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Mein Vesperbild

(1924)

Dessen Geburtstag wir Weihnachten feiern, den beklagen wir schon am Karfreitag. Jahr für Jahr blinken die fröhlichen Kerzen im Schnee; aber wenn draußen die Knospen drängen, schweigen die Glocken der Christenheit und warten, bis er auferstanden ist von den Toten. Vom Winter nur zum Frühling reicht sein Gedächtnis; denn aus den blühenden Wiesen um Pfingsten ist er schon zum Himmel gefahren.

Die aber als seine Mutter die Jungfrau Maria genannt wird, die das Knäblein in einem Stall gebar und die unmündige Menschlichkeit Gottes in eine Krippe zu Bethlehem legte, sie stand mit dem Jünger unter dem Kreuz, da er starb. Und als sie den Leichnam am Abend abnahmen, hielt sie – wie vormals den Säugling – den Toten auf ihrem Schoß, ehe sie ihr den Sohn ins Grab legten: Das ist die Marienklage am Abend, und ihre Darstellung in der deutschen Bildnerkunst des Mittelalters wird als das Vesperbild gepriesen.

In keinem der vier Evangelien aber steht ein Wörtchen davon, daß Maria so mit dem toten Sohn auf dem Schoß klagend dasaß. Den Vorgang in seiner Menschlichkeit hat sich das Volksgefühl ausgemalt, und zwar das deutsche besonders. Seit dem dreizehnten Jahrhundert gibt es in unserer Sprache die Marienklage, und seit dem vierzehnten Jahrhundert in unserer Bildnerei das Vesperbild als eine deutsche Besonderheit. Und wer die schlichten Worte wie die rührenden Schnitzwerke aufnimmt, hat neben den vier Evangelien des Neuen Testaments noch ein fünftes, das der deutschen Volksseele, erlebt.

Wie wir so ziemlich alles vergaßen, was einmal Volksgut war, haben wir das Evangelium dieser Bildwerke lange vergessen. Auch, als die Romantik den Schatz unserer Märchen, Sagen und Volkslieder hob, selbst als die buntfrohen Bildtafeln der altdeutschen Meister wieder staunende Augen fanden, blieben die Vesperbilder unbeachtet da stehen, wo eine absterbende Volksseele sie stehen gelassen hatte. Erst auf dem italienischen Umweg, den die deutsche Kunstbildung des neunzehnten Jahrhunderts nahm, sind wir von der Pieta mühsam zum Vesperbild zurück gekommen, spät erkennend, was sich darin aus eigener Herkunft verbarg.

 

Mein Vesperbild stammt aus Munderkingen in Schwaben, also aus einem dieser Städtchen, die ebenso abseits gerieten wie der deutsche Bürgergeist, der sie baute. Wo es dort stand, weiß ich nicht; und wer es schnitzte, ist lange vergessen. Es stammt aus einer Zeit, da es Kunst für die Kunst noch nicht gab und die Künstler noch nicht so wichtig vor ihrem Werk waren wie heute. Daß ich die Holzgruppe in mein Arbeitszimmer stellte, hat mit der Kirche nichts mehr zu tun, sie steht um ihrer selbst willen da; aber dieses Selbst ist doch nur ein Sinnbild, nicht also Schönheit, »selig in ihm selbst«.

Die mir ins Zimmer kommen und mein Vesperbild sehen, haben alle ihren eigenen und meist einen sehr anderen Schlüssel als meinen, seinen Sinn zu erschließen. Die aus dem Volk, wenn sie Protestanten und also noch ein wenig von der Bilderstürmerei angetan sind, wundern sich, daß ich ein so katholisches Ding täglich vor Augen habe; ich bin ihnen ein wenig verdächtig in meiner protestantischen Gesinnung. Den Katholiken hingegen ist es zwar eine liebe Gewohnheit und überdies eine, die durch die Kirche geheiligt wurde. Wollte ich aber diesen wie jenen sagen, daß mir dieses Vesperbild ganz außerhalb jeder kirchlichen Beziehung lieb ist als ein Heiligtum deutschen Volkstums: es würde mir kaum gelingen, mich ihnen mit Worten verständlich zu machen, weil der Lebensgrund, aus dem es entstand, im Volk nicht mehr vorhanden oder doch taub geworden ist.

Um nach seiner Natur als Sinnbild geschätzt zu werden, bedarf mein Vesperbild heute der Bildung; es ist keine Volksangelegenheit mehr: eben dies ist sein Mißgeschick und unser Unglück. Denn die Gebildeten haben zwar, je nachdem ihre Bildung wissenschaftlich oder künstlerisch ist, einen historischen oder ästhetischen Schlüssel, sich das Bild zu erschließen; aber der Sinn, den sie finden, bleibt in der Bildung beschlossen und kann dem Leben selber keine Bedeutung geben.

