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(1927)
Wer am höchsten springt, am härtesten boxt oder den Kanal in den wenigsten Stunden überschwimmt, dem wird die Masse zujubeln, weil er in seinem Wettbewerb der beste Mann ist, wie die Amerikaner zu sagen lieben. Sein Name kann, gleichwie ein Gassenhauer eines Tages geleiert wird, eine Zeit lang in aller Mund sein: eine volkstümliche Gestalt ist er darum noch lange nicht, weil er gleich dem Gassenhauer ebenso schnell vergessen zu werden pflegt, wie er bekannt wurde.
Volkstümlich wird seine Gestalt erst, indem sie ins Gedächtnis des Volkes eingeht und so vor der Vergessenheit bewahrt wird. Das wird nur möglich, wenn sie selber ein Stück Volkstum ist und darum vom Volk als Sinnbild seines eigenen Wesens erkannt und buchstäblich ins Herz geschlossen wird. Mit welchem Volk eben etwas anderes gemeint ist als die Masse jener, die sich um einen Boxkampf oder ein Sechstagerennen drängen. Volk ist überhaupt nicht dort, wo der einzelne im Gedränge verschwindet, sondern wo er sich – bewußt oder nicht – als Vertreter des Volkes fühlt. Nur in diesem Lebensstand kann etwas volkstümlich sein; populär hingegen vermag alles und jedes zu werden oder gemacht zu werden.
Die modernen Mittel der Popularisierung – Zeitung und Kino – reichen deshalb nicht hin, eine Gestalt volkstümlich zu machen, weil dazu jenes altmodische Etwas gehört, das von Ohr zu Ohr gesagt Volksmeinung in jener abgeklärten Form wird, die wir Sage nennen. Alle wirklich volkstümlichen Gestalten sind darum sagenhafte Figuren. Wer etwa den Fall Bismarck betrachtet, hat eine Anschauung, wie eine Persönlichkeit sich allmählich von allen Zufälligkeiten der historischen Wirklichkeit befreit und als Gestalt von zeitloser Existenz in das Gedächtnis des Volkes hinein wächst. Am Ende besitzt ein Volk – wie ich einmal sagte – seine Geschichte nur als die Summe seiner Sagen, und zwar derart, daß aus den Sagen wiederum sein Charakter abgelesen werden kann.
Wenn Volkstümlichkeit Gegenstand der Sage werden heißt, so ist sie der überzeitliche Ruhm oder besser gesagt: die Ewigkeit, in die ein Volk seine Lieblinge eingehen läßt; und in dieser Ewigkeit kann nur leben, was von seiner Art ist, was ein Ideal des Volkes verkörpert. Damit, daß die volkstümlichen Gestalten zugleich Idealgestalten des Volkes sein müssen, sieht sich freilich unser Rechtlichkeitsgefühl vor dem Zwiespalt, daß zum Beispiel der Doktor Eisenbart unmöglich eine Idealgestalt sein kann, während er unzweifelhaft volkstümlich ist. Wir stehen mit diesem Zwiespalt, den mehr oder weniger alle volkstümlichen Gestalten an sich tragen – selbst der Alte Fritz wird durchaus nicht nur um seiner edlen Eigenschaften willen geliebt – vor dem Geheimnis, daß sich die Liebe des Volkes den Teufel um die Moral kümmert. In der volkstümlichen Wertung gilt ein Sittengesetz, das eher von den Dämonen als von den Göttern verordnet scheint. Alle zehn Gebote können da getrost übertreten werden, wenn es nur ideal geschieht, wenn die Idee der Übertretung möglichst erfüllt wird.
Eulenspiegel und der Rattenfänger von Hameln, Doktor Faust und der Fliegende Holländer, Münchhausen und der Doktor Eisenbart: alle sind, von der bürgerlichen Moral aus betrachtet, fragwürdige Figuren. Sie sind dämonisch besessen und fast selber Dämonen, nämlich Mächte, die zwar nicht den Alltag, aber die dunklen Tiefen des Lebens regieren, aus denen es volkstümlich empfunden wird.
Um es an einer historisch nicht allzu wichtigen Gestalt, um es an Michael Kohlhaas ganz deutlich zu sehen, der durch die Kraft der Kleistschen Dichtung volkstümlich wurde: dieser Roßhändler war von der Idee der Gerechtigkeit so dämonisch besessen, daß er ihr zuliebe in die böseste Ungerechtigkeit fiel und ein Mordbrenner wurde. Die Idee der Gerechtigkeit war sein Dämon. So ist es überall, wo eine Gestalt volkstümlich wurde: eine Idee gewann dämonische Macht; und welcher Art diese Idee ist, scheint dem Volk in der Sage seiner Gestalten gleich zu bleiben: es kann sich ebenso um sittliche Höhe wie um Verworfenheit handeln. Die Summe der volkstümlichen Lieblingsgestalten ist ganz gewiß eine Kritik der Moral, wie sie schärfer von keinem Geist ausgedacht werden kann.
Wenn es aber die Mächte sind, die aus Ideen zu Dämonen verkörpert die volkstümlichen Gestalten schaffen: so müßten diese Gestalten so allgemein menschlich sein, wie es die Ideen sind, und so ist es tatsächlich. Volkstümlich ist nur das Gewand, der besondere Charakter, den sie mit der Verkörperung aus dem Volk gewinnen. Um auch das zu verdeutlichen: Doktor Faust, der seinen Pakt mit dem Teufel schließt, übermenschliche Kräfte zu haben, ist der aus einer allgemein menschlichen Idee gewordene Dämon; die besondere Gestalt aber, in der er Menschheitsbesitz wurde, konnte nur aus dem deutschen Volkstum wachsen, jenes, das die Sage bildete, und des andern, das ihr in Goethe die endgültige Prägung gab.
Damit ist noch nicht gesagt, aber angedeutet, daß es der heimliche Wunsch und Trieb aller Dichtung ist, Sage zu werden und volkstümliche Gestalten zu schaffen, wie es drastischerweise Fritz Reuter mit seinem Onkel Bräsig, melancholisch Chamisso mit seinem Peter Schlemihl und heroisch Kleist mit seinem Michael Kohlhaas gelang. Denn nicht das Absonderliche, sondern das Gültige ist ihre letzte Aufgabe; und auf die Dauer kann keine Dichtung lebendig bleiben, deren Idee und Gestalt nicht im tiefsten Sinn volkstümlich, das heißt für das Volkstum gültig ist.