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(1928)
Wilhelm Schäfers Anekdote vom alten Zieten wird zuerst vorgelesen.
Der Lehrer spricht, obwohl er eigentlich danach den Mund halten sollte:
Der Dichter dieser Geschichte vom alten Zieten wird scherzhaft der Anekdoten-Schäfer genannt, weil sein Name Wilhelm Schäfer häufig ist und weil sein bekanntestes Buch die Anekdoten sind. Was eine Anekdote ist, wißt ihr wohl schon: diese Geschichte vom alten Zieten zum Beispiel ist eine, die nicht in den Geschichtsbüchern steht, aber mehr Menschliches von dem alten Haudegen und seinem König sagt, als in den gelehrten Büchern berichtet wird. Solche Anekdoten gibt es von allen berühmten Leuten; je berühmter einer ist, desto mehr: sie erzählen das, was an ihnen volkstümlich ist. Deshalb müßte ein Buch wie das von Wilhelm Schäfer, in dem fünfzig solcher Anekdoten beisammen stehen, ebenfalls volkstümlich sein. Daß es dies noch nicht ist, kommt daher, daß es Dichtungen sind, zwar nicht in Versen, aber ebenso streng geformt.
Wenn zwei von euch die gleiche Geschichte erzählen, die sie unterwegs erlebt haben, so ist es nicht mehr die selbe Geschichte: sie kann bei dem einen knapp und spannend, bei dem andern verwurstelt und langweilig sein. Erzählen ist nämlich eine Kunst, das heißt, es kommt sehr darauf an, wie man anfängt und das Wichtige Stück für Stück nachkommen läßt, auch: welche Worte man braucht und wie man sie setzt, damit die Zuhörer etwas miterleben, was sie gar nicht gesehen haben. Es darf nicht von hinten und vorn durcheinander, sondern es muß genau so nacheinander erzählt werden, wie es geschah; und die Worte müssen wie die Pinselstriche auf einem Bild sein, daß nicht nur die Farben und Formen der Dinge deutlich sind, sondern daß es auch im ganzen wirklich ein Bild ist.
Nur malt der Maler alles in seinem Bild nebeneinander, was der Dichter, der ja nur Worte hat, nacheinander erzählen muß.
Über diesen Unterschied zwischen Malen und Dichten oder »über die Grenzen der Malerei und Poesie« hat Lessing, dessen zweihundertsten Geburtstag wir nächstens feiern, sein berühmtes Buch »Laokoon« geschrieben. Darin hat er das Handwerk des Dichters an dem alten Homer gezeigt. Wie es aber sonst mit dem Handwerk gegangen ist, so auch mit dem des Dichters: es kümmert sich keiner mehr so recht um die Regeln. Es wird darauf los gepfuscht; und von der Epik, wie wir die Kunst zu erzählen heißen, ist fast nur noch die Romanschreiberei übrig geblieben, wo alles mögliche durcheinander geschildert und dazwischen mitgeteilt wird, was der oder jener gesagt hat, bis es schließlich irgendwo schief oder gut geht.
Wilhelm Schäfer hat das auf diese Weise verlotterte Handwerk des Erzählers wieder in Ordnung bringen wollen. Darum hat er mit Anekdoten angefangen, weil die am einfachsten und volkstümlichsten sind; er hat aber danach auch Novellen und Romane mit der selben Strenge des Handwerks geschrieben, das heißt, er hat auch umständlichere Handlungen so im bildhaften Nacheinander erzählt, wie es Lessing aus Homer als das Gesetz der Epik erkannte. Er hat dies so getan, daß seine Sätze vom ersten bis zum letzten wie Ringe in einer Kette sind, wie ihr aus dieser Geschichte vom alten Zieten seht, »Wo nur das Notwendigste, aber auch das Unerläßliche gehörig faßbar dargebracht wird«, wie es Goethe den Dichtern geraten hat!
Hier klingelte es Gott sei Dank oder leider, sonst hätte der Lehrer die Geschichte vom alten Zieten noch einmal gelesen, statt weitere Worte darüber zu machen.