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Bücher-Schicksal

(1930)

Heute mußte ich um eines Nachschlags willen einen Band der »Geschichte des deutschen Volkes« von Karl Wilhelm Nitzsch zur Hand nehmen, die – wie nicht allzuviel Gebildete wissen – eine unübertreffliche Darstellung unserer mittelalterlichen Zustände ist. Dabei wurde das dreibändige Werk nach hinterlassenen Papieren und Vorlesungen herausgegeben, entbehrt also der eigentlichen Vollendung, die ihm nur Nitzsch selber hätte geben können, der im Jahre 1880 als Professor an der Universität Berlin starb.

Aber nicht um des Werkes selber, sondern um des Eintrags willen schreibe ich dies, der auf dem Vorsatzblatt steht und den ich natürlich kannte; nur daß er mir heute wieder vor Augen kam: »Rudolf Wustmann, Januar 1894 (aus Lothar Buchers Nachlaß).« Wer Lothar Bucher war, der als Achtundvierziger begann, Lassalles literarischer Erbe war und Bismarcks Famulus wurde: das dürfte auch heute noch der Gebildete wissen. Rudolf Wustmann indessen ist nicht der Sprachdummheiten-Fänger, sondern sein Sohn, der selber eine bescheidene literarische Tätigkeit ausübte und im Jahre 1916 als Professor in Dresden starb.

Der Band, in dem sich der Eintrag befindet, erschien 1885; ein Jahr später wurde Bucher zur Disposition gestellt. 1892 starb er fünfundsiebzigjährig in Glion. Er kann den Band also bestenfalls sieben Jahre lang besessen haben. 1894 wurde das Buch laut Eintrag von Rudolf Wustmann erworben, der damals zweiundzwanzigjährig und offenbar noch Student war. Er ist ihm kritisch mit dem Bleistift zu Leibe gegangen und hat sich vor Ausdrücken wie »dumm« nicht gescheut. Da er später eine »Deutsche Geschichte im Grundriß« heraus gab, ist sein Eifer zu verstehen.

Es ist nicht wahrscheinlich, daß er selber den »Nitzsch« wieder verkauft habe; erst nach seinem Tod 1916 kam er wohl auf den Markt: 1918, als ich das Werk antiquarisch suchen ließ, war das Exemplar jedenfalls da. Auch ich brauchte es, weil ich eine deutsche Geschichte im Grundriß, meine »Dreizehn Bücher der deutschen Seele«, schreiben wollte.

Nehme ich das Buch als ein käufliches Lebewesen, ist seine Lebensgeschichte so: sieben Jahre Dienst bei Lothar Bucher, zwei Jahre Sklavenmarkt, zweiundzwanzig Jahre Dienst bei Rudolf Wustmann, zwei Jahre Sklavenmarkt, seitdem vierzehn Jahre Dienst bei mir, und was dann mit ihm geschieht, wissen die Götter.

Immerhin, der es schrieb, ist seit 1880 tot, sein erster Besitzer seit 1894, sein zweiter Besitzer seit 1916, und ich, der dritte, werde demnächst meinen fünfundsechzigsten Geburtstag feiern müssen; und »Unser Leben währet siebenzig Jahre«. Jedenfalls, wenn ich mich mit dem Buch vergleiche, so hat es bessere Aussichten: es ist in Halbfranz gebunden und gänzlich ohne Stockflecken, was ich von mir nicht sagen kann.

Als ich noch jung war, fing die Exlibrismode an, die heute ziemlich abgemodelt ist. Der in der Blüte seines Hochmuts stehende Individualismus rühmte sich seiner Sklavenhalterei. Das Individuum baute sein Haus und besaß seine Bücher, ganz unbedacht dessen, daß Häuser und Bücher älter werden als Individuen; es klebte sein modernes Exlibris in den fragwürdigen Besitz. In meinem Bücherschrank steht eine Reihe von Erstausgaben, die durch solch ein Exlibris meines Vorgängers verunziert sind; wenn ich Zeit hätte und wenn es ginge, würde ich diese eingeklebten Prahlereien entfernen.

Obwohl ich kein Bibliophile bin, freue ich mich an dem Besitz guter Bücher, gar noch, wenn es Erstausgaben sind; aber meinen Namen habe ich noch in keins geschrieben, weil ich mich vor der Entweihung scheute. Nun will mich dieser Eintrag »Aus Lothar Buchers Nachlaß« mahnen, die Scheu überwindend darunter zu schreiben: »1918 antiquarisch erworben durch W S«, damit auch mein Anteil an der Lebensgeschichte des Buches verzeichnet sei.

Denn, wenn ich eine solche Kostbarkeit wie etwa Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« von 1780 zur Hand nehme, frage ich mich unwillkürlich nach dem Schicksal dieses nun 152jährigen Buches. Wie seltsam wäre es, seine Besitzer in diesen anderthalb Jahrhunderten zu kennen, zumal jenen ersten, der ihm den schlichten Pappband machen ließ. (Denn damals gab es die ärmliche Prahlerei der Fabrikeinbände noch nicht; man kaufte seine Bücher und ließ sie binden, sofern man sie über die erste Lesung schätzte. Weil dies so war, gab es auch noch den Bibliothekseinband, mit eigenen Prägestempeln hergestellt: ein heute phantastisch anmutender Luxus war damals nicht ungewöhnlich.)

Diese Kenntnis der Buchbesitzer hätte natürlich nur Sinn, wenn es sich dabei um mehr als Namen handelte, wenn sie Lebenskreise bedeuteten, wie ich das bei meinem Nitzsch »aus Lothar Buchers Nachlaß« feststellen konnte. Aber sollte das im allgemeinen anders möglich sein, sofern es sich um wertvolle Bücher handelt? Ich möchte annehmen, daß unter den wenigen Menschen, die sich seiner Zeit den »Grünen Heinrich« kauften, ein nicht unbeträchtlicher Teil für das Gesicht der damaligen Bildung bezeichnend ist.

Dies freilich ergibt sich bei einer solchen Betrachtung als selbstverständlich, daß sie nur im Bereich der Bildung sinnvoll ist; in einen Roman der Buchreihe Knaur gehört natürlich ein Exlibris; aber mit oder ohne gehört ein solches Buch nicht eigentlich in eine Bibliothek, wenigstens nicht in die des Liebhabers. Denn das Wesen einer privaten Bibliothek ist dies, daß sie Bücher enthält, die zu ihrem Besitzer eine Beziehung haben, daß die Bibliothek also den Lebenskreis seiner Bildung vorstellt. Indem Bücher aus einem solchen Lebenskreis in einen andern hinüber wechseln müssen, erfahren sie ein Schicksal; wenn das Schicksal in ihnen aufgezeichnet wäre, würde diese Aufzeichnung das einzelne Exemplar aus seiner Anonymität heraus heben. Der Besitzer würde merken, daß er nur eine Leihgabe besitzt, die ihn überdauert. Die Kultur würde einen Nachweis ihrer heimlichen Träger haben.


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