Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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83. Totes Leben

Quelle: Dr. Richard Hesse: »Der Tierkörper als selbständiger Organismus«, erster Band des Werks: »Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang betrachtet« von Dr. Richard Hesse und Dr. Franz Doflein. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1910. Z.

Die lebende (organische) Substanz unterscheidet sich von der unbelebten (anorganischen) dadurch, daß im lebenden Stoff ständig Neubildung und immerwährender Zerfall stattfinden, während die unbelebte Substanz sich nicht selbsttätig verändert. Der Lebensstoff, das Protoplasma, zerfällt ständig in seinen 109 älteren Teilen, indes neue Teile entstehen. Die für uns wahrnehmbaren Lebensäußerungen, die dem Zerfall entspringen, sind Bewegung und Erwärmung, sowie das Auftreten von Zersetzungsprodukten des Protoplasmas. Die Wirkung des Neuaufbaus erkennen wir nur dann, wenn der Aufbau den Zerfall übertrifft, als Wachstum.

Es gibt jedoch Fälle, wo an organisierten Körpern auch nicht die geringsten Spuren von Lebenstätigkeit mit unseren Mitteln nachweisbar sind, und doch die weitere Beobachtung lehrt, daß diese Körper nicht tot sind. Hierüber erzählt uns Professor Richard Hesse in seinem großartigen Werk über den Tierkörper die folgenden interessanten Dinge:

„Man hat völlig trockene Pflanzensamen in ein Glasrohr eingeschlossen, dieses luftleer gemacht und dann zugeschmolzen. Nach mehreren Monaten war in dem Glasrohr keine Spur von Kohlensäure nachweisbar; die Samen aber keimten, als sie ausgesät wurden, hatten also ihre Lebensfähigkeit vollkommen bewahrt. Diesen Ruhezustand eines Organismus vergleicht man sehr treffend mit dem eines aufgezogenen Uhrwerks, an dem das Pendel angehalten ist. Er muß wohl vom Tode unterschieden werden; als Leben kann man ihn nicht ohne weiteres bezeichnen, wohl aber als latentes Leben oder auch Scheintod.

Ähnliche Erscheinungen, wie sie von den Pflanzensamen erwähnt werden, sind von manchen winzigen Tieren bekannt. Wenn man den trockenen Staub aus Dachrinnen oder aus Moosrasen, die auf Felsen wachsen, oder von dem Flechtenüberzug der Baumstämme sammelt und auf einem Glasplättchen, mit Regenwasser angefeuchtet, unter dem Mikroskop betrachtet, so kann man nach einer halben Stunde darin kleine Tierchen beobachten. Teils sind es Rädertiere, die sich mit ihrem fernrohrartig einziehbaren »Fuß« oder mit dem Wimperorgan ihres Vorderendes bald träger, bald lebhafter durch das Wasser bewegen und ihr Kauorgan in kräftige Tätigkeit setzen; teils sind es Bärtierchen, die mit ihren acht kurzen krallenbewehrten Füßen langsam dahinkrabbeln. Läßt man das Wasser, das sie umgibt, verdunsten, so trocknen sie mehr und mehr ein und bleiben als unkenntliches, winziges Körnchen auf dem Glasplättchen zurück. Nach Monaten, ja nach Jahren kann man dieses Restchen durch Zusatz von Wasser zum Aufquellen bringen und aufs neue beleben. Von Bärtierchen ist beobachtet, daß sie nach drei Jahren latenten Lebens wieder zum Aufleben gebracht werden konnten. Kleine Fadenwürmer, wie die Weizenälchen, die sich als Larven zu 8 bis 10 in sogenannten gichtkranken Weizenkörnern finden, können in diesem Zustand völlig bewegungslos und ohne Lebensäußerungen jahrelang verharren und kommen dann beim Benetzen wieder zum Leben, nach einem Bericht sogar noch nach 27 Jahren.”

110 Daß Weizenkörner, die in ägyptischen Gräbern Jahrtausende lang leblos dagelegen haben, sofort nach der Aussaat wieder gekeimt hätten, ist jedoch als ein Irrtum nachgewiesen.


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