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(1925)
Seit einigen Monaten haben wir eine junge Katze; sie ist weiß und auf eine Weise buschig, als wäre ein Angorakater im Spiel gewesen. Als sie zu uns kam, war sie schon über das täppische Alter hinaus; und jetzt kann sie bereits an sich lecken wie eine Große. Aufgezogen wurde sie in einem Bahnwärterhaus, wo es einen Schulknaben namens Willy gibt. Wenn ich an meine eigene Knabenzeit und die Katzen darin denke, verstehe ich, warum diese weiße Katze so scheu ist; sie kann ihre Erfahrungen nicht los werden. Sie zu locken, vermag keiner; und gar sie zu streicheln ist ein gewagtes Kunststück, das meinem Sohn einen scharfen Biß in den Finger eingebracht hat. Offenbar kennt sie menschliche Hände nur in feindlicher Absicht.
Liegt sie in einem Zimmer, und man kommt hinein, steht sie auf, eine Sicherung zu suchen; geht man rasch in ihre Nähe, jagt sie fort in sinnloser Furcht. Wenn ich über sie nachdenke, so habe ich in ihr ein Wesen, dem das All in sämtlichen Formen der böse Feind ist. Wahrscheinlich zu früh von der Mutter gekommen, hat sie kein Gefühl der Geborgenheit außer in der Hut ihrer Sinne, die von überscharfer Wachsamkeit sind. Eben diese Sinne haben ihr die Erfahrungen ihrer Furcht zugetragen; nun der Anlaß zur Furcht nicht mehr da ist, sind sie noch immer Schreckenssignale.
Wenn ich ihr einen Woll- oder Papierknäuel hinwerfe, so springt sie nicht drollig hinterher wie andere junge Katzen, sie äugt nur scharf hin, schleicht im Gefühl einer Gefahr darauf zu, riecht daran und geht wieder in Deckung, ohne eine Pfote versucht zu haben. Es braucht aber nur eine Fliege im Zimmer zu sein, und sie ist ihr ausgeliefert. Mit der gleichen unheimlichen Wachsamkeit der Sinne folgt sie ihren Flügen, bis sich der surrende Punkt greifbar niederläßt und in die Krallen ihrer leise anschleichenden Pfoten fällt. Wie ihr die Umwelt das drohende Unheil ist, so droht sie selber.
Ich denke mir, wie dieser Katze müßte es sein, wenn ich als Mensch allein in der Welt wäre, ohne die Sprache und anderen Trost der Gemeinschaft auf meine Triebe und den Instinkt angewiesen: um mich her die Furchtbarkeit einer Natur, der ich ausgeliefert wäre mit dem Schrecken meiner Sinne, und der ich selber doch wieder Furcht erregend sein müßte. Wie nahe läge es, von hier aus an das schöne Edeltier der Renaissance zu denken, das in der Bewunderung Nietzsches so lockend vor uns stand! Und wie fürchterlich wird das einsame Edeltierleben in der Betrachtung meiner weißen Katze!
Außer dieser weißen Katze, die bezeichnender Weise noch keinen Namen gefunden hat, haben wir noch eine grau getigerte, Krampus geheißen, weil sie die Erbärmlichkeit selber ist. Sie fiel als Säugling vom Heuboden herab, behielt davon einen zweimal gebrochenen Schwanz und wurde in Ermanglung einer Katzenmutter von der Köchin aufgezogen. Die Folge ist, daß ihre Furcht ganz ungeweckt ist. Sie hüpft einem jeden mit ihrem Stummelschwanz vertraulich zu wie ein Kaninchen; und unser schwarzer Neufundländer spielt ein reizendes Spiel mit ihr, das sich die beiden ausgedacht haben: er nimmt den Krampus ganz in sein Maul, aber so, daß keiner der großen Zähne dem Körperchen weh tut; dann spuckt er den Krampus wieder aus und leckt ihn mit rührender Sorgfalt trocken.
Als derselbe Neufundländer, Tabu geheißen, heute zum ersten Mal in meinem Arbeitszimmer war, bellte er mit gesträubtem Haar und fletschenden Zähnen meine schwäbische Madonna samt ihrem gekreuzigten Sohn an; und es war gut, daß sie auf einem Eckschrank stehend über den Bildersturm lächeln konnte. Tabu bellte im Bereich der Furcht, aus dem alle Hunde bellen, bis etwas vor ihnen davon läuft und sie die Umkehr der Furcht beißend genießen können.
Warum verbellt und beißt Tabu den Krampus nicht? Weil zwischen ihnen keine Furcht ist. Warum aber spielt er mit ihm und leckt ihn rührend ab? Weil die göttliche Heilkraft der Furcht, die Liebe, ihr Schalkspiel treibt.
Der Krampus lebt noch ganz im Bereich dieser Liebe, er will von jedem eine Zutraulichkeit haben; die weiße Katze ist ganz außer ihrem Bereich. Oder doch nicht vollständig: Wenn es mir gelingt, sie im Schlaf zu überraschen – welch ein Täuscher ist der große Versöhner? – kann ich sie eine kurze Weile streicheln, und es fängt schüchtern in ihr an zu schnurren, bis sie erwacht und sich mit einem Sprung der Liebkosung entzieht. Wo die Furcht sie nicht hindert, ist sie der Liebe zugänglich; es bedarf also nur der Geduld, diese Zugänglichkeit zu wecken.
Wie tröstlich ist der Gedanke, daß alle Hölle – und wenn meine weiße Katze ein Bewußtsein ihres Furchtzustandes hätte, wäre sie in der Hölle – von der Liebe überwunden werden kann, weil die Liebe ein Urbestand, die Furcht aber nur eine Erfahrung ist.