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(1928)
Auf die nachstehende, wohl mitteilenswerte Erfahrung kam ich vor Jahrzehnten, als ich in einer westlichen Stadt Deutschlands mit einem Regierungsrat zu verhandeln hatte, dessen Familie seit alters als ortseingesessen galt. Sein erster Anblick erschreckte mich fast, so war die Fassade seines Gesichts ins Rutschen gekommen: das eine Auge überhöht und das andere verkniffen, die Nase vom verschiedenen Gewicht der Flügel schief gezogen, und der Mund ein leer geronnenes Bachbett; nur der Blick war kühl und fest, wie auch die metallische Stimme mit dem Anblick versöhnte.
Die erste Begegnung geschah in seinem Arbeitszimmer, wo harte Schatten des seitlich einfallenden Lichtes die Züge noch verzerrten. Denn als wir nachher in einem Speisehaus zu Tisch saßen, im zerstreuten Licht mehrerer Fenster, war mir der Anblick nicht mehr so grotesk. Dort sah ich dann auch sein Profil, das so überraschend anders als seine Vollansicht war. Indem er dem Kellner mit der ihm eigenen Umständlichkeit einen Wein bestellte, wandte er sich für mich, dem gegenüber Sitzenden, seitwärts voll gegen das Licht, sodaß ich den Umriß genügend lange betrachten konnte. So verfallen sein Gesicht von vorn wirkte, so geschlossen wirkte es von der Seite; ich sah ein Profil, das dem adligen Namen des Mannes ebenso entsprach, wie die aufgelöste Fassade ihm widersprach.
Indem ich es stillschweigend rassig nannte, hatte ich auch schon den Schlüssel zur Hand, mit dem ich mir nicht nur den Zwiespalt dieser Erscheinung, sondern so mancher andern seitdem aus ihrem Gesicht aufschloß. Ja, ich habe den Schlüssel in den ersten Jahren danach mit dem Eifer eines Sportlers benutzt, ihn aber, als ich seine Zuverlässigkeit ausprobiert hatte, nicht mehr aus der Hand gelegt; er dient mir bis heute zur Menschenkenntnis, und dies etwa ist seine Tabelle:
Das Profil, die Seitenansicht eines Gesichts, zeigt durchgängig seine Rasse, die Vorderansicht ihren gegenwärtigen Zustand im Träger, sodaß es vier Grundmöglichkeiten gibt: 1. die dieses Regierungsrates, wo die Rasse gut und der Zustand des Trägers gering ist; 2. ihr Gegenteil, wo die Rasse minderwertig, aber der gegenwärtige Zustand gut ist; 3. das Ideal, wo Rasse und Zustand einander im Guten und 4. wo sie einander im Geringen entsprechen. Weitaus am häufigsten sind die Mischungen 1 und 2, selten ist die Vollkommenheit 3, und noch seltener glücklicherweise ihr Gegenteil 4.
Natürlich ist das nur ein Schema, in Wirklichkeit sind die Möglichkeiten unzählig, weil es weder eine Normalform des guten Profils noch Gewißheiten des Zustandes gibt; es sind alles zunächst Wahrnehmungen des Gefühls, an denen man sich nur vorsichtig zu einer Art von Feststellung durcharbeiten kann; und ein so augenscheinlicher Fall, wie der, von dem ich ausging, ist selten.
Jedenfalls spielen die Stände an sich darin keine Rolle; ich habe Bauern- und Arbeitergesichter von prachtvollem Ausgleich und Adelsköpfe von tiefstem Zwiespalt wie umgekehrt gefunden; ich habe Bürgerfrauen gesehen, deren Vollansicht von idealer Vollkommenheit war und die im Profil einen enttäuschenden Mangel zeigten, wie andere, die im Profil entzückten und im vollen Anblick erschreckten.
