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Nackte Gedanken
In stämmiger Urschrift,
Mit allerlei Schnörkeln
Und knorrigem Ausputz
Sah ich euch, Bäume, jüngst
Stumm noch und starr stehn
Auf der weißen Tafel des Winters.
Jetzt aber prangt ihr
In Blätter- und Blütenschmuck;
Duftig umrauschen
Weiche Gewande
Die harten Glieder,
Sie völlig verhüllend.
Sonnige Lichter umspielen das Antlitz;
Der Hauch der Liebe löste die Lippen;
Euer Odem ward Balsam,
Eure Stimme Gesang,
Und der Wintergedanke
Ein Frühlingsgedicht.
Nun blickt mit Blumenaugen
Die Erde wieder
Zum Himmel empor,
So seligen Blicks,
Als ob sie noch nie
Die Geisel gefühlt
Des laun'schen Geliebten,
Der nackt sie hinausstieß
Und grausam gebannt hielt
In harter Hut
Des herzlosen Winters,
Doch nun aufs neue
Sie schmückt und kleidet
Mit bräutlichem Schmuck,
In Glutenküssen
Ihr alle Wonnen
Der Liebe weckt,
Sie schauern macht
In seligem Empfangen.
Die Rosen erröthen
Vom süßen Geheimniß,
Die Lilien erbleichen,
Die Nachtigall singt es
Im blühenden Dornbusch
Mit klagenden Tönen.
Sie weiß, wie eilig
Den flüchtigen Wonnen
Die lange Trauer folgt
Der kreisenden Erde,
Die all' ihre Kinder
Welken und sterben sieht,
Um wieder zu knirschen
Im nackten Elend
Des Winterjochs.