Die von der Kunstgeschichte aus meine Lindenholzgruppe schätzen, können mir gescheite Dinge ihrer Herkunft sagen, wieweit sie dem schwäbischen Kreis angehört, wie sie sich zum datierten Vesperbild auf der Feste Coburg als ihrem Vorbild verhält und in welches Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhunderts sie ungefähr zu verweisen ist. Sie sind nach dem heutigen Zustand der kunstwissenschaftlichen Bildung auch in der Lage, kritische Formurteile abzugeben, wie etwa die Figur der sitzenden Maria aufgebaut ist und wie sie von der schrägen Gestalt des Gekreuzigten überschnitten wird. Denn mein Vesperbild stammt noch, wie sie mir sagen, aus der frühen Zeit, wo der Leichnam »in großer Schräge den Block überschneidet«, also noch nicht in kaum merklicher Schrägung balkenstarr liegt.

Solche formalen Prägungen gehören aber schon in den ästhetischen Bereich; sie sind jener Bestandteil kritischer Betrachtung, der aus der künstlerischen Anschauung für die Wissenschaft zugänglich geworden ist. Die künstlerische Anschauung vermag überdies die Einzelheiten am Ganzen zu werten und alles Formale in die Rechnung der Empfindung einzustellen; sie vermag fließende Schönheit zu finden, wo das ungeübte Auge nur eckige Holzgestalt sieht. Ihr wird mein Vesperbild Form, die an andern Formen gemessen von halber oder ganzer Vollkommenheit ist.

Weder dieses noch jenes aber hat mit der Bedeutung des Sinnbildes zu tun, die mich es in mein Arbeitszimmer stellen ließ.

 

Der das Schwabengesicht meiner Maria schnitzte, war gewiß ein Meister der Zunft, wie deren manche im Land saßen, der Kirche ihre Bildergestalten zu schnitzen. Und daß er ein Vesperbild machte – kaum ohne Auftrag, weil die Zunft nicht erlaubte, auf Vorrat zu schaffen –, entsprach einer Mode seiner Zeit. Auch Moden waren damals von tieferer Natur als heute; und die Ursache der vielen Vesperbilder war, daß sich das Volksgemüt immer gewisser der Heilsgeschichte bemächtigte und ihren Bericht immer fröhlicher bebilderte: nicht anders, als würde die frohe Botschaft nun erst von ihm angenommen.

Denn zuerst kam das Christentum als fremde und feindliche Macht über die Deutschen, alles entwurzelnd, was der eigenen Herkunft heilig war. Jahrhunderte lang rangen Wodan und Christus um die Herzen, ehe der Gekreuzigte seine Dornenkrone als Sieger trug; Jahrhunderte dauerte es, bis aus dem lateinischen Mönchtum deutsches Christentum wurde, und die Gotik erst war die Gewißheit des deutschen Christen. Erst als in der Gotik das Evangelium eine Volksangelegenheit geworden war, wurden Leisen gesungen und Vesperbilder geschnitzt, wie wenn Kinder sie sangen oder schnitzten.

Damals erlebten wir Deutschen unsere zweite Kindheit. Alles vordem war dagegen Alter. Uralt waren die Götter und Sitten unserer germanischen Frühzeit; und als sie vor der neuen Botschaft des Heliand hinab in den Spuk sanken, waren Jahrtausende mit ihnen vergangen. Ebenso inbrünstig und weltfeindlich, wie das Morgenland in den mönchischen Fenstern geglüht hatte, ebenso weltfröhlich wurde danach die Volksseele wach, das Mysterium vom Kreuz mit seiner Bilderwelt auszufüllen, die von wohlgemutester Diesseitigkeit war. Schon die Unbekümmertheit, mit der die altdeutschen Maler die heilige Geschichte in deutsche Gewänder steckten, ihre Bilder mit Kleid und Hausrat der eigenen Alltäglichkeit füllend, spricht von dieser Kindheit; und mein Vesperbild ist mir ein besonderes Zeichen, wie unbekümmert und selbstgewiß sie war.

Der es schnitzte, hatte das Evangelium deutsch sagen gehört, er hatte Leisen gesungen und Spiele gesehen, darin die heiligen Gestalten mit aller Einfalt umgingen, und ihm selber führte die Einfalt das Messer. Die Kirche, der Macht ihres Mirakels vertrauend, hatte das Holz des Gekreuzigten zu ihrem Sinnbild erhoben. Diesem Bildschnitzer aber wurde ganz unbemerkt der Leichnam Jesu eine Puppe auf dem Schoß seiner Mutter, mit allen Zeichen des Leidens behaftet, aber schon lebens- und wesensfern, indessen sie selber in ihrer ganzen Leiblichkeit dasaß.

Wenn sich der Tote meines Vesperbildes von ihrem Schoß aufrichten könnte, würde er mit seiner schmächtigen Menschengestalt vor einer Riesin dastehen. Kaum anders als ein zerbrochenes Spielzeug hält sie den kleinen Körper; und ob sie ihn mit zart behutsamen Händen kaum berührt: wie sie hinsieht über ihn, sein hängendes Häuptlein und das Dornenkrönlein daran, ist es kaum Schmerz, nur tiefe Verwunderung.

