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Vom Kalender

(1935)

Der Kalender des modernen Menschen hängt mit einer dicken Zahl an der Wand, oder er liegt handlicher auf dem Schreibtisch; jedenfalls aber besteht er aus einzelnen Blättern, mit denen die abgelebten Tage abgerissen und in den Papierkorb geworfen werden. Er ist gleichsam der Verbrauchsanzeiger des Lebens und als solcher die Sachlichkeit selber.

Freilich scheint das nur so; denn außer der dicken Zahl trägt er ja auch den Namen des Monats, in dem die Tage gezählt werden. Und so gedankenlos der moderne Mensch diesen Namen hinnehmen mag: daß ein Jahr nach Monaten, also nach dem Mond gezählt wird, und daß es sich in zwölf Monaten vollendet, durchaus nicht nur als ein Ablauf, sondern in den vier Jahreszeiten als Erdenjahr im Stand zur Sonne: diese kosmische Verhaftung im Kalender wird auch dem modernen Menschen durch den Schnee des Winters und die Blumen des Sommers zu anschaulich gemacht, als daß er sich ihrer völlig entschlagen könnte.

Er hat den Kalender nicht erfunden, sondern der ist ihm gesetzt; er kann keinen Stolz auf ihn haben wie auf die Eisenbahn und den Rundfunk, sondern er mußte ihn demütig anerkennen, weshalb er ihn denn auch, zur Demut am wenigsten von allen Tugenden geneigt, lieber gedankenlos hinnimmt.

Die Römer, von denen wir das Wort und die Einrichtung Kalender haben, sosehr sie sonst Vernüchterer des Lebens waren, standen bewußt in der kosmischen Verhaftung, wie eben das Wort zeigt: Es stammt von calare, das heißt rufen, und Calendae hieß der erste Tag des Monats, weil er nach der Sichtung der neuen Mondsichel vom Kapitol feierlich ausgerufen wurde. Dieser Ausruf war eine priesterliche Angelegenheit, und die astronomische Verhaftung der Zeit wurde sogar dem Kaufmann deutlich gemacht, wenn er an diesem ausgerufenen Tag seinen Zins zahlen mußte.

Es ist auch heute noch jedem gebildeten Menschen bekannt, daß Tag, Monat und Jahr als kosmische Ereignisse nicht so glatt aufgehen, wie es der Kalender angibt; der alle vier Jahre erscheinende 29. Februar macht es deutlich. Alle vier Jahre muß ein Tag mehr ins Jahr eingeschaltet werden, das darum Schaltjahr heißt. Es ist ein Versuch, den Kalender kosmisch wieder in Ordnung zu bringen, der durch die mechanische Zählung der Tage in Unordnung kommen muß. Dieser Schalttag ist eine Einrichtung Julius Cäsars in dem nach ihm benannten Julianischen Kalender, der wiederum nach anderthalb Jahrtausenden durch den Papst Gregor XIII. korrigiert werden mußte, weil er trotz dieser Schalttage wieder in Unordnung gekommen war. Im Gregorianischen Kalender fällt der Schalttag in jedem Jahrhundertjahr aus, außer wenn es – wie 2000 – durch vier teilbar ist. Auch das ist, wie die Astronomie lehrt, nur ein mechanischer Notbehelf, die Zählung in Ordnung zu bringen, mit der wir Abendländer zum Beispiel gegen die Russen – die den Gregorianischen Kalender nicht annahmen – um dreizehn Tage voraus sind.

Was wir als sogenannte Datierung hinnehmen – Datum: das Gegebene – ist auch im Abreißkalender noch diese himmlische Verhaftung unserer irdischen Zeit, die wir uns mit Stunden und Minuten gebräuchlich gemacht haben: ganz unbedacht, auf wie schwankenden Füßen sie steht. Die Tatsache, daß die Astronomen eine andere Uhr haben als wir, weil sie nach Sternzeit rechnen, wir aber nach Sonnenzeit – die vierundzwanzig Stunden des Sterntages, in denen sich der Sternhimmel scheinbar um uns dreht, sind kürzer als die vierundzwanzig Stunden des Sonnentages, in denen die Sonne dies scheinbar tut, weil da außer der Drehung der Erde auch noch die Bewegung der Sonne mitberechnet wird –, deutet auf diese schwankenden Füße unserer Zeitmessung hin.

Darum ist der Kalender als Ausrufer unserer irdischen Zeit auch der Ansager dieser kosmischen Verhaftung und, seitdem wir ihn alljährlich gedruckt bekommen, das geheimnisvollste Buch der Menschheit, dessen abgerissene Blätter wir nicht so achtlos in den Papierkorb werfen sollten.

Daß der Kalender – eines der ersten Leistungen der Buchdruckerkunst – der Kirche als Verzeichnis der Heiligennamen wie überhaupt als Anzeige ihrer Feste dienen mußte, hat seiner kosmischen Verhaftung keinen Abbruch tun können. Weder die Mondphasen noch die sogenannten Tierkreiszeichen haben darin gefehlte, in denen sich der Jahreslauf der Sonne vom Widder bis zu den Fischen vollzieht. Und daß der Kalender schließlich ein Verzeichnis angehängt bekam, dem Zahltag der römischen calendae entsprechend, die Märkte und Messen anzusagen, hat den Alltag seiner Leser doch wieder in die kosmische Verhaftung zurück gebracht.

Er war das wahre Volksbuch, und daß er als solches ein jährlich auswechselbarer Hausschatz des Wissens und der Unterhaltung wurde, stellte auch dieses Wissen und diese Unterhaltung in seinen Aufruf ein. Was im Kalender gedruckt stand, war ins Jahr genommen, und eine rechte Kalendergeschichte mußte dem Rechnung tragen; freilich auch dem, daß die Kalenderleser nicht die »gebildeten Kreise« oder sonst eine Absonderung, sondern das Volk in seiner Realität waren. Was darin gedruckt stand, durfte nicht anders als volkstümlich auch in dem Sinn sein, daß es jedermann zugänglich war.

Der »Rheinländische Hausfreund« war so, aus dem wir das »Schatzkästlein« Hebels haben; auch noch der »Hinkende Bote«. Bis der Bildungshochmut des neunzehnten Jahrhunderts den Kalender in die Mißachtung absinken ließ, aus der ihn unsere Bemühung heute wieder herauf holen möchte. Wenn es gelänge, würde es eine Rückbesinnung unseres Alltags ins Ewige bedeuten.


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