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(1931)
Kürzlich ließ mir ein nicht unkluger Mann durch einen Freund sagen, er könne es weder verstehen noch billigen, daß ich in meinem »Frühstück auf der Heidecksburg« einen Stoff behandelt habe, der mir durch Schiller in seinem »Herzog von Alba bei einem Frühstück auf dem Schlosse zu Rudolstadt, im Jahre 1547« vorweg genommen sei. Wenn ich die Mitteilung nicht mißverstand, war bei dem Tadler immerhin die Vorstellung eines Plagiats im Spiel; das veranlaßt mich, an diesem Beispiel noch einmal meine grundsätzliche Meinung in dieser Sache zu sagen.
Selbstredend leugne ich keinen Augenblick, den Stoff und Anreiz meiner Anekdote in der genannten Arbeit von Schiller gefunden zu haben, die zuerst im »Deutschen Merkur« von 1788 abgedruckt wurde und in den späteren Ausgaben unter den historischen Schriften steht. Schiller wiederum gab in der Einleitung die drei verschiedenen Quellen seiner Arbeit an; damit wohl genügend andeutend, daß er das Stück nicht als Kunstwerk ansah, sondern lediglich als historische Merkwürdigkeit aufzeichnete. Ich könnte mir denken, er habe den Stoff aufgespürt in der Hoffnung etwa, er möge sich als tragfähig für ein Drama oder eine Novelle erweisen; und eben, weil er ihn dafür nicht ausreichend fand, gab er ihn preis. Den epischen Anschein völlig zerstörend, hängte er ihm noch eine zweite von der Gräfin von Schwarzburg erzählte Merkwürdigkeit an.
Ich bin nicht einmal sicher, ob der Stoff tragfähig ist für die von mir bevorzugte Form der »Anekdote«. Immerhin hatte er genug Anreiz für mich, die epische Gestaltung zu versuchen. Ob sie gelang oder nicht, das steht hier nicht in Frage, sondern ob ich ein Recht dazu hatte. Eben dies scheint mir fraglos, weil es sich um einen historischen Vorgang handelt, der natürlich niemandens Eigentum ist, es sei denn, einer habe ihn durch seine besondere Darstellung dazu gemacht. Das wird in diesem Fall keiner im Ernst behaupten wollen, der zum Vergleich etwa an die berühmte Anekdote Kleists oder an die eigene Fähigkeit Schillers denkt, einen Stoff mit seinem Geist zu durchdringen.
Auch wenn das, was Schiller als historische Merkwürdigkeit nicht eigentlich erzählt, sondern nur mitgeteilt hat, ganz oder zum größten Teil seine Erfindung wäre: ich wüßte nicht, ob mich das hindern würde, mein episches Vermögen daran zu setzen, weil es eben noch nicht gestaltet ist. Erst, wenn es beides, eigene Erfindung und eigene Gestaltung wäre, könnte die grundsätzliche Frage des Plagiats angerufen werden, nämlich die, ob ein Stoff durch künstlerische Behandlung unantastbares Eigentum wird? Wer ja dazu sagt, muß sich darüber klar sein, daß ihm damit Shakespeare als einer der größten, wenn nicht der größte Plagiator der Literaturgeschichte übrig bleibt.
Kein Geringerer als Tolstoi hat ja in seiner hitzigen Streitschrift gegen Shakespeare den Nachweis versucht, daß seine Dramen modische Verarbeitungen – für Tolstoi Verballhornungen – älterer Dichtungen seien. Der Nachweis mußte ihm mißlingen, weil er blindwütig übersah, daß es sich etwa bei seinem Vergleich des König Lear mit dem älteren Vorbild um zwei verschiedene Lebewesen handelt, deren Übereinstimmung nicht in der Form, sondern nur im Stoff liegt. Gerade das Schärfste, was Tolstoi gegen Shakespeare sagt, weist auf diese Selbständigkeit.
Nun weiß ich so gut wie ein anderer, daß Stoff und Form auch im Kunstwerk eine Einheit sind, daß also, wer einen Stoff Übernimmt, stets auch, selbst in der einfältigsten Zeitungsnotiz, Form an sich reißt, die schon geprägt ist, wie Goethe in seinem »Faust« unleugbar geprägte Form des alten Puppenspiels an sich gerissen hat, sie nach seinem ewigen Wort lebend zu entwickeln. Auf diese lebende Entwicklung kommt es wohl an, denn aus sich selber lebt keiner, und der Dichter ist mit jedem Wort verschuldet, das er aus dem Schatz der Sprache nimmt. Strafbar vor dem Geist wird er nach dem drastischen Wortsinn erst – denn Plagiarius bedeutet einen Menschenräuber, Seelenverkäufer –, wenn er Seele, Wesen mißbraucht, wie es Tolstoi von Shakespeare behauptet, und wie es die Zeitgenossen Goethes »Hermann und Dorothea« nachsagten, weil in beiden Fällen die lebendige Entwicklung der geprägten Form nicht erkannt wurde.
Wer einmal eine Literaturgeschichte aus den Keimzellen versuchen wollte, würde die Elemente einer lebendigen Geistesgeschichte aus dem Anschein eines einzigen Plagiats in Händen haben. Ihm würde sich die Frage bald nur noch so stellen: Hat einer sich als Schöpfer betätigt, oder hat er einem fremden Lebewesen nur die Federn bunt gemacht? Ist sein Gebilde aus einer Keimzelle organisch gewachsen oder nur zusammen geleimt? Hat sich geprägte Form lebend entwickelt, oder wurde sie als Münze gebraucht?
Um mit dieser Fragestellung wieder zum Anlaß zurück zu kehren: daß ich mein »Frühstück auf der Heidecksburg« nicht zusammen geleimt habe, weiß ich; meine Anekdote unterscheidet sich von der Schillerschen durch eben das, was ein Stück Epik von einer historischen Mitteilung unterscheidet. Es könnte sich also nur fragen, ob mich nicht der Respekt hätte abhalten sollen, an etwas zu rühren, das Schillers Hand geheiligt hat?
Mir scheint aber, auch da darf ich mich unter den Schutz der Goetheschen Formel stellen: Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Nicht nur der einzelne Mensch findet seinen Sinn darin, sondern jedes Leben überhaupt, auch eine Überlieferung wie die vom Mut der Gräfin von Schwarzburg, ist geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Jenes Etwas darin, dem Schiller nicht den Mund löste, drängte über die Mitteilung hinaus zum Sinnbild, das heißt zum bildhaften, sinnvollen Sein. Der Schillerschen Form lag seine Gestaltung nicht, weil das Thema nicht ausreichte, der meinen schien es vielleicht gerade deshalb verlockend. Am Ende sind wir alle Volksliederdichter, das heißt: das Volk singt nicht nur seine Lieder durch unsern Mund, sondern bildet auch seine Sagen. Da gehört jedem, was er vermeint zu können; wie wiederum jeder mit seinem Können allen verantwortlich ist. Wer sich mit unzureichenden Mitteln am Gesamtgut vergreift, wird von selber ausgeschieden.