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(1934)
Lieber Hermann Stehr!
Nun hast Du das biblische Alter erreicht und Deinem Volk ein Vorbild gegeben, wie man in Ehren grau wird. So einfach, wie sich das heute die Jungen denken, ist es nicht. Grau wird man von selber, dafür braucht man keine Sorge als die der Gesundheit zu tragen; aber in Ehren? Dazu gehört, daß man seinem Ding treu bleibt, daß man seine Fähigkeiten mehrt, daß man der immer schärferen Zweifel mit immer stärkerer Gläubigkeit Herr wird, daß man nicht wie der Bürger Erfolg sucht, sein Alter zu genießen, sondern daß man in den Sielen bleibt und immer am Anfang steht.
In der Jugend denkt man, es sei mit dem Dichten wie sonst mit einem Handwerk: nach der schweren Lehrlingszeit käme das flinke Gesellentum und dann die Meisterschaft, wo man im vollen Gebrauch seiner erworbenen Mittel nur dasäße, die reif gewordene Menschlichkeit in Gestalten einströmen zu lassen. Bis man erfährt, daß es umgekehrt ist, daß es immer schwerer wird. Mir wenigstens ist es so ergangen, und mit Dir wird es nicht anders sein; das weiß ich, wenn ich die Kette der Dinge sehe, die Du Dir um Deinen Nacken geschmiedet hast.
Heute darf ich Dir sagen, daß ich gewiß einer Deiner ältesten Leser bin. Ich erinnere mich noch gut des Tages, da ich Dein erstes Buch herzklopfend las. Was für ein ungeheures Wühlen! dachte ich damals. Und wenn ich von da aus Dein Werk übersehe, erkenne ich recht, was Meisterschaft ist. Nichts von der Tiefe ist aufgegeben, im Gegenteil: nur noch tiefer sind die Wurzeln versenkt; aber so tief sie griffen, so stark sind die Äste, so breit sind die Zweige zur Krone gewachsen. In Ehren grau werden, heißt also wohl, der Baum sein, dessen Gestalt im Keim angelegt war. Du bist Dein Baum ganz geworden; das ist das Glück, das ist die Gnade, mit der Du gesegnet wurdest. Das ist die Ehre an Deinem siebzigsten Geburtstag, an die alle anderen Ehren nur wie die Pfeffernüsse und Äpfel an den Christbaum gehängt oder ihm wie die Kerzen aufgesteckt werden können.
Mögen Sie Dir fröhlich leuchten, Du lieber Christbaum!
Dein alter Wilhelm Schäfer.