Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ungeduld

(1928)

An einem Wintertag schon im Dunkeln stand ich vor dem Bahnhof in Düsseldorf und wartete auf sie, die mit dem Schnellzug von Holland ankommen sollte. Es war aber noch viel zu früh; und als ich über den Platz zurück ging, nach der beleuchteten Scheibe zu sehen, zeigte die Uhr erst drei Minuten vor fünf. Noch fast eine Stunde! murrte ich und blieb auf der kleinen Schneeinsel zwischen den dunklen Räderspuren stehen; dies zu bedenken, daß jemand eben in Wesel abfuhr und ich strich schon am Bahnhof herum, ihn in Düsseldorf zu erwarten.

Weil ich solche Dinge gern klar stelle und auch die Zeit hinbringen mußte, wollte ich hinein, am Fahrplan die Kilometer zu zählen, als ich einen Aufenthalt fand. Es waren nämlich drei Türen in dem Portal nebeneinander, schwarz und klebrig von der Nässe. Welche? bedachte ich töricht und konnte mich zu keiner entschließen; aber da halfen mir gute Geister. Aus der mittleren Tür drängte mit vielem Gepäck ein Dienstmann, und zu der linken schmiegte sich ein Mädchen hinein, ein junges Ding mit einem Zopf, an dem die geschmolzenen Flocken blinkten. Dies freilich sah ich erst im Licht der Halle, als ich zugleich rechts eingetreten war, so daß drei Türen die Genugtuung hatten, gleichzeitig mit ihren Flügeln zu schlagen.

Das Mädchen lachte schelmisch zurück, als wüßte es, vor welchen Grazien ich gezögert hatte, lief flink zur Sperre und nickte mir noch einmal zu, ehe es im Dunkeln verschwand. Lachend über den Schmetterling ging ich nach links, wo die Tafeln mit den Fahrplänen standen, fand gleich die Strecke und zählte aus: Achtundfünfzig Kilometer von Wesel bis Düsseldorf; das waren rund acht Meilen und also zwei Tagesmärsche; vor hundert Jahren wäre es auch mit der Extrapost noch eine Reise gewesen.

Als ich das festgestellt hatte, wanderte ich wieder hinaus zu der Schneeinsel, von neuem nach der erleuchteten Scheibe über den drei Türen zu starren. Immer noch keine fünf! nahm ich trotzig wahr und war dabei, mir die Strecke auszumalen, die der Zug unterdessen auf eisernen Schienen weiter gerollt war, als mich die Ungeduld packte. Ich wollte der hämischen Zeit zu Leibe, die mich so warten ließ; und während ich anfing, im Kreis um die Schneeinsel zu wandern, die Schritte zählend, daß es im Rund jedesmal sechzig waren, trat ich mit jedem Fuß eine Sekunde tot, bis ich zornig lachend die Unmöglichkeit einsah, dies dreiundfünfzig Minuten lang zu betreiben.

Wenn ich einer von jenen Schauspielern wäre, die ihren Schiller nicht los werden, fing ich ein richtiges Selbstgespräch an, indem ich von neuem gegen den Bahnhof ging, so wurde ich jetzt einen Monolog über die Zeit deklamieren: was für ein Taufendfuß sie sein kann und was für eine Schnecke! Ich liebe aber solche Deklamationen nicht und kam im Groll über die laute Betonung leiser Gefühle, die alle Dichtung verdirbt, zum zweiten Mal, diesmal durch die linke Tür in die Halle. Und die Erinnerung an das Theater machte wohl, daß ich betroffen wie auf der Bühne dastand, wo der Raum auch nur ein grell beleuchtetes Loch zwischen aufgedonnerten Prospekten ist.

Das Loch der Zeit! sagte ein unverantwortlicher Tiefsinn in mir; ich konnte im Augenblick gar nicht ausdenken, was es bedeuten sollte, aber es fiel als Stichwort in meine Ungeduld und bewirkte die Bühnenverwandlung: Da waren die Menschen, die müßig in der Halle herum standen wie ich, nur Statisten der Zeit; jeder stellte eine Minute vor und wartete seine Sekunde ab. Aber das Stück schien durch einen schlechten Regisseur in Unordnung geraten, daß die Minuten weder richtig auftraten noch abgingen; sie hatten ihr Sekundenwerkzeug trotzig hingelegt, standen auf der Bühne herum und streikten.

Dann streikt auch der Zug in den Feldern! hörte ich eine laute Stimme ausrufen, als ginge der Mann mit der Schelle herum. Ich sah die Lokomotive in der Nacht mit ihren glotzenden Grellaugen halten, sah Gestalten zögernd in die dunkle Landschaft aussteigen und vor den abgeblendeten Fenstern des Zuges in den Himmel hinauf starren, an dem zwei schwarze Wolken wie Wölfe hintereinander her waren.

Aber als auch ich meine Augen aufhob, weil ich das Wort Himmel nicht hören kann, ohne mit dem Glück seiner Sterne gesegnet zu sein, senkte sich das schäbige Kuppelgewölbe der Halle auf mich mit dem dreisten Geleucht seiner Lampen; und auf der Uhr über der Sperre waren wiederum erst drei Minuten vergangen.

