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Ich sah in fernen Morgenlanden
Uralte Völker träg verkümmern,
Sah, wo einst mächtige Städte standen,
Erdhütten zwischen hehren Trümmern,
Die schon Jahrtausende durchragen
Und in geheimnißvollen Zeichen
Erzählen von vergangnen Tagen
Des Ruhms in längst versunknen Reichen;
Die noch im Staube Schätze bergen,
Werth, sie zu heben aus der Tiefe;
Wo's herschallt aus vergessnen Särgen,
Als ob's zur Auferstehung riefe,
Das Reich des Lichtes zu erneuen,
Wie einst, von hohen Bergaltären
Hier seine Strahlen auszustreuen,
Bethörter Völker Blick zu klären,
Die in verwildertem Gewimmel
An Gestern nicht noch Morgen denken,
Und ihren Blick nicht mehr zum Himmel
Noch in die eignen Herzen lenken.
Und doch, ein Zauber webt noch immer
Um diese alten Wunderlande,
Der, wie der Sonne letzter Schimmer,
Sie hüllt in purpurne Gewande.
Es schmilzt vor unserm Blick das Siegel
Vom Buch des Guten und des Bösen,
Wir sehn in seinem Zauberspiegel
Sich Loses binden, Festes lösen.
Das Volk versank in der Entzweiung
Von hohem Drang und rohem Zwange:
Der Geist, der einst ihm zur Befreiung
Verhalf, lebt nur noch im Gesange.
Und sinnige Sprüche, alte Sagen
Erwecken uns im tiefsten Innern,
Wie aus der eignen Kindheit Tagen,
Ein wundersam vertraut Erinnern.
* * *
Verdorben ward nur, was verderblich
Sich langer Willkürherrschaft beugte –
Doch nichts, was freien Geists, unsterblich
Im Liede von sich selber zeugte.
Ich sah in fernen Abendlanden,
Aus alten Völkern buntgesellt,
Ein neues Leben auferstanden
In einer neuentdeckten Welt,
Wo alte Rassen sich verjüngen,
Der Stamm- und Glaubenshader schweigt,
Der Fortschritt sich in Riesensprüngen
Beim steten Wettkampf Aller zeigt,
Und was der Zwangsmacht unsrer Ahnen
Nicht in Jahrtausenden gelang,
Auf weiten, selbstgeschaffnen Bahnen
Ein freies Volk im Flug errang ...
Da schlagen alle Pulse schneller
In wilder Jagd nach Gold und Glück,
Da blicken alle Augen heller
Nach vorwärts – aber keins zurück;
Da heißt es: »Sterben oder Siegen!«
Und immer vorwärts geht's im Sturm,
Der Schwache bleibt am Wege liegen
Und wird zertreten wie ein Wurm.
Wohl auf der Glücksjagd kommen viele
Zu Gold und Gut in Ueberfluß,
Doch Wenigen wird am goldnen Ziele
Des Glücks durchgeistigter Genuß.
Hier treibt in rasender Geschwindheit
Das Leben seinem Ende zu,
Hier hat die Jugend keine Kindheit
Und hat das Alter keine Ruh'.
Hier weben keine Dämmerungen
Geheimnißvoll um Flur und Hag:
Der Tag kommt aus der Nacht gesprungen
Jäh, wie die Nacht springt aus dem Tag.
Hier ist nichts Großes schon vergangen,
Da Alles noch im Werden lebt,
Und was die Zukunft hält verhangen
Weiß nur, wer einst den Schleier hebt.
Doch dieser neuen Welt im Werden
Ins Herz zu schaun, schärft mehr den Blick
Als alles Große, was auf Erden
Vor uns vollendet das Geschick.
Es ward nur groß, weil es sich nährte
Vom Großen der Vergangenheit,
Und doch ureigne Kraft bewährte
In Werken für die Ewigkeit.
Wiesbaden, 10. Juli 1881