Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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43. Die getadelte Natur

Quelle: Dr. Richard Hesse: »Der Tierkörper als selbständiger Organismus«, erster Band des Werks: »Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang betrachtet« von Dr. Richard Hesse und Dr. Franz Doflein. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1910.

Arbeitet die Natur meisterhaft? – Die bloße Frage klingt wie eine Ketzerei. Die Allmutter Natur, das selbstverständliche Urbild aller Vollendung, deren Zweckmäßigkeit Ausgang und Ziel tausendjährigen Denkens ist, sie sollte irgendwo von der Meisterschaft abweichen können?

Aber das Erstaunliche ist Ereignis geworden. Die Frage wurde nicht nur aufgeworfen, sondern es haben sich hervorragende Gelehrte gefunden, die der Natur ihre Mängel vorrechneten.

Hören wir zuerst den berühmten kürzlich verstorbenen Zoologen Metschnikow vom Pasteur-Institut, einen der Schöpfer der organischen Immunitätslehre:

Wenn man alten Hausrat übernimmt, so findet man unter den noch brauchbaren auch unnütze und durch ihren schlechten Zustand sogar gefährliche Stücke; z. B. wir benutzen elektrisches Licht und erben eine Lichtputzschere. Der Mensch hat Organe geerbt, die diesen Möbeln gleichen. Der Blinddarm ist die Lichtputzschere. Die Natur will nicht einsehen, daß sie uns damit nur eine böse Last aufpackt. Sie erschafft immer wieder, aus bloßer überlebter Routine, das völlig zwecklose und störende Organ, das wir, wenn es nur irgend geht, herausschneiden und fortwerfen sollten. Ebenso liegt es beim Dickdarm. Da dieser nicht nur zu nichts dient, sondern täglich ungefähr 120 Billionen Bakterien ernährt, wird er als Mikrobenschützer zum Herd vieler ernster Krankheiten. Auch der Magen ist eins der Organe, die der menschliche Organismus sehr gut entbehren könnte; und die vom Carcinom befallenen Menschen, denen der Magen entfernt werden mußte, haben sich später auf durchaus befriedigende Weise beköstigt.

Noch schroffer äußerte sich Helmholtz aus Anlaß der Tatsache, daß im menschlichen Auge bezüglich der Hornhaut und Kristallinse keine richtige 63 Zentrierung stattfindet. Helmholtz erklärte, das Auge sei trotz seiner bewunderungswürdigen Leistungen als optisches Instrument so voller Unvollkommenheiten und unnötigen Erschwerungen, daß er einem Mechaniker, der ihm ein solches Instrument brächte, die Tür weisen würde! Schärfer konnte ein der Natur erteilter Rüffel gar nicht ausgesprochen werden.

In der Tat sind unser Auge sowohl wie das Ohr recht mangelhaft ausgestattet. Wie durch Versuche nachgewiesen ist, nehmen Ameisen ultraviolette Strahlen gut wahr. Unsere Augen haben hierfür keine Auffassungsmöglichkeit. Überhaupt ist die Zahl der Schwingungen, die wir zu erfassen vermögen, verhältnismäßig gering. Auf Schwingungen, deren Häufigkeit 23 000 bis 41 000 in der Sekunde beträgt, reagiert unser Ohr. Dann folgt eine gewaltige Lücke. Erst wieder 481 Billionen bis 764 Billionen Schwingungen in der Sekunde empfinden wir als Licht, das je nach der Schwingungszahl in seiner Farbe wechselt.

Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß es in der Natur auch Erscheinungen mit Schwingungen zwischen 41 000 und 481 Billionen gibt. Sie sind für uns nicht vorhanden, und sicherlich entgeht uns damit eine ungeheure Menge von Wahrnehmungen, über die wir uns auch nicht die geringste Vorstellung zu verschaffen vermögen. Wie bedauerlich ist es doch, daß unser Sehorgan nicht einmal die Aufnahmeschärfe der photographischen Platte erreicht, deren Empfindlichkeitsraum zwischen 18 Billionen und 1600 Billionen Schwingungen in der Sekunde liegt.

Auch wegen der geringen Ausbildung unseres Gefühlssinns müssen wir die Natur anklagen. Es ist beobachtet worden, daß eine Schabe bei Annäherung eines erhitzten oder stark abgekühlten Gegenstands ihre Fühler schon bei einer Entfernung zurückzieht, bei der wir mit unseren Fingerspitzen noch nicht das Geringste wahrzunehmen vermögen. Daß der Hund sehr viel besser zu riechen vermag als der Mensch, ist bekannt.

Für die Wahrnehmung von Elektrizität besitzen wir überhaupt keine Organe. Wäre das der Fall, so würde sich ein Gewitter ganz anders auf unsere Sinne äußern, als es in der Tat der Fall ist. Wir würden uns auch in der Welt in ganz veränderter Weise, nämlich nach den verschiedenen elektrischen Zuständen der Körper, zu orientieren vermögen. Die Unterschiede von Tag und Nacht wären dann nicht mehr so stark wie heute, wo das Auge trotz seiner Mangelhaftigkeit unser Hauptsinnesorgan ist.

Aber vielleicht liegt bei unserer Klage gegen die Natur doch eine anthropomorphe Täuschung vor, und vielleicht behält der alte Rousseau trotz alledem, wenn auch in anderem Sinn als er es meinte, mit seinem Ausspruch Recht: 64 alles ist von vortrefflicher Vollendung, wie es von der Natur kommt, und alles entartet unter den Händen des Menschen.


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