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Ein Brief zu »Hölderlins Einkehr«

(1925)

Lieber Eduard Reinacher, es wird Ihnen, denke ich, den Wert meiner Widmung nicht mindern, daß ich mich mit dieser Novelle vergebens um den Preis bewarb, den Velhagen und Klasings Monatshefte für eine »Meisternovelle« ausgeschrieben hatten. Denn verhehlen will ich dieses Mißgeschick nicht, vielmehr den Zeitgenossen und, wills Gott, der Nachwelt recht auffällig davon Kenntnis geben; nicht etwa aus einem Groll, sondern weil ich, meiner Dinge getrost, wie man im Deutschen sagt: ein Exempel statuieren möchte. Da nämlich in jenem Wettbewerb drei Novellen preisgekrönt und fünfzehn angekauft wurden, stand ich mit meiner Arbeit bestenfalls an der neunzehnten Stelle, das heißt achtzehn der eingereichten Novellen schienen dem Preisrichter der Meisterschaft würdiger als diese. Ohne besondere Eitelkeit müßte ich daraus eine beträchtliche Höhenlage der gegenwärtigen deutschen Erzählungskunst folgern; denn trotz ihrer natürlichen Mängel der Herkunft – die jedes Kunstwerk an sich trägt, mehr oder weniger nach dem Grad seiner Vollendung – stellt diese Novelle »Hölderlins Einkehr« ziemlich das Höchste dar, was ich nach drei Jahrzehnten eifriger Bemühung um die epische Kunst zu leisten vermag.

Vor einigen Jahren gab ich zu einer Rundfrage ein Vatererlebnis preis, wie ich meiner Tochter aus besonderen Gründen einmal einen Schulaufsatz machte und dafür die Note 3–4 erhielt. Heute möchte ich als ein weiteres Geständnis hinzufügen, daß ich mich mit einem beträchtlichen Teil meiner als »Anekdoten« – wie mir scheint nicht unrühmlich – bekannten Novellen im Lauf der Jahre an Preisausschreiben beteiligte und jedesmal durchfiel. Ist es vielleicht doch eitel, wenn ich sage: da muß etwas im Argen liegen, das heißt die Stellen, die unserm Volk verantwortlich sein sollten für die Bewertung dichterischer Dinge, sind ihrem Amt nicht gewachsen? Denn nicht immer hat es sich, wie diesmal, bloß um ein sogenanntes Familienblatt gehandelt.

Selbstverständlich liegt der allgemeine Trost nahe, daß die zeitgenössische Bewertung durchaus nicht über die dauernde Wirkung entscheidet, weil auch hier die Natur der Dinge das letzte Wort behält. Ich selber habe ja in meinem nun siebenundfünfzigjährigen Leben Zeit und Glück gehabt, eine erste Wandlung des Urteils schon zu erfahren: eben meine »Anekdoten«, die ich s. Z. allen führenden deutschen Verlegern vergebens anbot und die auch bei den Redaktionen nicht immer Gnade fanden, sind unterdessen ein Bestandteil der zeitgenössischen Dichtung geworden, den mir fürs erste keine Kritik zerreden kann. Wie freilich die Nachwelt sie bewerten wird, weiß ich nicht; jedoch, meine Kritiker wissen dies auch nicht.

Aber nicht allen wird so gnädig Frist gegeben, selber noch eine erste Wirkung ihrer Dinge zu erfahren. Sie wissen, daß ich vor drei Jahren den Gedichten von Frida Bettingen zum Druck verhalf, die sonst weder eine Redaktion noch einen Verleger gefunden hatten. Zwar sind sie auch heute noch unserm Volk so gut wie unbekannt; aber sie wurden von den Einsichtigen doch als das Werk einer großen Dichterin aufgenommen. Nun, als ich das Werk heraus brachte, war es knapp vor Toresschluß: Frida Bettingen ist bald darauf ihrer geistigen Erkrankung verfallen, und heute deckt sie der Hügel. Ohne mich hätte sie das schmerzlich ersehnte Glück, ihre Gedichte gedruckt zu sehen, kaum erlebt; und wer weiß, ob ihr Werk sonst nicht völlig verschollen wäre, wie etwa der zweibändige Roman von Kleist in der Nichtachtung seiner Zeit – Tieck brachte die erste Sammlung seiner Werke erst 1826, also fünfzehn Jahre nach seinem Tod heraus – bei einem Berliner Verleger verschwunden sein soll.

Wenn wir dagegen den rastlosen Eifer sehen, mit dem an unsern Universitäten über Literatur gearbeitet wird, und wie die Feuilletons unserer Tageszeitungen kritisch und lobpreisend gefüllt sind, sollten wir meinen, dergleichen sei heute gar nicht mehr möglich. Aber eben dieser Eifer erinnert mich allzusehr an unsere Gluckhenne, der ich das schönste Futter hinstreue, und sie, im Drang der Natur, den Küchlein ihre Künste zu zeigen, kratzt so lange darüber her, bis alles im Dreck verscharrt liegt.

Sie selber, Eduard Reinacher, sind lange genug deutscher Dichter, um zu wissen, daß wir ohne den Literaturbetrieb in unserm Volk ganz verlassen wären; auch dürfen wir an dem redlichen Eifer der betriebsamen Hände im Ganzen nicht zweifeln: Der Fehler liegt darin, daß die Pflege der zeitgenössischen Dichtung von der trägen Masse unserer sogenannten Gebildeten ganz dem Literaturbetrieb überlassen und dieser dadurch Selbstzweck wird.