Immer aber bin ich gewiß gewesen, daß die Gegebenheit und Gewordenheit der Gesichtsform ein sicheres Anzeichen des menschlichen Zustandes war; woher sonst das Erschrecken und das Entzücken? Wo ich einen Ausgleich zwischen Profil und Vollansicht fand, bestätigte die nähere Kenntnis stets mein erstes Gefühl einer harmonischen Natur; bei Kindern, in denen weder die gegebene Form noch die gewordene ausgewachsen ist, muß dieses Gefühl natürlich die Regel sein; erst das Alter deckt den Zwiespalt auf, der, bedeutend oder nicht, meist vorhanden ist als Anzeichen der absinkenden oder steigenden Kraft der Natur.
So sehe ich fast täglich einen Russen im Garten meines Nachbars arbeiten, einen älteren Mann, über dessen Profil mit dem hängenden Bart ich jedesmal ob der Schönheit seines Kopfes deshalb neu staune, weil mich die volle Ansicht bei jeder Begegnung erschreckt. Soviel ich erfuhr, war er im früheren Zustand seines Vaterlandes ein Herr über große Güter; jetzt ist er vertrieben und wird als Gartenarbeiter gehalten. Das Einst und Jetzt seiner Menschlichkeit hat in dem Zwiespalt zwischen Profil und Vollansicht einen Ausdruck gefunden, der mir sein Schicksal wirklich sinnbildlich zeigt.
Bedeutender und sichtbarer muß das Schauspiel der Hin- und Widerklänge in den Gesichtern der Großen werden, welches Schauspiel wir in ihren Masken genießen können. Wer eines der Sammelwerke mit Totenmasken berühmter Männer zur Hand hat, kann darin drastische Beispiele der höchsten Steigerung finden.
Das schönste Menschenangesicht in seiner Maske bietet für mein Gefühl die Vollansicht von Napoleon; vielleicht mit der Einschränkung, daß es fast ein Frauengesicht sein könnte, von Lionardo gebildet. Augen, Nase und Mund, Kinn, Backen und Stirn bis in die stärkste Bindung der Schläfen: alles ist gleichsam in freier und großer Form zur letzten Schönheit gesteigert, sodaß man den Dargestellten, nämlich Napoleon, kaum noch darin findet; der ist erst in der Profilansicht vorhanden und zwar bis in den Bonaparte zurück, der als korsischer Advokatensohn das Schicksal Europas in die Hand nahm. Hier sieht man: auch seine Herkunft, seine Rasse war schön und bedeutend, ihre Vollendung mußte sie erst erringen.
Drastischer zeigt sich das gleiche bei Schiller. Es ist auffällig, wie sehr seine Vollansicht nicht in der Schönheit, aber in der Ausgeglichenheit der Formen an Napoleon erinnert – abgesehen von den deutlichen Spuren der Auszehrung –, im Trotz und in der Stärke könnte sie fast eher der Welteroberer sein. Sein Profil aber zeigt fast grotesk die Herkunft aus Schwaben; genau so könnte ein schwäbischer Winzer heute aussehen.
Das rassigste aller bei Benkard abgebildeten Profile hingegen zeigt Friedrich der Große. Wer sich in diesen Vogelkopf von ägyptischer Schärfe und Formgröße noch sein Auge hinein denkt, hat ein letztes an Rasse, das nicht mehr zu steigern scheint. Dennoch ist seine Vollansicht eine freudige Überraschung: eine letzte Abgeschlossenheit hat die vorhandene Form zu einem Edeltum übersteigert, die dem Feldherrn und Staatsmann allein nicht möglich gewesen wäre, die des denkerisch und musisch zugleich gerichteten Erbauers von Sanssouci bedurfte, alles gegebene Original noch zu übertreffen.