Das Loch der Zeit ist verstopft! sagte ich verächtlich und sah in der Wirklichkeit Menschen wie mich selber dastehen und warten auf jemand, gelangweilt oder mit Ungeduld; vor ihren leeren Gesichtern kam mir die Warterei in der trübseligen Halle unerträglich vor. Was bleibt mir übrig, als die Zeit tot zu schlagen? sagte ich verbittert und beschloß, über den Bahnhofsplatz hinüber in eine Schenke zu gehen.

 

Die Zeit totzuschlagen wollte ich in eine Schenke gehen, als mir das Wort selber den Schritt hemmte. Ist denn die Zeit nicht mein Leben? fing ich draußen ein neues Selbstgespräch an: Vierundzwanzig Stunden hat der Tag, und dreißig Tage der Monat, zwölf Monate nur das Jahr; und von meinen Jahren sind mir schon vierunddreißig verronnen. Wie kann ich eine Minute der Zeit tot schlagen wollen, die mir einzig gehört? Warte ich denn auf meinen Tod?

Als ich das gedacht hatte, bekam ich einen großen Schrecken. Gleich einem, der für tot aus dem Wasser gezogen war, schlug ich die Augen zur Wirklichkeit auf, darin ich wieder auf der Schneeinsel zwischen den dunklen Räderspuren stand; aber nun waren es andere Augen als jene, die sich verdrießlich von den Dingen abgewandt hatten. Als bräche Todesangst in ihnen auf, hängte ich sie an die Wirklichkeit, meine Gegenwart zu retten.

Diesmal war es der Raum der Nacht selber, kein schäbiges Kuppelgewölbe, darin ich unter den beiden Bogenlampen auf dem Bahnhofsplatz stand. Ihre Lichtkugeln durchdrangen einander und nahmen meine Gestalt in diese Durchdringung hinein. Ich sah die Schatten meiner selber nach rechts und links vom Licht und Gegenlicht befallen, als wäre mein Körper aus Glas und von den regenbogenfarbenen Rändern der Lichtkugeln durchronnen.

Wie herrlich ist das und was für ein Wunder! mußte ich staunen und fühlte mich durch den Zauber des Lichts aus der Wirklichkeit des Bahnhofsplatzes in ein Märchen versetzt. Da sah ich die Häuser um den Platz mit ihren erleuchteten Fensterreihen unter den breiten Dachstirnen ebenso staunen, und das Zifferblatt in der Stirn des Bahnhofsgebäudes blickte mich an wie das Auge Odins. Über die ganze Wirklichkeit war der Zauber gefallen, und der bäuchlings beleuchtete Dampf der Lokomotiven hinter dem Bahnhofsdach wallte mit seinem Abglanz hinauf in die Nacht, die nicht in den Zauber zu fallen brauchte, weil sie mit ihrer Sternentiefe selber das Wunder war.

Unermeßlich ist das Wunder der Nacht mit dem Licht der Gestirne! dachte ich schauernd: Und ich stehe mitten darin! denn ob die Schulbücher es anders sagten: mit meinen Sinnen bin ich die Mitte der Welt. Wo ich auch sein mag, ist es so; denn mir wird von der Wirklichkeit immer nur ihre Erscheinung sichtbar!

Als ich in solchem Überschwall auf der Schneeinsel zwischen den dunklen Räderspuren stand und in das Wunder der Nacht staunte, begannen Flocken zu fallen. Zuerst nur Einzelgänger, die im grellen Schein der Kohlenstifte tänzelnd vergingen; dann wehte ein Wind den ersten Schwarm der weißen Bienen herbei, und bald begann es, richtig zu schneien. Da gab es keine tänzelnden Flocken mehr, auch keine schwärmende Bienen, nur noch straffe, weiße Striche, die zwar in der gleichen Schräge vor dem Wind lagen, aber in der verschiedenen Beleuchtung – je nachdem sie in die Lichtkegel der einen oder andern Bogenlampe hinein kamen – gegeneinander zu streiten begannen; nicht lärmend und wirr, wie sonst gestritten wird, sondern lautlos und in einer geheimnisvollen Ordnung.

Ich meinte, noch nie so zauberisch vom Wunder der Welt berührt worden zu sein wie in diesem Regenbogenfarbenspiel des Lichtes, das, durch die Striche des wehenden Schnees gesehen, ins Fließen gekommen war und so die Harmonie erst recht offenbarte. Als ob mir darin der Gesang der Sterne sichtbar würde, stand ich, mit verzückten Augen zu lauschen; und es kam mir so natürlich vor wie sonst etwas, das ich getan hatte, als ich selber in das Zauberspiel eintrat.

Mit behutsamen Füßen, den Blick über mich in die Erscheinung gerichtet, fing ich an zu schreiten, eine neue Bewegung in den Zauber zu bringen, indem sich die farbigen Kreise mit meinen Schritten verschoben. Ich kam mir nun vor, als stäke ich in der Mitte einer Kugel, die wie Glas durchsichtig war, aber so leicht und lautlos rollte, wie eine Wolke von linder Luft dahin geweht wird; und ich war es selber, der die Zauberkugel bewegte.

