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Mensch und Buch

(1938)

Wenn wir ein Buch lesen, so tun wir nach der Sprachbedeutung etwas Merkwürdiges: wir lesen Buchstaben auf, und die sind von den Buchenstäben übrig geblieben, in denen Runen als unsere ersten Buchstaben eingeschnitten waren. Vom Auslesen der Buchstaben weiß freilich nur noch der Abc-Schütze; wir »gelernten« Leser haben es nicht mehr mit Buchstaben, kaum noch mit Worten zu tun: uns ist die geheimnisvolle Kunst des Lesens alltäglich geworden.

Die Kunst des Lesens ist aber nur Anhängsel eines größeren Geheimnisses, nämlich des der Sprache, die uns zwar alltäglicher ist als das Lesen, in der aber das ganze Menschentum hängt. Ohne Sprache säßen wir im Geheimnis der Wahrnehmungen, mit denen uns die Sinne bedrängen: wir sähen, hörten, röchen, schmeckten, fühlten, nur bliebe das Wahrgenommene Chaos. Erst mit der Sprache beginnt die Ordnung, aus der wir Menschen in der Welt leben können. Sie ist von allen Geheimnissen unseres Menschentums das bedeutendste; und Johannes hatte Grund, sein Evangelium: »Im Anfang war das Wort« zu beginnen.

Wenn wir lesen, sind wir auf besondere Weise im Geheimnis der Sprache, da sie nach ihrer Natur gesprochen und gehört wird; vermittelst der Buchstaben aber haben wir uns eine Fähigkeit angezüchtet, im Genuß der Sprache zu sein, trotzdem sie weder von einem Mund gesprochen noch von einem Ohr gehört wird. Wir kennen diese Fähigkeit auch ohne Buch: wenn wir denken, geschieht das selbe, nur daß wir dabei kaum noch im Gefühl der Sprache sind. Ohne Sprache könnten wir aber überhaupt nicht denken; und was wir so nennen, ist eigentlich ein Selbstgespräch, das des Mundes und Ohres nicht bedarf, weil es in uns selber geschieht. Dieses in uns selber Geschehen der Sprache ist der seltsamste Bezirk ihres Geheimnisses: wir machen von ihr Gebrauch, ohne sie willentlich zu bemühen; ja, sie macht in reichlich vielen Fällen von uns Gebrauch, die wir von ihren Gedanken bedrängt werden – wie wir sagen –, obwohl wir nachts lieber schliefen, statt von ihrer Flucht befallen zu sein.

Wenn wir lesen, wird aus dem Selbstgespräch ein Zwiegespräch; denn dann ist ein anderer mit im Geheimnis der Sprache, dem wir zuhören und Antwort geben. Genau besehen, geht freilich etwas Heimliches vor. Es kann einer lesen, wie er einer Predigt zuhört: die Worte fallen in sein Ohr, und die Augen sehen der Schwalbe zu, die durch das Kirchenfenster herein fliegt. Hörte er die Predigt richtig, so sähe er weder die Schwalbe noch den Prediger auf der Kanzel; er vernähme die Worte nicht aus fremdem Mund, sondern aus einer Tiefe, die in ihm selber ist, und die er ahnungsvoll seine Seele nennt. Aus dieser Seele spricht es; und je wirkungsvoller die Predigt ist, desto weniger ist der Mund auf der Kanzel daran beteiligt.

Genau so geht es dem Leser: wer da noch an Buchstaben, Worte, Sätze, an das Gedruckte denkt, oder gar an den, der das Gedruckte zuerst mit der Feder schrieb, der liest noch nicht recht. Daß Tausende nur so zu lesen verstehen, sagt nichts dagegen, daß der rechte Leser anders geartet ist. Er hört mit seiner Seele dem zu, was letzten Endes seine Seele selber spricht, weil er ganz im Geheimnis der Sprache ist, die weder ihm noch dem Schreiber gehört, sondern ein Gemeinsames ist, darin sie beide aufgehen.

Wenn er nachher Worte darüber macht, sagt er, er sei hingerissen gewesen; aber es war nicht so sehr der andere, der ihn hinriß, wie ein Etwas in ihm selber, das er Geist oder Seele nennen mag, das aber das Urgeheimnis unseres Menschentums ist, die Welt in unser Bewußtsein hinein nehmen zu können, wo sie – wie die Gelehrten sagen – erst eigentlich existent wird.

Indem wir das Buch einen Freund nennen, rühren wir daran, daß auch der Freund nicht der Mann so oder so, sondern der andere Mensch ist, in dem der eigene Mensch sich wiederfindet; aber ebenso findet sich der andere in ihm wieder, und dieses gegenseitige Finden macht ein Glück aus, in dem sie sich beide verlieren, um ein Etwas zu gewinnen, das ihre tiefste Sehnsucht und darin das eigentliche Selber ihrer Seele ist.

Platon in seinem »Gastmahl« hat uns das wundervolle Bild gegeben, daß im Namen des Eros zwei zueinander gehörende Hälften der Welt einander suchen, um aus ihrer Spaltung wieder ganz zu werden und – weil sie nur ganz die Welt ist – so die Welt neu zu schaffen, die durch Eros immer neu in die Schöpfung gehen muß, um zu sein. »Eros ist in der Mitte zwischen dem Unsterblichen und dem Sterblichen«, sagt Platon; und wenn er Eros einen Dämon, einen Heiland nennt – »alles Dämonische, alles Heilende lebt zwischen Gott und Mensch« –, so wissen wir, was in der Spaltung geschah: daß sich das Ich aus der Einheit ablöste, in der es nur noch das Du sehen kann. Erst wenn Ich und Du sich finden, ist die Welt wieder ganz und da, ist das Ich in ihrem Es erlöst.

Auch ehe es Bücher gab, war dies das Thema des Menschen in der Welt, dessen Lösung von allen Weisen als Erlösung gepriesen wurde: Erlösung aus dem Ich und Du als dem Schicksal des Menschen, das im Urgeheimnis, der Sprache beschlossen liegt; denn die Spaltung kam aus dem Bewußtsein, aus dem Wissen um gut und böse, das uns die Sprache brachte. Weshalb die Erlösung auch nur aus der Sprache geschehen kann, da, wo wir sie das »Wort Gottes« nennen, welches Wort Gottes das Ziel aller Weisheit und die ewige Aufgabe des Dichters ist.

Auch, ehe es Bücher gab, hat es Dichter gegeben; denn die angezüchtete Fähigkeit, vermittelst der Buchstaben zu lesen, ist, wie wir sagten, nur Anhängsel am Geheimnis der Sprache. Aber das Buch hat den Dichter landläufig gemacht; und es mehrt sich die Klage, das Geheimnis habe dadurch Schaden gelitten. Dies kann nur sein, wo der Leser nicht mehr sich selber, sondern in seiner »Unterhaltung« Vergessenheit seiner selber sucht. Die Landläufigkeit des Buches ändert nichts daran, daß es dem Leser als Freund, also im Namen des Eros kommen kann: auch die Sprache reicht vom gemeinen Fluch bis zum Wort Gottes. Nicht wie ein vergrabener Schatz ruht das Wort Gottes im Buch, den ein Schatzgräber durch Zufall findet, sondern er muß es in seiner Hälfte anbringen, die andere Hälfte und damit die Gänze der Welt zu gewinnen.


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