Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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35. Narkosen

Quelle: Professor Carl Binz: »Über den Traum«. Bei Adolph Marcus. Bonn, 1878. Z.

Das Wesen des Traums ist bis jetzt noch nicht völlig erforscht. Die Behauptung mancher Physiologen, daß unsere Seele niemals in einen Zustand gänzlicher Versunkenheit gerate, daß wir stets träumen, auch im tiefsten Schlaf, scheint durch zahlreiche Versuche widerlegt. Es wurden oft Menschen zum Zweck des Versuchs aus tiefstem Schlaf jäh erweckt und angehalten, Traumerinnerungen sofort wiederzugeben. Das Resultat war aber stets negativ. Tiefschlafende machen außerdem auf den Beobachter stets einen Eindruck, aus dem deutlich hervorzugehen scheint, daß jede Seelentätigkeit erloschen ist. Der Zustand, der 53 dem Erwachen vorausgeht, in dem einer der Sinne nach dem andern wieder rege wird, scheint das Hauptherrschaftsgebiet der Träume zu sein.

Aber wenn wir auch über die Art dieses Phänomens noch nicht erschöpfend unterrichtet sind, so ist der Mensch doch in wunderbarer Weise imstande, verschiedene Arten von Träumen willkürlich hervorzurufen. Wir vermögen das durch Anwendung narkotischer Substanzen, deren Wirkungen ebenso mannigfaltig wie seltsam sind.

Farbenbunt und behaglich sind die Traumbilder, mit denen das Opium uns umgibt. Der Orientreisende H. von Maltzahn beschreibt in seiner »Wallfahrt nach Mekka« ein Opiumhaus und seine Insassen wie folgt:

„Nachdem wir uns in dem Kellerloch niedergelassen hatten, schenkte man uns lange nicht die geringste Aufmerksamkeit. Die Genießer des Opiums saßen da mit offenen, bald sehnsüchtig schmachtenden, bald wollüstig sinnlichen, bald starr vor sich hinstierenden Augen. Sie mochten sich wohl in die wonnigsten Träume gewiegt fühlen, denn die Mundwinkel vieler umflog ein süßes Lächeln, wie wenn ein unbeschreibliches Glück ihnen zu Teil geworden wäre. Aber keiner von allen sprach auch nur ein Wort. Alles war still, keine Silbe verriet die wonnigen Einbildungen, die süßen Phantasien, die das Gehirn der Opiumgenießer beleben mochten. Nur hie und da entfuhr einem oder dem andern der Ruf: »O Allah!« oder »O Güte Gottes!«, als fühle er sich von Dank beseelt für den Schöpfer, der ihm solchen Genuß ermöglicht hatte.”

Am Krankenbett zeigt sich die Wirkung des Morphiums, das den bei der Narkotisierung am stärksten wirkenden Bestandteil des Opiums bildet, in ähnlicher Weise. Der Gesamteindruck des Patienten ist der eines angenehmen Träumens, solange die Narkose noch nicht zum tiefsten Schlaf geworden ist. Aus eigener Erfahrung erzählt Binz hierüber:

„Wegen eines schmerzhaften Lendenrheumatismus, der mich abends spät befiel, injizierte ich mir zu Bett liegend 1 Zentigramm Morphin unter die Haut der linken Hüfte. Mit Spannung suchte ich die Einzelwirkungen wahrzunehmen und festzuhalten. Die erste war ein unbeschreibliches Gefühl von Wohlbehagen, das vom Gehirn aus durch meine Glieder strömte; bald danach fühlte ich das Schwerwerden und Sinken der Augenlider; und unter einem kurzen Traum, der mir vorspiegelte, mein Gehirn sei von der bis dahin es eng bedrückenden Schale befreit und bewege sich frei im Raum, leicht, wie neugeboren, schlief ich fest ein, um am folgenden Morgen gegen neun Uhr wohl und munter zu erwachen.”

