Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Glosse über die Anzüglichkeit

(1928)

Neulich bin ich in einer größeren Stadt unseres Vaterlandes zu einem Gesellschaftsabend genötigt worden, der zum Besten der Künstlerhilfe im vornehmsten Hotel stattfand. Wie man mir flüsternd versicherte, war es die erste Gesellschaft der Stadt. Ob sich dies so verhielt, konnte ich nicht nachprüfen; es schien aber nach den Anstrengungen, die zur Unterhaltung gemacht wurden, tatsächlich der Fall zu sein, so daß ich eine Anschauung erhielt, wie sich die erste Gesellschaft wohl nicht nur in dieser Stadt unterhält.

Natürlich sang der »neue Tenor« ; eine reizende Gruppe wurde getanzt, und eine Dame vom Theater »rezitierte«. Es waren Tiergeschichten, nicht übel von einem Balten geschrieben und mit Geschick gelesen. Einmal ging es um die Eheirrung in einem Rabennest, und das andere Mal um dieselben Umstände zwischen dem Spatzenmann und der Spatzenfrau. Weil ich nicht im Tierschutzverein bin, kann ich nichts dagegen tun, daß diesen Vögeln Menschliches nachgesagt wurde. Was ich mich frage, ist nur dies, ob die Sprecherin mit Goethe, Stifter, mit Hölderlin, Kleist und Mörike die erste Gesellschaft der Stadt auch so gut hätte unterhalten können?

Gewiß, das sind Dichter für Feierstunden, nicht zur Unterhaltung zwischen Wein und Tanz; sie wären fehl am Ort gewesen, und das Lied von der Glocke hatten alle sowieso in der Schule durchgenommen gehabt. Also wäre eigentlich nichts zu erwähnen; denn immerzu kann man nicht tanzen, liebeln und schwatzen. Wenn nur nicht der schmunzelnde und kichernde Beifall der älteren Herren und der jüngsten Töchter genau an der Stelle eingesetzt hätte, wo eine Zweideutigkeit gesprochen wurde: mich belehrend, daß die Unterhaltung aus dem Geist der Anzüglichkeit geschah, der die Dichtung nur als Mittel zu seinem Zweck bemühte.

Nicht um zu moralisieren, scheint mir diese Erfahrung mitteilenswert, so bezeichnend sie als Zeichen unserer absinkenden Bildung ist, sondern weil ich in der ersten Gedankenverwirrung die sonst nicht gegebene Möglichkeit einer Verständigung sah. Denn um den nochmaligen Vergleich nicht zu scheuen: wenn die Dame vom Theater statt dieser Anzüglichkeiten etwa unpassenderweise die Urworte von Goethe gesprochen hätte, wären sie für die meisten gewiß orphisch geblieben; aber nicht, weil die Deutung dieser Worte schwieriger, sondern weil die Bedeutung jener Worte geläufiger war. Formal betrachtet, besaß die Gesellschaft eine überraschende Fähigkeit, Anspielungen zu verstehen, verdeckte Worte zu deuten und Beziehungen herzustellen, wie wir sie unserm geistigen Leben nur wünschen können: so kam ich inmitten ihres schmunzelnden und kichernden Beifalls auf den gar nicht spöttisch gemeinten Einfall, eine Belebung unserer Bildung aus dem Geist der Anzüglichkeit für möglich zu halten; wie ja auch sonst ein verlorenes Vermögen aus seinem Rest wieder gewonnen werden kann.

Da eben die Anzüglichkeit, mit der ein Augenscheinliches gesagt, aber eine verdeckte Bedeutung gemeint ist, den Reiz einer Dichtung fast mehr als anders ausmacht, sagte mir meine Torheit, bedürfe es nur eines erweiterten Interesses, sie auf andere Dinge als die sexuellen zu wenden, um eine vorhandene Fähigkeit des Geistes der Bildung dienstbar zu machen; wie ja auch vom Dekamerone Boccaccios trotz seiner Zweideutigkeiten eine Bildung ausging.

