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(1928/1939)
Daß wir am 1. Januar den Beginn des neuen Kalenderjahrs feiern, ist eine römische Erbschaft. Unsere germanischen Vorfahren fingen das Jahr mit der Wintersonnenwende an, was an sich richtiger war. Aber mit dem Christentum bekamen wir von den Römern auch ihren Kalender, wie er durch Julius Cäsar bis auf den Minutenrest in Ordnung gebracht worden war und nun als Bestandteil der christlichen Zeitrechnung galt.
Januar hieß der erste Kalendermonat der Römer dem Janus zu Ehren, Gott allen Anfangs, dem auch die erste Stunde des Tages und der erste Tag im Monat gewidmet waren. Der erste Januartag galt natürlich seiner Feier; an ihm wurden die Konsuln eingesetzt, das Lebensjahr des Staates und seiner wohlgeordneten Bürgerlichkeit zu beginnen: Grund genug, mit Opfer und Gebet den Schutz der Götter durch die neuen Konsuln anrufen zu lassen; Anlaß auch, den Beamten des Staates am Neujahrstag Glückwünsche darzubringen.
Diese Glückwünsche sind für uns als der eigentliche Neujahrsgebrauch übrig geblieben: nur daß wir sie dem Einzelnen darbringen, der in unserm Lebenskreis Bedeutung hat. Die Feierstunde aber liegt, wenn die Sonne des Neujahrstages aufgeht, schon hinter uns; denn weil wir die Stunden des Tages nach der nun allgemein gültigen Vereinbarung – auch dies war nicht immer so – mit dem Augenblick zu zählen beginnen, wo die Sonne aus ihrer tiefsten Versunkenheit wieder gegen den Horizont zu steigen beginnt, welchen Augenblick wir zutreffender Weise Mitternacht nennen: so feiern wir Neujahr in der Minute, zu der die Uhr dem vorher gehenden Tag Zwölf schlägt oder nach unserer neuesten Verbürgerlichung Vierundzwanzig schlagen sollte.
Diese Minute zu erwarten, bleiben wir am 31. Dezember bis Mitternacht auf; und weil der letzte Dezember im Kirchenkalender dem ersten Papst namens Sylvester geweiht ist, feiern wir Neujahr, ob wir Katholiken oder Protestanten sind, als Silvester; mit welchem Humor sich die Kirche zufrieden geben darf, weil eben dem Papst Sylvester I. die sogenannte Konstantinische Schenkung, also der Beginn der irdischen Kirchengewalt zugesprochen wurde.
Wir feiern Silvester wartend, wie es das evangelische Gleichnis von den zehn Jungfrauen sagt, von denen die fünf klugen für Öl auf ihre Lampen sorgten, den Bräutigam zu erwarten, und die fünf törichten es vergaßen. Und wenn wir auch nicht gerade Öl auf unsere Lampen schütten, so ist es ganz gewiß keine Leichtfertigkeit, daß wir trinkend dasitzen, bis dem alten Jahr die Stunde schlägt. In jeder Seele wird jenes Etwas angerührt, darin wir uns dem Morgen ahnungsvoll verbunden fühlen und dem Gestern eine wehmütige Betrachtung gönnen: diesem Gestern, das mit dem zwölften Stundenschlag nicht nur einen Lebenstag, sondern ein Lebensjahr vollendet hat und aus dem der Sekundenzeiger in ein neues Jahr, nicht nur in einen neuen Morgen hinein tickt.
Wenn sonst die Mitternachtsstunde schlägt, ist alles Heute verronnen, es gibt nur noch gestern und morgen. Und der alte Volksglaube, der dann für eine Stunde die Geister über die Lebendigen regieren läßt, hat mehr als nur das Dunkel der Nacht für sich. Wir können auch sonst die Mitternachtsstunde erdenübermütig oder erdentraurig überwachen; aber ihr natürliches Gebot ist der Schlaf, wo das Bewußte ins Unbewußte gesunken ist, wo der Mensch sich aus seinem Gestern in ein Morgen träumt, das Heute den Geistern überlassend.
Auf seinen Standbildern hat Janus, der römische Gott des Neujahrstages, zwei Gesichter, eins nach vorn und eins nach hinten, weil er Janitor, der Türhüter war. Als Türhüter hatte er hinaus und hinein zu schauen auf das, was zum Tor hinaus ging, und auf das, was herein kam, auf das Gestern und Morgen, weil er das Heute war, die Zeiten zu scheiden.
Denn das Heute, das wir so selbstsicher unsere Gegenwart heißen, ist nicht nur in der Mitternachtsstunde die kurze Schwebe zwischen gestern und morgen; es ist in jeder Sekunde nur der Funke zwischen den Zeiten, der durch uns hindurch springt, so schnell, daß alles Gefühl schon verronnen ist, wenn wir es wahrnehmen, und daß unsere Sinne nur die Signale der sausenden Zeit geben. Das Morgen wissen wir noch nicht, und das Gestern gehört uns nicht mehr: unser ist nur der Blick auf die Bilderflucht des Heute.