Dichtung, wie wir beide sie wohl übereinstimmend verstehen, ist höchste Entfaltung der Volksnatur, das heißt: alles, was der Dichter schaffen möchte und muß, steht in einer Einheit mit dem, wessen das Volk bedarf. Dichtung in diesem Sinn ist der unausgesetzte Versuch eines Volkes, sich eigene Sinnbilder zu schaffen, an ihren Formen selber Form zu gewinnen. Jeder Dichter glaubt natürlich, daß er der berufene Formschöpfer wäre: und je träger ein Volk ist, je mehr seiner Tätigkeit die natürliche Sicherheit des Urteils fehlt: um so mehr wird es auf die Vermittlung seiner Literaten angewiesen sein, um einen Wertmesser zu haben.

Daß wir Deutschen dieser Vermittlung besonders benötigt sind, wird durch den Tiefstand dessen bewiesen, was die Masse der sogenannten Gebildeten liest. Der Instinkt ihrer Herzen und Hirne scheint einer traurigen Selbstbefriedigung verfallen zu sein. Das, was wir dagegen unser geistiges Leben nennen, vollzieht sich, soweit es die zeitgenössische Dichtung betrifft, eigentlich nur noch literarisch, das heißt: es ist eine Angelegenheit der Literaten und dadurch Selbstzweck geworden. Der Wertmesser hat den Maßstab statt im Bedürfnis der Volksnatur in sich selber gefunden, die Mechanisierung, die Überwucherung einer von der Natur abgelösten Technik ist auch hier eingetreten.

Erst kürzlich erschien das bedenkliche Büchlein vom »unbegabten Goethe« als eine Zusammenstellung abfälliger zeitgenössischer Urteile über den Dichter, wie sie sich der Alte von Weimar selber einmal gewünscht hatte. Wenn in seiner Hoch-Zeit der »Dichter und Denker« das Literatenurteil so dreist sein durfte, wie es sich in dieser Zusammenstellung darstellt, brauchen wir uns in einer Tiefzeit wie der heutigen kaum zu wundern, wenn Alfred Kerr das Verhältnis auf den Kopf zu stellen wagte: Die Dichtung sei das Nebensächliche für seine Hauptsache, nämlich den Literatengeist daran leuchten zu lassen.

Lieber Eduard Reinacher, Sie sehen, daß ich Ihnen nicht allein um Ihrer Liebe zu Hölderlin willen den Druck dieser kleinen Novelle widme. Sie selber haben mit Ihren »Elsässer Idyllen und Elegien« dem deutschen Volk ein Gedichtbuch gegeben, das aller Künstelei und Ekstase der gegenwärtigen Literaturlyrik zum Trotz von einer einfältigen Gläubigkeit und volkstümlichen Sprachkraft ist. Denn dies eben ist doch wohl die Gefahr einer literarischen Zeit, daß sie Literatenlyrik, Literatenepik und Literatendramatik zeugt und pflegt, neben der das Volkstümliche als altmodisch oder sonst belanglos auf der Strecke liegen bleibt: nicht etwa, weil das Literatentum so dumm ist, an seine Dinge zu glauben, sondern weil eben die einfältige Gläubigkeit guter Dinge seiner zwiespältigen Ungläubigkeit unbegreiflich und verdächtig ist.

Alle wahre Kunst und Dichtung aber ist gläubig, um es in Ihrer Sprache auszudrücken: positiv, während alles Literatentum ungläubig, mit Ihrem Lieblingswort ausgedrückt: skeptisch, das heißt negativ ist, weshalb dann ein Kopf vom Schlage Worringers die nahe liegende Folgerung zog, daß unsere Zeit, als des großen Instinktes, das heißt der Gläubigkeit verlustig, auch unfähig zur großen Kunst sei. In welcher Folgerichtigkeit eben nur der Irrtum liegt, daß sie das Literatentum unserer Zeit für die Zeit nimmt.

Ob der Literat kritisiert oder anerkennt, stets ist es die Skepsis, die seine Werte bestimmt, eine Skepsis, die aus seiner eigenen Entwurzelung gehindert wird, je eine Sache um ihrer tiefen Verwurzelung willen gläubig hin zu nehmen. Selbst seine Ekstase – und was er den Expressionismus hieß, war seine Ekstase – zeigt an, daß er den Grundmächten des Zweifels preis gegeben ist, der keine ruhige und einfältige Gewißheit der Sinne, das heißt keine Gläubigkeit der Dinge, also auch keine Kunst als höchste Volkstümlichkeit kennt – denn das Volk lebt seiner Sinne gewiß in den Dingen –, dem Dichtung nie das Was einer tiefen Verbundenheit, sondern nur immer das Wie ihrer Mache bedeutet. Daß der Literat zwischen uns und dem Volk das geistige Leben bestimmt, weil die Masse der Gebildeten an Herz und Hirn faul wurde, ist unser Schicksal, dem wir gewachsen sein müssen, indem wir gläubig beharren und der Einfalt gewiß bleiben, in der unser Volk trotzdem zu seinen Sinnbildern kommen will.


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