Indessen ich nach meiner Art sogleich anfing, in Gedanken dieses Interesse zu erweitern, mußte ich freilich bald seine Besonderheit sehen, nämlich die, daß keinerlei Interesse die Triebfeder dieser Anzüglichkeit ist, daß sie überhaupt keiner Triebfeder bedarf, weil sie unter einem Trieb steht, der als Urtrieb das menschliche Dasein fortpflanzt und der in ihr nur gewissermaßen ins Geistige entartet ist.

Die Anzüglichkeit bedient sich zwar des Geistes, aber nur, wie sich ein Dieb der Mienen des redlichen Mannes bedient. Der Trieb ist das Roß, auf dem sie ihre Reitkünste zeigt; es geht um die Sache selber, nicht um die Bedeutung. Und da es um die Sache, nicht um ihn geht, wird sich der Geist von ihr nichts versprechen können, als daß er für ihre Zweideutigkeiten immer anzüglicher bis zur Eindeutigkeit wird. Denn daß etwa der Trieb um der für ihn aufgewandten Künste willen den Geist freigeben könne in seine eigenen Gefilde, diese Hoffnung ist bei seiner Unbedingtheit gering. Es müßte schon ein stärkeres Roß kommen und ihn für sich entführen; wo aber sollte ein solches Roß sein?

Denn unter den sogenannten »niederen Trieben«, wie die altmodische Unterscheidung lautet, ist nur der Hunger stärker, dessen Geistigkeit die Koch- und Eßkünste bleiben; und die »höheren« sind auf die Ideale des Wahren, Schönen und Guten gerichtet, deren Götterdämmerung wir eben erleben.

Der ganze Bildungstrieb des neunzehnten Jahrhunderts, in dessen Zusammenbruch wir stehen, war – wie die Stiljagd zeigt, mit der er begann – mehr eine Nachahmung der Kultur in künstlichen Blüten als ihr eigenes Wachstum; er war anerzogene Bildung statt gestalteter Natur. Darum blieb er auch an eine sehr dünne Schicht gebunden, die den Verlust ihres Wohlstandes nicht erlebte, ohne an ihren vermeintlichen Idealen Schaden zu leiden.

»Wir haben nur noch Künstler, aber keine Kunst mehr!« hat einer den Zustand bezeichnet, in dem keine Einzelleistung mehr vom Gesamtwillen getragen wird. Nur aber, wo Gesamtwillen wirkt, kann Kultur sein; nur vom Gesamtwillen getrieben, kann Geistigkeit zur Kultur kommen: nur er, der Gesamtwillen könnte ihr, der Geistigkeit, das stärkere Roß geben.

Als Gesamtwillen unserer Zeit werden einer späteren die exakten Naturwissenschaften und ihre Tochter, die Technik, erscheinen und alles Schöngeistige, an ihnen gemessen, wie ein Tun »als ob«. Ein richtiger Knabe von heute will Techniker werden, weil er den Gesamtwillen oder, wie wir sagen: den »Impuls der Zeit« in sich fühlt; und die Abwendung von einer überständigen Bildung – die in den großen Umwertern am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, in Tolstoj, Nietzsche und Ibsen grollte und im Wandervogel zu ihrer volkstümlichen Auswirkung kam – ist eine Ehrlichkeit des Menschengeistes gegen sich selber. Bis er wieder eine ihm eigene Bildung, bis er Kunst nicht mehr als Luxus, sondern als notwendig gewachsene Form seiner selber hat, werden wir, schwer um ihr Dasein in uns ringend, die Ideale als unser Eigentum erobern müssen, die wir nur entliehen hatten.

Sich aber namens der Kunst mit Anzüglichkeiten unterhalten, heißt nicht nur den Geist mißbrauchen, sondern auch den Trieb mißachten, der als Heiligkeit des Daseins gehütet sein muß, heißt dreister Strandräuber des Lebens sein, dem Stürme die Schiffe zerbrachen.


 << zurück weiter >>