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(1929)
Heute am neunten November liegt der Bodensee da wie eine silberne Platte; und weil der Himmel mit weichem Gewölk verhängt ist, das hier und da dem Sonnenlicht einen Einschlupf läßt, geschieht es immer von neuem, daß in der Nähe oder Ferne ein Strich zu blinken beginnt. Die Waldberge, nur bis zu den Schultern sichtbar, stehen in einem Blau, das in halber Sichtweite grünlich und rötlich durchleuchtet ist und darum festlicher wirkt als im Sommer. In der Nähe aber sind die grünroten Flächen mit einem eingestreuten Gelb so prahlend, wie für meine Augen noch nie ein Novembertag seine Palette mischte.
Seit meiner Kindheit, also mehr als ein halbes Jahrhundert, habe ich darauf gewartet, daß einmal der Herbst Allerheiligen überstehen möchte. Aber so bunt mancher Oktobertag war, über den ersten November hinaus reichte die Herrlichkeit nie. Jedes Jahr, wenn die Kerzen auf den Gräbern brannten, standen die Äste kahl, und nur noch die hartnäckigen Blätter daran raschelten im Wind. Nun ist das Wunder doch möglich gewesen, und allem gewiß kommenden Winter zum Trotz, der im Gebirge drüben schon weit hinab das weiße Kleid angezogen hat, steht heute der neunte November um mein Fenster mit belaubten Bäumen, darunter einige, wie der schiefe Apfelbaum unten am Stall oder das Holundergesträuch unter den kupferfarbigen Kastanien, noch völlig grün sind, als ob sie nicht einmal Herbst, erst Spätsommer hätten.
Wie ist dieses Wunder möglich geworden, daß wir schon bald Weihnachten haben und noch dabei sind, Abschied vom Sommer zu nehmen?
Auf eine sehr einfache Weise: indem wir nur einmal bisher – ich habe den Tag notiert – vom 27. zum 28. Oktober einen schwachen Nachtfrost hatten, der zwar den Dahlien an die spröde Natur ging, aber Flox und eine verspätete Goldraute hielten ihn aus; und immer neue Rosenknospen betreiben noch ihre Entfaltung.
Das zeigt aber, wieviel selbst im unabänderlichen Verlauf der Jahreszeiten durch eine Laune auf den Kopf gestellt werden kann. Gewiß kommen die Fröste im Spätherbst, weil mit der schwindenden Sonne die Wärme abnehmen muß; aber ob eine Nacht zu vorwitzig aufklart gegen den kalten Himmelsraum, ob tagsüber Wolken und Nebel die schwachen Sonnenstrahlen abhalten oder rauhe Winde einblasen: das kann schon mitten im Oktober einen Schnee bringen, während der Sommer sich heuer bis in den November eingenistet hat.
Ich weiß, wie gänzlich ohne Vernunft dies scheint: dennoch steht eine warme Dankbarkeit in mir auf gegen alles, was Laune, Einfall und Zufall, also Unordnung ist. Wohl muß das Gesetz unsern Lebenstag sichern; wo kämen wir hin ohne seine Hut? Aber was für eine Musik wäre das ohne Melodie, nur mit den unerbittlichen Taktschlägen? Nach den Taktschlägen des Jahres müßten die Berge und Bäume am neunten November kahl um den frierenden See stehen, die nun einen rauschenden Lobgesang der Unordnung angestimmt haben.