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Quelle: Dr. Richard Hennig: »Buch berühmter Ingenieure«. Verlag von Otto Spamer, Leipzig, 1911.
Um die Zeiträume abzukürzen, die der Mensch zur Überwindung der Entfernungen auf der Erde braucht, sind seit der Einführung der Eisenbahn viele und merkwürdige Kunstbauten entstanden. Brücken von großen Längen, Tunnel 17 von erstaunlichen Ausdehnungen sind gebaut worden, aber immer noch hatten die Schienenwege am Ufer des Weltmeers Halt gemacht. Der Ozean schien für das Dampfroß ein unüberwindliches Hindernis zu sein. Amerikanische Kühnheit hat jedoch auch hier einen Sieg erfochten. Es ist gelungen, quer durchs Meer eine Eisenbahnstrecke zu bauen, die darum wohl als das größte Eisenbahnwunder bezeichnet werden kann.
Im Süden von Nordamerika springt die Halbinsel Florida weit ins Meer vor. Nur eine verhältnismäßig enge Meeresstraße von 200 Kilometern Breite liegt hier zwischen dem Festland und der Insel Kuba. In ihrer Mitte ist auf einer kleinen Insel das weltberühmte Seebad Key-West angelegt, das von der Geldaristokratie Amerikas sehr gern aufgesucht wird. Obgleich schon seit langem alles getan worden war, um die Fahrt von New York nach Key-West abzukürzen, ließ sich schließlich doch nicht verhindern, daß auch der Milliardär von der Station Miami in Florida aus das Schiff benutzen mußte, das bekanntlich sehr viel langsamer fährt als die Landtransportmittel. Nach einer Insel kann man schließlich auf keine andere Weise gelangen.
Aber so denkt man nur im allgemeinen. Ein Dollarkönig stellt andere Anforderungen. Und es ist den Herrschaften aus der Fünften Avenue wirklich gelungen, die »Florida East Coast Railway Company« dazu zu bringen, ihnen eine Eisenbahn durchs Meer bis zu ihrem Lieblingsbadeort zu bauen.
Zunächst klingt es wie ein Märchen, daß dies möglich gewesen sein sollte. Aber die Aufgabe wurde dadurch erleichtert, daß sich von der Spitze der Halbinsel Florida eine Reihe kleiner Inselchen bis nach Key-West hin erstreckt, zwischen denen das Wasser nicht allzu tief ist. An einzelnen Stellen wurden Erdanschüttungen für den Damm möglich, an anderen konnten die Brückenpfeiler aus Beton sicher fundamentiert werden. Aber immerhin bleiben noch volle 45 Kilometer der im ganzen 210 Kilometer langen Meeresbahn übrig, die wirklich über tiefes, offenes Wasser hinweggehen. Diese Entfernung ist kaum geringer als die Länge der bekannten Trajektstrecke zwischen Deutschland und Dänemark Warnemünde-Gjedser.
Der längste der Viadukte, der von Long-Key, ist nach der Angabe von Dr. Richard Hennig 11¾ Kilometer lang und besteht aus insgesamt 186 Bogen, deren Grundpfeiler in das Korallengestein des Meeresbodens eingerammt und von ungeheuren Betonblöcken umgeben sind. Fährt man über die Mitte dieses Viadukts, dann erlebt man das größte Wunder auf dieser Strecke: wenn man aus dem Fenster seines Eisenbahnwagens schaut, sieht man nirgend mehr das Land. Wie auf einem Schiff befindet man sich in der Eisenbahn mitten auf dem Meer.
18 Um die Sensation noch größer zu machen, schließt sich an die Strecke in Key-West ein Trajekt nach Havana an, sodaß man heute in demselben Eisenbahnwagen von New York bis nach der Hauptstadt der tabakgesegneten Insel Kuba reisen kann.
Es sind nicht weniger als 60 Millionen Mark für diese Eisenbahn durchs Meer ausgegeben worden, da, von allen anderen Schwierigkeiten abgesehen, die Viadukte wegen der oft mehr als sieben Meter hohen Wellen in diesem Meeresteil 10 Meter über den Wasserspiegel erhöht werden mußten.