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(1937)
Zwei Formen gibt es zu leben: im Dienst stehen oder das Seine suchen. Es unterscheidet den Soldaten vom Bürger. Der soldatische Mensch hat seine Pflicht und sein Recht, seinen Wert und seine Ehre in einer von ihm beschworenen Weltordnung; der bürgerliche Mensch glaubt eine solche von sich und seinesgleichen aus einrichten zu können, um darin die Freiheit seiner ungestörten Weide zu haben: der eine dient der Welt, dem andern soll sie dienen.
Daß mein Bruder Johannes aus seiner Bürgerwelt soldatisch starb, macht die Merkwürdigkeit seines Todes aus, von der ich hier berichten will.
Er war zwei Jahre älter als ich und überragte mich fast um Haupteslänge. Von Jugend auf dem soldatischen Wesen verfallen, wäre er zu andern Zeiten gewiß Soldat geworden: Als er im Januar siebzehn Jahre alt gewesen war, meldete er sich zum Herbst freiwillig bei dem rheinischen Garderegiment der Kaiserin Augusta in Koblenz und meinte damit dem bürgerlichen Leben für immer den Abschied gegeben zu haben. Aber der Marschallstab, von dem er geträumt haben mochte, lag beim preußischen Heer durchaus nicht im Tornister des gemeinen Mannes. Nachdem mein Bruder seine drei Jahre abgedient hatte, »kapitulierte« er nicht, wie es seine Absicht gewesen war, sondern er kehrte ins bürgerliche Dasein zurück.
Er wurde ein rechter Bürger, hatte sechs Kinder und ein gutes Geschäft, war dreißig Jahre lang Stadtverordneter und erwarb sich als solcher die Achtung seiner Mitbürger. Das bürgerliche Dasein, zu dem er als Knabe nicht im geringsten lustig gewesen war, hatte ihn anscheinend mit Haut und Haaren verschluckt. Daß er mit siebenundsechzig Jahren abgehalftert wurde und den Rentner spielen mußte, war für seine Tatkraft ein Schicksal. Schwere Erfahrungen in seiner Familie kamen dazu, ihm das Dasein zu verleiden; und vor vier Jahren machte seine Apoplexie den ersten Versuch, das verleidete Dasein los zu werden. Sein robuster Körper hielt den Anfällen stand, sodaß er leidlich in sein zweiundsiebzigstes Lebensjahr kam.
Natürlich war ihm, wie jedem gedienten Mann, die Soldatenzeit die schönste seines Lebens und seine Stellung im Gardeverein das liebste von seinen Ehrenämtern. Aber wie unbedingt das Soldatische in ihm war, dies machte erst sein Tod offenbar.
Ich hatte ihn acht Tage vorher besucht und von einem Schlaganfall betroffen gefunden. Er saß hilflos da mit seinen aufmerksamen Augen, konnte aber noch mit seiner großen Gestalt aufrecht durchs Zimmer tappen und sich zu uns an den Tisch setzen; nur die Sprache war ihm, dem fröhlichen Sprecher, genommen. Nach meinem Weggang kam er zum Liegen, um nicht wieder aufzustehen.
In seiner Sterbenacht wurde er im Gegensatz zu seiner sonstigen Art unruhig; sein Blut begann gegen das Ende zu drängen, bis er noch einmal in Schlaf fiel. Auch seine Frau und Pflegerin war zuletzt eingeschlafen, als sie durch ein lautes Hier! aufgeschreckt wurde. Da saß mein Bruder Johannes stramm aufgerichtet im Bett, den Kopf erhoben und die weit geöffneten Augen auf seinen unsichtbaren Rufer gerichtet. Er, dem die Sprache genommen gewesen war, hatte sich auf seinen Namensruf mit einem lauten Hier gemeldet.
Mehr als ein halbes Jahrhundert war vergangen, seitdem er zur Reserve entlassen war, und er hatte ein reichlich gefülltes Bürgerleben hinter sich gebracht: aber als ihn der Tod rief, meldete der Soldat sich zum Gehorsam: Hier!
Zwei Formen gäbe es zum Leben, sagte ich: im Dienst stehen oder das Seine suchen. Daß wir Deutschen so unbegabt zur Demokratie und damit vor der Weltöffentlichkeit verworfen sind, macht unser Schicksal aus. Mitten aus der Verbürgerlichung heraus, in die sich der Schrecken des Weltkriegs retten wollte, rufen wir: Hier! und sind Soldaten!