Einen scharfen Gegensatz hierzu bildet die Wirkung des Atropins, das als hauptsächlich wirkender Bestandteil in der Belladonna oder Tollkirsche 54 enthalten ist. „Ein mit Binz befreundeter rheinischer Schulmann träufelte sich gegen eine Augenentzündung eine Atropinlösung allzu energisch ein. Von dem Tränennasenkanal aus kam bald eine genügende Menge in den Schlund, wurde hier verschluckt und erzeugte allmählich die Anfänge des Atropinrauschs. »Ich wurde toll im Kopf,« so schrieb er darüber, »ein entsetzliches Gefühl der Unsicherheit und Angst kam über mich, ich wußte nicht, ob ich träume oder wache, ob die gräulichen Erscheinungen vor mir wirklich seien oder nur Phantasmen.« Taylor berichtet in seinem Werk über die Gifte ebenfalls von gespensterartigen Visionen, phantastischen Wahngebilden und durchdringenden Angstrufen, die sich in die Umnebelung des Gehirns durch das Gift der Tollkirsche einmengten.

Mit den wüsten und schreckhaften Traumvorstellungen der Belladonna kann man jenen somnolenten Zustand vergleichen, der sich in Fällen von Säuferdelirium ausprägt. Kleine, lebhafte, unangenehme Tiere bedecken das Bett des Deliranten. Sie klettern auf sein Haupt und suchen ihn zu verzehren, sie lassen ihn nicht zu Schlaf kommen, sie folgen, wohin immer er entfliehen mag, unzertrennlich seinen Fersen und seinem Lager. Statt der kleinen Tiere sind es oft Zwerge und Kobolde mit derselben Form des Angriffs und der Behendigkeit.

Von hohem Interesse und eigenartiger Ausbildung sind die Träume, die der Haschisch über uns bringt. Man bereitet ihn aus dem indischen Hanf zur Zeit der Blüte und verkauft ihn im südlichen Orient unter mannigfacher Form meistens als trockenen Extrakt, in runde Stückchen gepreßt. Wie der Einfluß des Haschisch in einem hochgebildeten europäischen Gehirn sich gestaltet, erzählt uns Professor von Schroff aus Wien recht anschaulich:

»Ich nahm 7 Zentigramm abends um 10 Uhr, legte mich zu Bett, las, noch eine Zigarre nach gewohnter Weise rauchend, gleichgiltiges Druckwerk bis 11 Uhr und legte mich dann mit der Idee zur Ruhe, daß diese Dosis wohl zu klein gewesen sein mochte, da sie gar keine Erscheinung hervorbrachte, und mein Puls gar keine Veränderung zeigte. In demselben Augenblick fühlte ich ein starkes Rauschen nicht nur in den Ohren, sondern im ganzen Kopf; es hatte die größte Ähnlichkeit mit dem Geräusch des siedenden Wassers, gleichzeitig umfloß mich ein wohltuender Lichtglanz, der den ganzen Körper durchdrang und ihn durchsichtig erscheinen ließ. Mit ungewöhnlicher Leichtigkeit durchlief ich ganze Reihen von Vorstellungen bei gesteigertem Selbstbewußtsein und erhöhtem Selbstgefühl. Am andern Morgen war mein erster Gedanke beim Erwachen, die nächtliche Szene im Gedächtnis zu reproduzieren; allein von all den erlebten Herrlichkeiten trat nichts in die Erinnerung, außer was ich eben berichtet habe.«”

Von lebhaften Träumen durchzogen ist auch der Schlaf, der durch die 55 Chloroformnarkose hervorgerufen wird. „Flüchtig wie die märchenhaften Geister der Luft bewegt sich das Chloroform von unserm Mund nach den Lungen, durch das Blut nach dem großen Gehirn hin. Es lagert auf den kleinen Werkstätten unseres Bewußtseins, sie anfangs erregend, bald aber in eine solche Erstarrung versetzend, daß die heftigsten Reizungen der Außennerven unter dem Instrument des Chirurgen hier die Grenze ihrer Schwingungen finden. Das Bewußtsein erfährt nichts von ihnen. Und doch bringt der Traum des Chloroformierten uns Kunde, daß der Schlaf oft nur ein partieller ist. Besonders scheinen es die Gestalten des Arztes und seiner Helfer zu sein, also die jüngsten Bilder vor dem Schließen der Augen, die in der einen oder andern, nach der Individualität des Chloroformierten sich richtenden Weise seinen Traum beleben. Und noch so heftig mag der Traum des Chloroformierten sein, meist gewahrt man, daß nach Beendigung der Operation, bei eingetretenem Erwachen der Operierte sich aufrichtet, mit seinen Augen den leitenden Arzt sucht und ihn fragt. »Fangen Sie bald an, Herr Doktor?« Erinnerung an die Traumbilder ist oft vorhanden, oft fehlt sie.

