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(1933)
Lieber Paul Ernst!
So also ist es: Man will im Rundfunk Nachrichten hören, ehe die Zeitung damit kommt – denn in diesen Tagen steht das deutsche Schicksal auf Messers Schneide – da sagt die Stimme aus dem Kasten mit dem Gleichmut, den auch die bösesten Mitteilungen noch haben, daß der »Schriftsteller« Paul Ernst gestorben sei. Was die Hiobsposten vorher nicht vermocht haben, bewirkt diese Nachricht. Ich tue einen Schreckensruf, dann sitze ich lange und denke immer das gleiche: So also ist es, wenn wir sterben! so wird es gesagt, und so wird es gehört!
Sie waren am 7. März ein Siebenundsechziger geworden; und ich hörte vor wenigen Wochen, daß Sie sich mit Todesgedanken trügen. Ich bin fünfundsechzig und weiß, daß man in unsern Jahren nicht umhin kann, das Ende eines Lebens zu bedenken, darin die Stunden mit jedem Tag schneller verrinnen; aber von da bis zu Todesgedanken ist weit. Nun staune ich schmerzlich, daß Sie wieder einmal der Wahrheit näher waren als die, die Ihnen die Gedanken ausreden wollten.
Wenn ich es unter dem Vorzeichen Ihres Todes überlege, so war dies überhaupt Ihre stärkste Eigenschaft, der Wahrheit näher zu sein als wir andern. Es gab für Sie eigentlich nichts Schwieriges. Sie hatten eine glückhafte Art zu denken: wie ein Angler mit der Fliege Forellen fängt, so waren Sie; ein Wurf der Angelschnur, und es glitzerte schon.
Wer Ihre »Erdachten Gespräche« liest, dem wird eine Schule gegeben, in dieser Mühelosigkeit zu denken; er muß sich wundern, daß es nur ein Band geworden ist, da Sie dieses Angelspiel offenbar beliebig hätten fortsetzen können. Nicht etwa, daß es spielerisch gewesen wäre: es zappelte jedesmal ein Fisch an der Schnur, und kaum einer, der nicht ein besonderer Fang war. Eine glückhafte Gegenwart des Geistes ließ Ihnen alles leichthin gelingen, was Sie anfaßten; und zwar nicht kraft eines Finderglücks, sondern durch Ihren klugen und beweglichen Geist.
Ich brauche es weder Ihnen noch sonst jemandem zu sagen, daß Sie kein Denker von jener Gedankenwälzkraft waren, daraus die Philosophen ihre Systeme machen. Es gibt bei Ihnen keinen Satz, den man zweimal oder mehr lesen müßte, ihn zu verstehen; alles fällt auf den ersten Hieb, und es ist ein buchstäbliches Vergnügen, Ihren blanken Darlegungen zu folgen. So selbstverständlich ist dieses Vergnügen, daß man oft genug wie der Reiter am Bodensee erschrickt, über welche Tiefen uns die Tragfläche Ihrer Gedanken hinweggeführt hat, ohne daß wir einbrachen.
Es gibt eigentlich keinen Geist im deutschen Lebensraum, den ich darin Ihres gleichen nennen könnte. Oft genug sind Sie mir in unserer schweren Zeit als ein Wunderkind erschienen, das wie der Knabe Mozart an Dinge rühren konnte, die sonst dem Alter vorbehalten bleiben. Denn obschon Sie seit langem schlohweiß waren, alt wurden Sie nicht. Sie blieben, wie jeder feststellen mußte, der in Ihre Nähe kam, zeitlebens ein Kind, nicht im Sinn kindischer Torheit, sondern in jener Einfalt, von der im Evangelium steht, daß wir anders nicht ins Himmelreich kommen.
Vielleicht waren Sie ein altkluges Kind; aber Sie hatten in Ihren Gedanken den Ariadnefaden, mit dem Sie sich getrost in die Labyrinthe der Gegenwart wagen konnten: ihre Selbstsicherheit, die in bescheidener Haltung ein ungebeugter Stolz, ein Hochmut im guten Sinn war. Aus dieser Selbstsicherheit machten Sie den umgekehrten Gebrauch des Problematikers von Ihren Gedanken: Sie zerdachten die Dinge nicht, sondern dachten sie zusammen. Ihre Einsicht war groß genug, in allem, auch in sich die Mächte zu erkennen, denen Sie sich bescheiden unterwarfen, um in dieser Bescheidung doch wieder stolz zu sein, weil Sie sich mit einer Mission begnadet fühlten. In dieser Mission waren Sie nicht einer unter andern, sondern der Einzige; wie ein Kind der Einzige ist als noch von keiner Einsicht gestörter Individualist, so waren Sie es durch alle Einsichten.
