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(1928)
Wenn man an der Seestraße nach Friedrichshafen wohnt, wo am 31. Oktober um neun Uhr abends der Zeppelin von Amerika ankommen soll, macht es sich von selber, daß gegen Abend der Wagen klar gemacht wird. Wenn man nur wüßte, ob die Ankunft gewiß ist! Denn man wohnt in einem Dorf, wo um acht Uhr das Telephon aufhört. In der letzten Minute wird durch Freundlichkeit des Postfräuleins gemeldet, daß der Zeppelin um achtzehn Uhr über Brest gesichtet worden sei und also kaum vor drei Uhr eintreffen könne. Darauf Kriegsrat mit den Söhnen, wo ich eine Art Erzherzog bin, der das Kommando nur dem Namen nach führt, und Beschluß: um ein Uhr wecken, um zwei Uhr fünfzehn Abfahrt, denn es sind dreiundvierzig Kilometer bis Friedrichshafen.
Es ist eine näßliche Nacht, durch die wir fahren, und der Mond vermag wenig gegen den Nebel. Vor Überlingen beginnen wir die Radfahrerkolonnen zu überholen; von Meersburg ab sind wir im Geschiebe der Wagen: so haben wir eine Stunde bis Friedrichshafen gebraucht. Der sonst um diese Zeit verschlafene Ort ist großstädtisch belebt; aber als wir im Bahnhof eine Tasse Kaffee trinken, liegt das Extrablatt vom vergangenen Abend da, daß der Fackelzug vertagt und die Haltemannschaft auf den Morgen um halb sieben bestellt sei. Sollte die Ankunft vorher erfolgen, würden Böllerschüsse rechtzeitig wecken.
Von halb vier bis halb sieben sind drei Stunden, die wir daheim länger hätten schlafen können. Aber als wir galgenhumorig auf den Bahnhofsplatz hinaus kommen, tut es unvermutet den ersten Böllerschuß, und in den Autos rundum beginnt der verschlafene Verdruß sich zu regen; wie wir um die Ecke zum Flugplatz hinaus fahren, steht schon der Verkehrsschutzmann da.
Unser Wagen findet seinen Platz zwischen Bäumen im Gras; wir selber stapfen gegen das Tor, wo die Menge sich zu stauen begonnen hat. Will man uns nachts um halb vier Uhr Eintrittskarten verkaufen? Mit gefalteten Händen, der dadurch gestärkten Ellbogen wegen, sind wir für eine Viertelstunde unserer körperlichen Eigenmächtigkeit entledigt; wie die Menge schwankt, müssen wir mitschwanken in dem Engpaß, der von hinten her mit jeder Minute ungeduldiger bedrängt wird.
Als ein Auto sich die Durchfahrt erzwingen will, bleibt es bald stecken. Eine Ungeduld reizt die andere, und schon beginnt es, verdächtig zu knacken, als ob es in der nächsten Minute Glasscherben und andere Splitter geben sollte. Da schwingt sich eine Geistesgegenwart von innen auf die spitzen Stangen des Tores: Man würde uns einlassen, nur möchten wir links gehen! Dem gefährdeten Auto ist dadurch das Leben gerettet und uns allen eine böse Beschämung erspart. Wie durch ein Wehr werden wir durch das geöffnete Tor eingeschleust, und es sieht lächerlich aus, wie einzelne sich mit aufgerissenen Augen um sich selber gedreht sehen.
Links gehen! mahnen Stimmen hinter uns her; dies heißt, daß wir vom festen Weg ab in einen nassen Acker hinein stapfen müssen, aber wir tun es alle gehorsam; auch ist es Nacht, und wir sehen den Jammer des Schuhwerks nicht. Aber der Acker ist weit; in dieser Weite verfließt gemächlich, was in der Enge bedrohlich strudelte, und der Witz kommt wieder hoch.
Es mag gegen vier Uhr sein, und die Nebelnacht macht noch keine Anstalten, dem kommenden Morgen Raum zu geben. Wie durch Wasser scheint der Mond auf die schwarzen Klumpen der wartenden Menschen, die wie Tiere zur Nachtzeit auf der Weide herum stehen. Die große Halle ist geöffnet mit ihrem weißgrünen Licht; von überall her grellen die Scheinwerfer noch anfahrender Autos, und irgendein Dilettant versucht, mit Magnesiumlicht Zeichen zu geben.