Auch eine hundertmal erprobte Erfahrung hat es natürlich schwer, sich als Wahrheit zu behaupten, wenn nicht ihr Warum dargetan wird, eben dies möchte bei der meinigen nicht leicht sein. Daß alles Wesen zur Form will, die ihm zwar durch seine Herkunft »geprägt« ist, die aber »lebend sich entwickelt«, dies dürfte nach dem ewigen Wort Goethes als eine Voraussetzung gelten, auf die ich die Behauptung meiner Erfahrung getrost stellen kann. Auch daß jeder Baum, jedes Blatt, jede Blüte sich zur räumlichen und farbigen Harmonie auswächst – wenn keine äußere Störung hindert –, die sowohl ihre eigene Schönheit wie die ihrer Art ist, wobei die Art gewissermaßen die Verpflichtung, das Einzelwesen die mehr oder weniger gelungene Erfüllung vorstellt: diese Erfahrung darf wohl ohne weiteres auch auf den Menschen übertragen werden, sofern er Natur ist. Was ihn aus der Natur (aus dem Paradies) vertrieben hat oder vertrieben zu haben scheint, ist sein Bewußtsein, das wir in Summa den Menschengeist nennen; und eben für den erst hat ja Goethe die wundervolle Formel von der geprägten Form gefunden, die lebend sich entwickelt »nach dem Gesetz, darin sie angetreten« ist.
Steht aber der Menschengeist unter dem Gesetz der Formwerdung, so wird sich das Gesicht als der direkteste Ausdruck seiner Bewegungen nicht ausschließen können. Ist das Mienenspiel ein Stenogramm seiner Empfindungen, so werden die Runen seines Gesichtes seine Geschichtsschreibung sein müssen, und zwar so, daß ein Gesicht in seiner geborenen Grundlage das Ererbte, Geprägte, in allen Veränderungen aber das Erworbene, das lebend Entwickelte ist.
Fraglich und eher eine Narretei scheint nur dies zu bleiben, daß sich ein Profil als Träger der ererbten Form und die Vollansicht als Träger der erworbenen Form darstellen soll. Erklärlich wird die anscheinende Narretei ohne Weiteres, wenn wir sagen, daß es sich nur um eine größere oder geringere Sichtbarkeit des Ererbten oder Erworbenen handelt; dann freilich ist sie fast selbstverständlich.
Das Profil zeigt am stärksten die – vom natürlichen Wachstum abgesehen – unveränderlichen Knochenteile: die Stirn, das Kinn, die Form der Kiefer, die Backenknochen und schließlich in ihrem knöchernen Teil die Nase; die Vollansicht aber bietet auf ihrer Grundlage am deutlichsten jene Teile dar, in denen sich um den Mund und die Augen, auf der Stirnhaut das eigentliche Mienenspiel vollzieht. Und nur aus dem Stenogramm des wechselnden Ausdrucks können sich die Züge verändern, können sie je nach der Beständigkeit ihres Inhalts die geprägte Form des Schädels in der Muskellagerung und Hautspannung lebend entwickeln. Daß ein melancholischer Mensch auch so aussieht, daß sein Gesicht die Niederschrift seiner Melancholie enthalten muß, ist selbstverständlich. Die Vollansicht wird diese Niederschrift besser lesen lassen als das Profil, schon weil in ihm die so bezeichnenden Zweiseitigkeiten verschwinden; als Einseitigkeit wird das Profil nicht viel von dem Zustand aussagen können.
Nicht ohne diese Gründe ist die Dreiviertelansicht bei den Malern so beliebt; sie gibt das Geprägte und Entwickelte, das Gegebene und Erworbene im Ausgleich; wie sie beispielsweise auf den beiden ersten gemalten Bildnissen Dürers dessen Rasse viel eher in Übereinstimmung mit der Profilmedaille des Hans Schwarz zeigt als die beiden Federzeichnungen des Jünglings. Erst diese Federzeichnungen aber tun kund, was in Dürer sich lebend entwickeln wollte, namentlich die Erlanger mit ihrer leidenschaftlichen Frage. Als ihr Dürer Antwort gab in seinem berühmten Selbstbildnis der Münchner Galerie, als er sein ganzes Können und Sein dartun wollte mit dem Selbstbewußtsein der Erworbenheit, gab er sich in der Vollansicht. Vieles, was idealisiert an diesem Bildnis wirkt, konnte nur sichtbar werden, indem er das Buch seiner Gewordenheit ganz gegen uns aufschlug.