzeichen aus der modernen Malerei deuten ferner darauf hin, daß das menschliche Auge selbst im Beginn einer neuen Entwicklung steht, die weiterhin eine gesteigerte Empfänglichkeit im Sinn der farbmelodischen Linie zeitigen könnte. Verwirklicht sich dereinst diese Aussage in Verbindung mit Instrumenten, die eine Lichtschrift in wirklichen Farbenwogen schlüssig hervorbringen, dann hätten wir tatsächlich eine neue Kunst gewonnen, deren Reiz und Bedeutung heute kaum geahnt werden kann.

Die Enge der zuvor erwähnten Oktave wird kein Hindernis bilden. Denn 235 inzwischen ist eine Menge neuer Strahlen entdeckt worden, die das Lichtklavier mächtig verbreitern: die aus dem Radium entspringenden Alpha-, Beta-, Gamma-Strahlen, die Kanalstrahlen, die Reststrahlen, die Röntgenstrahlen und andere. Über das Ultraviolett und Infrarot hinaus ergaben sich zunächst 2, dann 8, später 12 Oktaven, und mit Einrechnung der Röntgenstrahlen spannt sich die Skala bereits auf die mächtige Breite von 22 Oktaven. Dem entspräche, ins Musikalische übersetzt, ein Konzertflügel von mehr als vier Metern Breite, ein Koloß, auf dem gleichzeitig d'Albert, Rosenthal und Busoni konzertieren könnten, ohne einander mit den Ellbogen zu stören.

Der Flügel ist sonach überflügelt, und die optischen Möglichkeiten sind reichlich bemessen. Nur das Auge verhält sich noch etwas rückständig; es wird allerlei umlernen und hinzulernen müssen, ehe ihm das Spiel auf den 22 Strahloktaven einen künstlerischen Genuß bringen kann.


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