Nur im Geheimnis der Schönheit wird das Gesetz der Welt sichtbar! sagte ich altklug und kam aus dem rollenden Raum des Lichts zu mir selber, als ich nieder blickend die Schatten meiner Gestalt von rechts und links wie die Schenkel einer sich schließenden Schere auf einander zukommen sah. Je weiter ich mich von den beiden Bogenlampen entfernte, um so länger und spitzer wurde die Schattenschere, bis ihre Schärfe den Schutzmann umfaßte, der unbedacht der Gefahr auf das Bahnhofsportal zuging. Wie ich mich mühte, ich konnte ihn nicht erreichen; als die beiden Schenkel der Schere steil an dem Portal hochgingen, war ihnen der Schutzmann durch die mittlere Tür entwischt.

 

Ich folgte der Obrigkeit auf dem Fuße und war so besessen, daß ich den Mann anrannte, als der gleich hinter der Tür breitbeinig stehen blieb, seine Uhr zu richten.

Nur langsam, Herr! mahnte er: Sie haben noch Zeit!

Er mochte einen bestimmten Zug meinen, aber ich fand mich vor dem Schnauzbartgesicht mit den gutmütig rollenden Augen nicht so rasch in die Wirklichkeit zurück. Ich rannte durchaus nicht zur Sperre, und der Schutzmann mochte mich für betrunken halten, wie ich zur Seite irrte, meiner Schritte und meiner Gedanken erst wieder gewiß zu werden, nachdem ich so plötzlich aus dem Raum der Welt in dieses trübselige Loch der Zeit zurück geraten war.

Mein Blut rauschte noch von der Verzückung, so daß mich des Anblicks schauderte, wie die Menschen gelangweilt und voll Ungeduld in der schäbigen Halle herum standen, die Zeit tot zu schlagen. Mich überkam ein Drang, es in ihre Ohren zu schreien, daß sie nur auf ihren Tod warteten. Indem ich nach Worten suchte, es recht in die sturen Herzen zu sagen, daß Raum der göttliche Nenner der Welt, Zeit aber nur der Zähler sei, mit dem uns Menschen der karge Anteil zugemessen wird, und daß die Zeit darum in der Freiheit des Raumes die Knechtschaft ist, weil sie uns die Vergangenheit vom Mund abnimmt und um die Gegenwart betrügt, indem sie Zukunft vorgaukelt; als ich ernsthaft überlegte, wie ich das den Wartenden sagen könnte, die meine Menschenbrüder waren mit Augen und Händen wie ich, mit Füßen in groben und feinen Schuhen, mit ganzen und zerrissenen Sohlen: da überfiel mich das große Staunen, wie über alle Begriffe dies war, daß zwischen Menschen überhaupt Worte gesagt werden können.

Worte, für die Ohren nur Schall, für den Verstand Begriffe, für die Seele aber Zauberbänder, an deren Enden Lichtballen hängen, denen da draußen gleich: Lichtbahnen des Gefühls, aus dem sie kamen, und des, das sie weckten: Herkunft und Hingang der Seelenkraft von Stern zu Stern; denn ob sie hell oder trübe scheinen, Sterne sind die Seelen alle, Sterne des ewigen Lebens, das in ihnen glüht.

Als mir an dieser Stelle meiner Gedanken ein Wort des Meisters Eckhart auf die Lippen sprang: »Nie würde ein Mensch, der Durst hat, so sehr zu trinken begehren wenn nicht etwas von Gott darin wäre!« erschauerte ich, weil mir das Wort ein Zauberband über Jahrhunderte zuwarf, aus einem hellen Stern in meinen betrübten, der davon in allen Regenbogenfarben der Sphärenmusik zu glühen begann.

So stark war das Glück meiner Findung, daß ich es rieseln fühlte wie draußen den Schnee; in den straffen, weißen Strichen der Worte kam das Regenbogenfarbenspiel ihrer Bedeutung ins Fließen. Und nie war ich solch ein Triumphator des Lebens gewesen wie nun, da ich die Freiheit erkannte, die magischen Bänder zu haschen und zu werfen, wie es meine Seele verlangte. Ich befreie mich aus dem Loch der Zeit in den Raum der Welt! jauchzte ich: Denn im Wort ist die Mitte der Welt!

 

Als mir, auf dem Bahnhof in Düsseldorf wartend, solche Abenteuer geschahen, traf eine Stimme mein Ohr. Ich sah ein Gesicht und staunte in zwei Augensterne hinein, die mit ihrer Welt kamen, die meine in sich hinein zu nehmen.

Hast du lange gewartet? fragte sie.

Und ich sah sie an, Jahrtausende lang, hörte mich aus dem Raum der Welt lachen und in das Loch der Zeit sagen: Nicht lange genug, weil ich eben erst angekommen bin!


 << zurück weiter >>