Der menschlichen Seele zu einem Sinn der Bilderflucht zu verhelfen, hat ihr Prometheus den Funken des Geistes zugebracht, der, den Göttern geraubt, ihr die Gegenwart schenkt. Erst im Bewußtsein seiner selber nimmt der Mensch von seinem Dasein Besitz: er gewinnt seinen Schwebestand in der Zeit und sein Janusgesicht gegen das Gestern wie gegen das Morgen.
Darum, wenn wir in der Neujahrsnacht sitzen und auf den zwölften Stundenschlag warten – von dem die Wolken, draußen am Himmel hinziehend, die Bäche und Bäume, die Tiere des Waldes und Stalles, alles, was außer uns lebt, nichts wissen, selbst wenn sie ihn hören –, wenn wir die Lampen gefüllt haben: so warten wir wohl in der Zeit unserer Sinne; aber der Geist, der uns warten heißt und der das Öl unserer Lampen ist, der Geist feiert sein eigenes Fest, eben dies, daß er der Schwebestand sein kann über der Zeit, daß er der Türhüter seiner eigenen Gegenwart ist und Janus, den Gott mit dem Doppelgesicht, als Sinnbild seiner selber grüßt.
Wenn die Römer Krieg hatten, standen die Tore am Janustempel geöffnet; denn der Tempel selber war nur ein Tor am Forum, durch das die Krieger hinaus zogen. So lange sie draußen waren, mußte es offen bleiben, damit der Türhüter des Kommenden und Gehenden seines Amtes zu walten vermochte. Erst, wenn die Heere zurück gekehrt waren, wenn Reichsfrieden war, wurde das Tor geschlossen. Das Schicksal von gestern zu morgen war nicht mehr im Fluß, es galt wieder das Heute, und der Alltag wollte sein Recht in der Zeit haben.
Wer von uns kann die Tage, Monate und Jahre des Krieges vergessen, da uns die brausende Flut von gestern zu morgen die Gegenwart raubte? Weit auf standen die Tore des Janus, und unsere Herzen als Türhüter wachten und waren des Schicksals gewärtig. Und als die Tore zufielen, rasselnd und grausam, als das Gestern verspielt und das Morgen verhangen war: wie kam das Heute da über uns her, und wie wollte der Alltag seine Gegenwart haben? Wer noch fragte danach, was am Heute rechter Besitz und was Raub war? Der aus dem Gestern ins Morgen zuckende Funke wollte nichts wissen als sich, und die Seele verlor ihr Sein in den Sinnen, die von uns Besitz nahmen, als wären wir Wolken und Bäume, Bäche und Tiere.
Das stolze Reich des abendländischen Menschengeistes, dem wir so leichtfertig getraut hatten, kam ins Wanken. Heute ist heut! hörten wir rufen auf allen Straßen, wo die Lichtreklamen zum dreisten Genuß des Tages lockten. Und dies war die Antwort aller Enttäuschung: Ob es tausendmal nur ein Als Ob, ein Blendwerk der Sinne ist, was uns im Augenblick lockt, so ist es doch das einzige, was uns wirklich gehört! Der Geist aber mit seinem Gestern und Morgen hat uns nur auf die dürre Weide seiner Erkenntnis geführt, daß wir nichts wissen können.
Nun aber Neujahr ist, da sich in einer Sekunde der Nacht zwei Jahre berühren, deren eines ein vollgeschüttetes Gestern, das andere ein verhülltes Morgen ist: nun gibt es zwischen ihrer Berührung kein Heute mehr und keine Möglichkeit für den Alltag. Nun ist wieder Krieg, und die Tore des Janus sind weit aufgetan, das Gehende und Kommende aus und ein zu lassen. Mag darum Silvester, das unfreiwillige Fest des Papstes, noch so laut gefeiert werden: das Heute muß im Gläserklang um Mitternacht den Stundenschlag der Ewigkeit hören und dem Geist einen Augenblick seines Schwebestandes über der Zeit gönnen.
Dann weiß er, daß es nicht Jahre, daß es Jahrhunderte, daß es Jahrtausende sind, die sich in dieser Stunde berühren: alles Gewesene bis in das Dämmerlicht der frühesten Vergangenheit und alles Kommende bis in die letzten Schleier der Zukunft. Nichts, was geschah, kann anders als wirkend in dieser Stunde gedacht werden, und nichts, was sein wird, bleibt von ihr unberührt.
Daß unserm Alltag die Tore des Gestern und Morgen nicht zugemacht werden, dies ist der Sinn, wenn wir mit unsern Gläsern dastehen, andern Wein als sonst zu trinken, weil wir gleich jenen Jungfrauen die klugen oder törichten Hüter der Ewigkeit sind.