So nur konnten Sie ein Leben ertragen, das Ihnen keine Rosen auf den Weg streute: Ihre Dramen wurden nicht oder kaum gespielt, Ihre epischen Dinge sahen Sie mehr gerühmt als gelesen: wenn Sie für Ihre Gesammelten Werke keine Subskribenten gefunden hätten, wären sie zu Ihren Lebzeiten nicht gedruckt worden. Während Sie mit ungebeugtem Stolz am Traum des Nobelpreises hingen, wurden Ihnen in der deutschen Heimat die geringsten Ehren versagt. Erst die Wandlung des politischen Lebens schien Ihnen um Ihrer Gesinnung willen den Platz geben zu wollen, der Ihrem Rang gebührte; aber dazu kam es nicht mehr, weil Sie vorher starben.
Unsere beiden Leben haben sich nur kurz, aber heftig berührt. Als ich in den neunziger Jahren nach Berlin kam, waren Sie schon in Weimar, wo ich nie hätte wohnen können; und als wir uns zum ersten Mal im Düsseldorfer Schauspielhaus der Dumont sahen, wo Sie als Dramaturg wirkten, war es nur eine kurze Begegnung. Sie behaupteten das Primat der Bühne vor dem Dichter, und ich widersprach; so trennten wir uns schon nach zwanzig Sätzen für lange Zeit. Und wenn ich unsere kurze Freundschaft später überlege, war sie nur ein gründlicherer Versuch dieses Gespräches, der ebenso endigte und endigen mußte, weil wir nicht zueinander paßten, trotzdem ich Sie in einem nicht geringen Teil meiner Herzkammer lieb gewann.
Wir paßten nicht zueinander in der Verschiedenheit unserer Bildung. Als ich Sie zum ersten Mal in Ihrer unerhört reichen Bibliothek sah, droben in Königsdorf, wo Sie im bäuerlichen Gewand so weltfremd waren wie ein Mann der Studierstube weltfremd sein kann, war ich bestürzt, daß Sie all diese Bücher gelesen hatten. Was ich auch fragte, alles wußten Sie, nicht wie jene Alleswisser, die von jedem Ding sprechen können, sondern gründlich. All dieses ungeheure Buchwissen war in Ihnen lebendig; und ich zielte wohl nicht falsch, als ich das Urbild eines Humanisten vom Schlage des Erasmus vor mir zu sehen glaubte.
Ich kam mir bis zur Verächtlichkeit unwissend und ungehobelt vor; und es war tröstlich, daß ich Sie mit Hektor, Ihrem eigenwilligen Pferd, und in den andern Dingen der bäuerlichen Alltäglichkeit so rührend ungeschickt sah, weil ich meine praktischen Fähigkeiten dagegen stellen konnte.
Wir stammen beide, wie man so sagt, von kleinen Leuten: Ihr Vater war als Bergmann zum Steiger aufgestiegen, der meine war als Bauernsohn ins Handwerk geraten. Ob ich aus meiner Jugend und ihrer harten Nötigung zur Händearbeit je so ungeschickt hätte werden können, wie Sie es außerhalb Ihrer Gedanken waren? Sie sind als Knabe in Busch und Wiesen herum gestrolcht wie ich, und beide sind wir damals mehr Träumer als etwas anderes gewesen: wodurch kamen wir zu unserer Verschiedenheit? Wodurch anders als durch das Buch, das Ihnen frühzeitig die größte Liebe war, während ich noch heute eine heimliche Furcht davor habe. Durch das Buch sind Sie sozusagen legitim in die Bildung eingegangen, während ich mir oft genug wie ein plumper Einbrecher darin vorkomme.
Wenn ich bedenke, wie souverän Sie in ihren Dramen mit dem abendländischen Bildungsstoff schalteten, während ich mich mit meinem »Armennarr« Pestalozzi abquälte und zuletzt gar an den Schuhmacher Voigt als meinen »Menschenbruder« geriet, so scheint mir wirklich ein Abgrund der Bildung zwischen uns »befestigt«, über den ich von mir so wenig zu denen dort nach Worten des Evangeliums hinüber kommen kann, wie jene es von dort zu mir können.