So geht noch eine halbe Stunde hin, bis deutlich der Hall von Motoren in der Nacht ist; wie ein Ofengeräusch ballert es aus der Weite, wird stärker, und auf einmal geht ein erster Schrei auf von den Menschen, weil sich über den stachen Höhenrand im Westen etwas herein schiebt, das mit jeder halben Minute sichtbarer der Riesenkörper des »Graf Zeppelin« ist, der vor achtundsechzig und einer halben Stunde aus Lakehurst abfuhr, und alle, die zu dem anschwimmenden Unding hinauf starren, mögen denselben Gedanken haben, daß es den Weg, auf dem Kolumbus im Jahre 1492 vom 3. August bis 12. Oktober segelte, in zweieinhalb Tagen zurück gelegt und dazu Frankreich in einer Nacht überflogen hat.
Es sind nur Minuten, die der Zeppelin braucht, sich aus dem Nebel der Ferne in unsere Nähe zu schieben; während sein dunkler Körper in der Mondnacht genau über unsern Köpfen scheinbar noch in voller Fahrt geht, starren wir alle mit himmelwärts gewandten Gesichtern zu ihm hinauf; und es mag einem Dämon, der auf dem Licht in der Spitze reitet, von oben erscheinen, als wären die vielen tausend Gesichter eine aus der Nacht mit weißen Blumen hinauf leuchtende Wiese. Der Jubelschrei aber, der aus tausenden von Kehlen zu ihm aufgeht, klingt in das Gebrüll seiner Motoren kläglich wie eine Kindertrompete.
Ich sehe nach der Uhr; sie zeigt 4,38 Uhr, und bis die Sonne nach dem Kalender um 6,55 Uhr aufgehen soll, sind es immer noch mehr als zwei Stunden. In der Nacht aber wagt der Koloß, der den Ozean überflogen hat, nicht zu landen; und so beginnt das stundenlange Spiel, das er mit unserer Ungeduld treibt, indem er die Fahrt kaum hemmt und unsern Blicken so rasch gen Osten verschwindet, wie er aus Westen kam. Zweieinhalb Stunden lang treibt er es so, immer von neuem erscheinend und aus der verdrießlichen Ungeduld lösend, bis endlich das Licht der Kabinen, daraus die Männer herab winken, blasser wird und in der nüchternen Tagesfrühe erlischt. Da nimmt der riesige Hai, der sein Silber in allen Beleuchtungen gezeigt hat, zum letztenmal den Kurs auf die Halle, stoppt die Motoren ab, die ihm so seltsam vom Bauch abstehen, und wirft zuerst aus der vorderen Klappe, dann hinten die Seile ab, die sich torkelnd in der Luft aufrollen und unten von hundert Händen ergriffen werden.
Seit einer halben Stunde haben die Schutzleute uns mit ihrem unaufhörlichen »Zurück, bitte zurück!« hin und her getrieben und zuletzt als Hürde ein Seil um die drängende Menge gelegt. Im Augenblick aber, da das Luftschiff steht, wird die Vernunft samt den Organen der Ordnung fort gerissen. Mit einer Selbstverständlichkeit, die gar nichts Gewalttätiges mehr hat – etwa wie ein Wind sich erhebt – wird, das Seil über die Köpfe nach hinten gereicht, um der Menge den Raum frei zu geben. Keiner von denen, die da vorstürmen, ist noch er selber; alle sind eins, weil in jedem Einzelnen über Vernunft und Zucht der Naturtrieb Herr wird, dem die Offiziere aus den Kabinenfenstern nur verzweifelt abwinken können.
Der straff geblähte Körper des Ungetüms steht nun dicht über unsern Köpfen, und wie aus seiner Riesenhaftigkeit die dünnen Stricke herab hängen, von schwachen Händen gehalten, sehen sie wie die Zwirnsfäden aus, mit denen die Zwerge Gulliver fesseln wollten. Die Luft ist still; so kann sich das Schauspiel vollziehen, daß der hilflose Riesenkörper, von der Kraft seiner Motoren verlassen, in die Halle geschleppt wird: anders nicht, als einer der Ozeanriesen im Hamburger Hafen auch; aber daß es hier Menschenhände sind, macht das Schauspiel fast kläglich. Alles ist so, muß ich denken, wo die Dinge aus Raum und Zeit ihrer Absicht in das Maß des Alltags genötigt werden.
Als wir schon wieder draußen sind und heim fahren wollen, tönt das Deutschlandlied herüber, das mit dem spürbaren Stolz gesungen wird, der Welt wieder einmal die Unbeugbarkeit des deutschen Geistes bewiesen zu haben.