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Sensation

(1936)

Vor Jahren fand ich einen Freund mit einer so rührenden Ausdauer an seinem Radiokasten beschäftigt, daß ich mich zuletzt nach dem Grund seines glücklichen Eifers erkundigen mußte. Er hörte ein Unterhaltungskonzert aus Breslau. Da er sich in München, wo er wohnte, niemals das zweifelhafte Vergnügen eines Unterhaltungskonzertes angetan hätte, konnte es nur die Tatsache Breslau sein, die ihn so befriedigte, also die Sensation, über mehr als fünfhundert Kilometer hinweg Töne zu hören, als ob er selber in dem Breslauer Biergarten säße.

Heute, im Zeitalter des Volksempfängers, hat sich diese Sensation gegeben. Es müßte schon ein sehr naives Gemüt sein, das sich noch über die Tatsache Breslau wundern wollte. Man spricht von einem guten oder schlechten Empfang wie vom Wetter, aber man staunt nicht mehr, je nach der Wahl der Wellenlänge Stimmen und Töne von überall her aus dem Äther zu hören, obwohl das Wunder der Technik nicht nur das gleiche geblieben ist, sondern erstaunlich vervollkommnet wurde. Die Sensation ist gleichsam an sich selber gestorben.

Sensation will wörtlich Sinneneindruck heißen; wir wollen damit sagen, daß nur die Sinne berührt seien. Die Sensation meines Freundes kam aber durchaus nicht aus den Sinnen, wenn er auch die Musik aus Breslau mit dem Ohr hörte. Sein Bewußtsein stellte an dem Gehörten etwas fest, was bis jetzt nicht vorhanden, was so neu wie unerhört und darum so aufregend war: wenn es auch nicht eigentlich seine Seele berührte, war es doch mehr als ein Sinneseindruck, also nach dem Wortlaut keine echte Sensation, was er erlebte.

Von einer echten Sensation könnte ein Mensch sprechen, der abends zum ersten Mal durch eine moderne Großstadtstraße ginge und die Pfauenräder der Lichtreklame sähe. Ob die bunte Fülle seiner Seele ein Lichtmärchen vorzauberte, so bliebe doch alles dem Sinneseindruck verhaftet; es wäre buchstäblich eine Sensation. Eine Sensation hingegen wäre es nicht, wenn er zur gleichen Stunde unter dem Sternenhimmel stände, obwohl die Illumination des Himmelsraums ein unbegreiflicheres Wunder als die illuminierte Großstadt ist. Aber er könnte die Augen nicht zu den Sternen erheben, ohne in seiner Seele tief berührt zu sein, und zwar jedesmal, während die Pfauenräder der Lichtreklame ihm bald zur Gewohnheit würden.

Warum dieses so und jenes anders ist, das beantwortet mehr als unsere Frage. In der Natur nämlich, obwohl sie in einem Gewittersturm, einem Wolkenbruch, einer Überschwemmung Aufregendes genug zeigen und bereiten kann, in der Natur gibt es keine Sensation, weil wir auch im Elementaren nie das Gesetz verkennen. Und im Menschenwerk bedeutet das Neue und Unerhörte meist, daß der Menschengeist seinen Triumph über die Natur fühlt. Indem er das Niedagewesene bestaunt, bestaunt er sich selber, der dieses Niedagewesene zu leisten vermochte.

Es war ein Siegergefühl des Menschengeistes, aus dem die eifrigen Hände meines Freundes den Radiokasten, bedienten, durch eine Leistung der Technik in München Töne aus Breslau zu hören. Unter den Sternen hätte er dieses Siegergefühl nicht aufgebracht. Dafür hätte seine Seele einen andern Gewinn gehabt als das Konzert in einem Breslauer Biergarten.

Wenn es keinen Sinn des Menschenlebens gibt, der nicht demütig ins Ewige mündet, so kann die Sensation das Niedagewesene nur ins Nichts führen, weil sie nach ihrer Natur einmalig ist. Die Sensation der illuminierten Großstadtstraße läßt sich nicht wiederholen, und die Sensation meines Freundes starb hin an der Gewohnheit. Eine Zeit, die nur aus der Sensation lebte und damit dem Vergänglichen verbunden wäre, statt dem Ewigen, könnte keine Kultur tragen. Und das ist die Sorge dieser Betrachtung, ob wir nicht mit unsern Radiokästen, den illuminierten Großstadtstraßen und all den andern Errungenschaften des modernen Menschengeistes mehr als es gut sein kann, der Sensation zu- und dem Ewigen abgewandt sind?


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