Sie haben mir in einer bösen Stunde Undankbarkeit vorgeworfen, indem die Form meiner Anekdoten durch Ihr Vorbild bestimmt sei. Abgesehen davon, daß ich meine ersten Versuche ohne Kenntnis der Ihren schrieb, können Sie mir dieses Vorbild nicht gegeben haben aus jener Verschiedenheit unserer Naturen, von der ich sprach. Ich kann nur da ein Vorbild finden, wo ich in meinen Absichten gleichsam vorgelebt bin; dies geschah für mein Gefühl in den Kalendergeschichten Hebels, wie ich in meinem »Lebensabriß« dankbar bezeugte. Von Ihrer Epik trennt mich meine Natur. Ich bewundere die leichte Hand Ihrer Spitzbubengeschichten, wie Ihnen eine unerschöpfliche Fülle der Einfälle zufließt: ich könnte dergleichen nicht machen; aber ich möchte es auch nicht, weil ich nicht wie Sie einen Fall mit seiner Bedeutung hinsagen kann, sondern weil ich mich mit seinem Sinn herum schlagen muß.
Wo Sie reich sind, bin ich arm und muß als armer Mann mit dem Meinem schalten, um es als eigen zu erwerben. Damit spreche ich eine Kritik aus, indem ich nicht immer sehe, daß Ihre Dinge Ihnen völlig leibeigen geworden sind. Jene unerhört leichte Hand Ihrer Erdachten Gespräche ist auch in Ihren Dichtungen, in den Dramen wie in der Epik. Sie hat, wie dort, nichts mit Leichtsinn zu tun, sondern sie ist der Ausdruck Ihrer wunderkindhaften Begabung. Aber die leichte Hand hat Sie oft genug verführt, da aufzuhören, wo Sie wohl in der Lage gewesen wären, weiter zu gestalten. Wie es in der Fülle Ihrer Dramen den »Demetrios« gibt, so in Ihrer Epik Dinge wie »Papedöne« oder »Der Schatz im Morgenbrotstal«, wo meine Natur jubelnd anerkennt, die sich sonst wehrt.
Natürlich ist auch ein Ding wie Ihre köstliche Erzählung von den Schlachtschüsseln in seiner Art vollkommen; nur mag meine Natur diese Vollkommenheit nicht, die nur eine Art Inhaltsangabe vorstellt. Sie ist mir zu karg, und indem ich das sage, will es mir wiederum scheinen, der Unterschied zwischen uns sei nicht so sehr individuell als volkstümlich. Sie sind Norddeutscher und sind dies selbst in der Steiermark geblieben. Ich bin es als geborener Kurhesse auch; aber ich bin nicht ohne Einwirkung als Rheinländer aufgewachsen; wie ich nach meiner Natur und Neigung keineswegs ein Preuße bin, während Sie es durch und durch sind.
Nichts liegt mir ferner, als dies abschätzig zu sagen; aber wenn die Preußen den Süddeutschen gern westlerisch angehaucht nennen, so dürfen wir vielleicht zur Antwort geben, daß uns die Preußen im Gegenteil nicht östlich, sondern westlerischer vorkommen, als wir es selber sind. Jener Gegensatz von Staat und Reich, wie er gegenwärtig lebhaft diskutiert wird, weist den Preußen die Staatsidee zu wie uns Süddeutschen die Reichsidee. Tatsächlich ist es so, nicht nur in Bausch und Bogen gesprochen. Preußen ist gegen das Reich, nicht mit ihm groß geworden; und der größte König, den wir Deutschen in der Neuzeit hatten, wohnte nicht ohne Grund in »Sanssouci«.
Das Reich oder den Staat wollen, bedeutet eine verschiedene Stellung zur Deutschheit, welche verschiedenen Stellungen sich zueinander verhalten wie Natur und Wille. Hölderlin und Goethe wurden mit all ihrem Griechentum keine Humanisten, während Winckelmann sein Volk wie den Glauben seiner Väter in Italien verlor. Ich weiß nicht, ob es Hochmut ist, daß ich unsern Gegensatz als Natur und Wille zu deuten dreist genug bin, daß ich den Abgrund der Bildung zwischen uns eben hier befestigt sehe.
Darüber werden sich andere unterhalten können, wenn ich Ihnen in den Tod nachgefolgt bin. Daß der Raum der Bildung dann andere Gestalt angenommen haben muß als jener, darin wir beide aufwuchsen, war unsere gemeinsame Gläubigkeit. Was ich davon noch erleben soll, steht nicht bei mir; Sie sind gegangen, als das deutsche Volk bereit schien, seine Dankesschuld an Sie abzutragen. Nun Sie abgeschieden sind, wird es sich von Ihrem Werk beschenken lassen müssen, bis ihm das Denkmal im Herzen eines aus Marmor abringt.