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Aus beengender Heimat zur Fremde zog
Ein junger, hochstrebender Wandrer,
Die Brust von Hoffen und Muth geschwellt,
Alle Trübsal des Lebens vergessend,
Die früh ihn gebeugt, bald durch kleinlichen Zwang,
Bald durch wuchtige Schläge des Schicksals.
Doch jetzt, die Blicke nur vorwärts gekehrt,
Freierhobenen Haupts
Trat er alle Sorgen mit Füßen,
Wie welke Blätter vom Baum geweht.
So zog er fürbaß
Rüstigen Schrittes,
Und staunend vernahm er
Auf allen Wegen
Die rauhe Frage:
»Woher und wohin?«
Wenn er die müden Glieder
In der Glut des Mittags
Ausstreckte, zu ruhen
Am schattigen Waldsaum,
Und die sinnigen Augen sich schlossen,
Weckt' ihn des Forstwarts
Kreischende Frage:
»Woher und wohin?«
Und wenn er auf einsamen Pfaden
Dem Gemurmel des Wiesenbachs lauschte,
Oder Feldblumen pflückte zum Strauße,
Erscholl ihm des Flurhüters
Zornige Frage:
»Woher und wohin?«
Wenn er abends zur Stadt kam,
Um den Staub von den Füßen zu schütteln
Zu Rast und Labung,
Fand er kein Plätzchen,
Sein Haupt hinzulegen,
Ohne die Frage:
»Woher und wohin?«
Erst in weiter Ferne,
In pfadloser Wildniß,
Bald in brennenden Wüsten
Nach Labung lechzend,
Bald über eisige Berge
An Abgründen wandelnd,
Mit blutenden Händen
An die Felswand sich klammernd,
Hülflos und rathlos,
Wo jeder Fehltritt
Sichres Verderben,
Und oft vor Grausen
Die Haare sich sträubten
Bei verlorener Spur
Und unfindbarem Ziel,
Fragt' er den Himmel,
Fragt' er sich selber:
»Woher und wohin?«
Keine hörbare Antwort
Erscholl auf die Frage,
Doch der Himmel half ihm
Durch Kraftverleihung
Sich selbst zu helfen –
Und wie durch ein Wunder
Halfen ihm einst auch
Wildfremde Menschen,
Als ihn ein Schneesturz
Lebendig begraben –
Und rüstig kam er
Nach langer Irrfahrt
Zur Heimat zurück.
Am langen Wirthstisch
Des ersten Städtchens,
Wo er Einkehr zur Nachtruhe hielt,
Saßen muntere Gäste,
In deren Antlitz
Würde mit Heiterkeit kämpfte
Beim Eintritt des Wandrers,
Der ihnen erschien als ein Fremder
Nach Tracht und Haltung
Und sonngebränntem Gesichte.
Er grüßte freundlichen Grußes
Und setzte sich nieder zum Nachtmahl,
Mit Sorgfalt die Weinkarte prüfend.
Da sprach der stattliche Wirth:
»Einen besseren Wein,
Als wir heute hier trinken
Zur Feier der Taufe
Meiner Jüngstgeborenen,
Birgt mein Keller nicht:
Beehren Sie mich, ihn zu kosten!«
Der Gast lobte den wein
Und stieß an mit dem Wirth
Auf das Wohl seiner Jüngstgebornen.
Da machte der Wirth
Seinen werthen Gast
Bekannt mit den andern,
Die zur Feier der Taufe geladen:
Mit dem Pfarrer, dem Doctor, dem Amtmann, Assessor
Und Oberförster des Städtchens.
Und sie alle boten
Dem Gast ihr Willkommen,
Die Gläser frisch füllend und leerend.
Und der dem Gaste zunächst saß,
Der würdige Amtmann,
Der Richter im Streite,
Bot aus goldener Dose
Ihm auch eine Prise,
Dabei neugierig fragend:
»Woher und wohin?«
»Ja, wenn ich das wüßte« –
Sprach lächelnd der Gast –
»So hätt' ich das Räthsel
Der Schöpfung gelöst!«
Und abermals füllten
Die Herrn ihre Römer,
Dem Gaste zutrinkend
In weinfroher Laune,
Und sie rückten näher
Mit scharrenden Stühlen,
Die Antwort des Amtmanns zu hören.
Der sprach bedächtig:
»Sie meinen das Fernste,
In des Wortes tiefster Bedeutung –
Ich nur das Nächste
Im Woher und Wohin Ihrer Reise.« –
»Die hat mich weit fort aus der Heimat geführt
Und weither in die Heimat zurück;
So viele Jahre hindurch, wie ich Sinne habe,
Zog ich umher in der Fremde,
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang,
Ohne die Lösung der Frage zu finden
Des Woher und Wohin.«
»Die liegt doch sehr nahe« –
Rief der Assessor,
Sein Glas wieder füllend: –
»Das Woher ist nicht weiter
Entfernt vom Wohin
Als die wiege vom Grabe.«
»Das wandern durchs Leben führt weiter nicht
Als von Staub zu Staub«, sprach der Doctor.
Nachdenklich fuhr mit der Hand durch den Bart
Der stämmige Oberförster
Und sah den Pfarrer wie fragend an,
Der mit Ruhe begann:
»Das Woher und Wohin
Ist der Weisheit Anfang und Ende.
Wie der Fremdling, der jetzt zur Heimat kehrt,
Mit gereiftem Sinn und geklärtem Blick
Nach den Prüfungsjahren des Wanderns,
So kehren wir alle zur Heimat einst,
Die des Geistes Urquell und Leuchte;
Denn Fremdlinge bleiben wir allzumal
Auf dem rastlos kreisenden Erdball,
Wo zu Staub wieder wird, was der Staub gebar,
Doch der Geist sich erhebt aus dem Staube.
Nicht jeder versteht ein erleuchtetes Wort,
Denn wie Samenkörner sind Worte,
Die nur keimen und wachsen zu nährender Frucht
Auf wohlbereitetem Boden.«
Nach den Worten erhob der Pfarrherr sich,
Und die andern thaten desgleichen,
Denn vom Thurme schlug es schon Mitternacht,
Und der Amtmann sprach, der Richter im Streit:
»Zu spät ist's heute, vor Schlafengehn,
Die Frage nach dem Woher und Wohin
Noch stehenden Fußes zu lösen.«
Wiesbaden, 23. Juni 1881.
Druck von F. A. Breckhaus zu Leipzig.