Und seltsam: er hat ein fremdes Gesicht mit schwarzem Bart und Haar; sie aber ist blond und in rotbackiger Fülle. Und nicht dies spricht aus ihren still und stark auf den Toten gerichteten Augen: Hier starb, der sich den Menschensohn hieß, aber Gottes eingeborener Sohn war, und ich, seine Mutter, zerbreche im Schmerz, daß mir solches Schicksal geschah! Viel zu sicher ihres lebendigen Leibes sitzt sie da und sucht mit fast neugierigen Blicken, das Leid ihrer Liebe in diesem zerbrochenen Körper zu finden. Wenn ihr die Männer das Spielzeug ins Grab legen, das einmal ihr Sohn war, wird sie aufstehen in ihrem schweren Faltengewand und ihr Leid ungebeugt tragen, weil sie mehr als nur die Gebärerin dieses gekreuzigten Menschenleibes, weil sie die ewige Mutter des Lebens ist.

 

So das Bild seiner Maria schnitzend, hat der Meister von Munderkingen der ewigen Mutter ein Sinnbild geschaffen. Alles Leben aus ihrem Schoß löst sich ab, um zu sterben. Die ewige Fruchtbarkeit kennt nichts als den endlichen Tod dessen, was aus ihr zu keimen begann, weil der kurze Traum eines eigenen Lebens die Trennung von ihr und also der Tod ist. Ewig bleibt allein der Schoß, daraus es gezeugt wurde.

Indem der Meister dies schnitzte, überwand er nicht nur den Schmerz der Marienklage, sondern in einem tiefen Sinn das Evangelium selber: Die Bedeutung des Kreuzes war nicht nur die Entsühnung der sündigen Menschheit durch den Opfertod des Erlösers, sondern auch die Überwindung des sinnlichen Daseins durch die Freiheit der Seele. Der Leichnam in den Händen Marias war das Sinnbild dieser Abwendung von der Scheinwelt der Sinne, war die Überwindung des Leibes um der Seligkeit willen; und sie, die den gebrochenen Leib hielt, konnte für die Christen nicht anders als der Anhang des leiblichen Todes selber gebrochen dasitzen. Eben dies tat sie unter dem Schnitzmesser des schwäbischen Meisters gar nicht; vielmehr sitzt sie da als ein Sinnbild der ewigen Urkraft des Lebens, der kein Tod etwas anhaben kann.

Das Schnitzwerk derart betrachtend, dürfen wir die Erinnerung antasten, daß Frigga, der Urmutter bei den Germanen, die Spindel geweiht war. Gewiß ist es willkürlich, den Leib des Gekreuzigten einer Spindel zu vergleichen; aber hatte Frigga, die als Urmutter den Kinderbrunnen behütete, nicht zugleich auch die Holden um sich, die Seelen der Toten, in den zwölf Weihnächten? Und waren es Kleider des Alltags, dazu sie am Wocken saß und spann? War es nicht das Kleid des Lebens: die wechselnde Daseinsform der ewigen Wiederkehr?

Die ewige Mutter des Bildschnitzers würde nicht sein, was sie ist, hielte sie nur die Spindel in Händen. Aber da ich nun sehe, wie fremd ihrer Form der Leib des Gekreuzigten ist, weiß ich das Sinnbild zu deuten: wohl ist es Frigga, die Urmutter des Lebens, wie der Deutsche sie dachte; aber das Schicksal hat ihr statt der Spindel den Gekreuzigten in die Hände gespielt.

Wenn es allein um mein Vesperbild und seinen verschollenen Bildschnitzer ging, würde ich die Deutung leichtfertig heißen; aber ich brauche nur einen Blick in die Zeit zu tun, da es entstand, um meiner Gedanken gewisser zu sein. Das Jahrhundert hatte mit Meister Eckhart begonnen, und durch die Gottesfreunde war das Herzblut der Mystik in alle Adern des Volkes geflossen. Das Christentum, lange lateinisch fremd, war in die deutsche Sprache gedrungen; aber die Sprache ist das, worin ein Volk seine Herkunft lebendig erhält. Am Christentum war seine Kindheit wieder erwacht zur frohesten Fülle; die Fülle war sein, nur der sie zur Freiheit erweckte, den hielt es fremd in den Händen als Sinnbild des neuen Schicksals, das ihm gesetzt war.

Das deutsche Volk selber, dem der Gekreuzigte in den Schoß gelegt wurde: das ist mir mein Vesperbild aus Munderkingen in Schwaben. Mir zum Trost habe ich es mir in mein Arbeitszimmer gestellt, daß die Gläubigkeit an mein Volk sich tapfer halte in einer Zeit, da ihm die Spindel vom Schicksal wieder vertauscht ist.


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