Bevor man das Chloroform zum Einschläfern anwenden lernte (1849), war zwei Jahre lang der Äther zum nämlichen Zweck im Gebrauch, und manche Operateure wenden ihn noch heute an, weil er zwar weniger rasch aber auch weniger gefahrvoll narkotisiert. Der von ihm bewirkte tiefe Schlaf ist ebenfalls von Träumen durchzogen. Dieffenbach, der berühmte Berliner Chirurg, der in Deutschland mit unter den ersten ätherisierte, schildert sie in lebhaften Farben. Ohnmächtig, albern, tobend oder heiter kann der Charakter des Ätherrauschs sein.

Die glänzende Schilderung Dieffenbachs von den Wonnen des Äthertraums hat in einem literarisch bekannt gewordenen Fall einen jungen Mann zum Äthermißbrauch getrieben. Er war mit philosophischen und ästhetischen Studien beschäftigt und gab dabei einem Hang zu theologisch-mystischen Betrachtungen allmählich nach. Der Äthertraum schien ihm die richtige Bahn, um seinen Geist von der schweren Materie zu befreien, und in der Tat, es gelang ihm gleich beim ersten Mal. Er legte sich allein in seiner Stube auf das Sopha und atmete den Äther vom Taschentuch ein. Alsbald schwand ihm die Besinnung. Er hatte eine Reihe sehr lebhafter Wahnbilder, wie es scheint hauptsächlich aus religiösen Vorstellungen zusammengesetzt, in denen aber auch wie beim Haschischrausch das Hinwegsetzen über Stoff, Zeit und Raum eine große Rolle spielte. Ganze Welten glaubte er zu durchmessen, unendliche Zeiten durchlebt zu haben, und doch lehrte ihn die Länge der brennenden Kerze beim Erwachen, daß er kaum eine Viertelstunde betäubt gewesen sein konnte.

Leider war er von dem Ausgang dieses ersten Unternehmens nicht befriedigt, 56 denn die Betäubung war gerade in dem Augenblick gewichen, als er dem Ziel seiner Wünsche nahe gekommen zu sein glaubte. Es war natürlich, daß er den Ausflug in die farbenprächtige Unendlichkeit wiederholte, aber die Traumwelt war nicht mehr so glänzend und bilderreich, wie die jener ersten Narkose, und wie oft er nun auch durch immer größere und häufigere Dosen Äther sie wieder heraufzuzaubern sich bemühte, sie wollte nicht wieder erscheinen.

Bald wurde das Experiment zur Gewohnheit, der anfangs spärlich angestellte Versuch zum unwiderstehlichen Trieb, und jene ursprüngliche Sehnsucht nach dem Erhabenen und Unendlichen erstickte in der Gier nach einem Reiz, der längst alle Eigenschaften einer gemeinen sinnlichen Leidenschaft angenommen hatte. Nur anfangs »ätherte« er in seinem Zimmer, bald ließ es ihm auch außerhalb keine Ruhe. Das mit Äther getränkte Taschentuch vor Mund und Nase schwanke er durch die Straßen Berlins; von einer Apotheke zur andern eilend, kaufte er sich den Äther in kleinen Quantitäten. Zuletzt stieg er bis zum Verbrauch von 2 bis 2,5 Pfund für den Tag, bis er endlich zerrüttet und verkommen in der Charité Hilfe suchte, ein unrettbares Opfer seiner Lust zu träumen und seines Traummittels.”


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