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Weisheit und Thorheit.

Wir lachen über der Chinesen Kleider,
Und über unsre lachen die Chinesen.
Die Kleider macht die Mode und der Schneider,
Sie zeigen nicht des Menschen wahres Wesen,
Und können nicht das Maß des Urtheils füllen,
Wer schwimmen will, muß die Gestalt enthüllen,
Und auch die nackte menschliche Gestalt
Verschleiert noch den inneren Gehalt.

Wer sich und andre richtig will begreifen,
Muß alle Vorurtheile von sich streifen,
Der stets die Menge folgt auf ihrer Bahn.
Der reinste Glaube wird im Volk zum Wahn,
Verhärten flüssige Formen sich zur Starrheit
Und treiben die Vernunft zu sehr ins Enge.
Es trägt manch kluger Mann das Kleid der Narrheit,
Blos um nicht aufzufallen vor der Menge.

Die Weisheit nur kennt solche Vorsicht nicht:
Wo sie nicht zeigt ihr eigenes Gesicht
Und treulich uns ihr Innres offenbart,
Da hört sie auf, zu sein, schlägt aus der Art.

Sie spottet nie des Heiligen, sie spottet
Der Thoren, die es salbungsvoll entweihn;
Sie wirft ihr Licht aus alles, was verrottet
Und morsch sich spreizt in falschem Heiligenschein.

Sie schiebt vor ihre Pforte keinen Riegel,
Kennt keine Grenzen, welche Völker trennen,
Zeigt heimische Thorheit gern in fremdem Spiegel
Und lehrt die eigne durch die fremde kennen.

Voll Narrheit sind die Völker überall
Auf diesem nicht ganz runden Erdenball.
Der größte Narr glaubt selbst nicht, daß er's sei,
Ein weiser Mann fühlt sich nie völlig frei
Von närr'scher Art, und denkt: das muß so sein,
Denn was nicht ausschlägt, das schlägt auch nicht ein.

Wer nicht die Herrschaft über sich gewann,
Daß er der eignen Thorheit lachen kann,
Hat noch den Weg zur Weisheit nicht gefunden.
Thorheit ist Auswuchs blinder Vorurtheile,
Nur steter Kampf dagegen macht gesunden,
Nur Trieb nach Selbsterkenntniß führt zum Heile.


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