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(1932)
Soviel ich nachträglich übersehe, muß ich mein stärkstes Goethe-Erlebnis Grillparzer verdanken, und zwar deshalb, weil mir bei ihm unversehens der Mensch Goethe vor Augen trat: nicht der junge aus »Dichtung und Wahrheit«, sondern der alte von Weimar.
Wir wissen doch alle, wie starr uns seine Erscheinung als die »Exzellenz«, der »Olympier«, bestimmt ist, und wie uns diese Starrheit hindert, dem Menschen ins Gesicht zu sehen. Man braucht nur in der Selbstbiographie Grillparzers seine Enttäuschung über den ersten Empfang bei Goethe nachzulesen, als er Ende September 1826 seinen Besuch in Weimar machte, um Worte für etwas zu finden, was wir heimlich gegen den Dichter auf dem Herzen haben: wie er seinen Gästen im schwarzen Rock steif aufgerichtet, den Ordensstern auf der Brust, »den Thee gesegnete«.
Wäre Grillparzer der und jener gewesen, so hätte er mit diesem landläufigen Bild der Exzellenz nach Wien heimkehren müssen; weil aber der fünfunddreißigjährige Dichter damals in seinem ersten Ruhm stand – er hat ihn bekanntlich zweimal erlebt, den ersten in der Jugend, den zweiten nach langer Vereinsamung im Alter –, so blieb es nicht bei diesem Tee. Nicht lange, so saß er beim Mittagsmahl, von Goethe selber an der Hand ins Speisezimmer geführt, zur Seite des Mannes, der ihm fast »eine mythische Person« war; auch wurde er mit der Ehre bedacht, für den Wechselrahmen in Goethes Besuchszimmer gezeichnet zu werden.
»Als ich mich des andern Vormittags einstellte, war der Maler noch nicht gekommen. Man wies mich daher zu Goethe, der in seinem Hausgärtchen auf und nieder ging. Nun wurde mir die Ursache seiner steifen Körperhaltung gegenüber von Fremden klar. Das Alter war nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Wie er so im Gärtchen hinschritt, bemerkte man wohl ein gedrücktes Vorneigen des Oberleibs mit Kopf und Nacken. Das wollte er nun vor Fremden verbergen, und daher jenes gezwungene Emporrichten, das eine unangenehme Wirkung machte. Sein Anblick in dieser natürlichen Stellung, mit einem langen Hausrock bekleidet, ein kleines Schirmkäppchen auf den weißen Haaren, hatte etwas unendlich Rührendes. Er sah halb wie ein König aus und halb wie ein Vater.«
Halb wie ein König und halb wie ein Vater! Ich kenne kein Wort über den alten Goethe, das so den Menschen enthält. Als ich es zuerst las, durchrann es mich warm wie ein Glück. Es stellt ihn in den höchsten Rang, den ein Mensch haben kann, und in die natürlichste Nähe. Von der Exzellenz bleibt im Hausgärtchen Goethes nichts übrig als die Erinnerung an »jenes gezwungene Emporrichten«, das nach der Schilderung Grillparzers keine seelische Steifheit, sondern der Wille ist, sich nicht gehen zu lassen: also Haltung.
Haltung kann eine angeborene, also natürliche Eigenschaft sein; nach der Herkunft des Wortes aus dem altgermanischen »haldan«, eine Herde hüten, einen Stamm regieren, bedeutet es die Erscheinungsform dieser hütenden, regierenden Tätigkeit, also höchster Bewußtheit des Menschen. Denn nicht nur der Hirt hütet und der König regiert, sondern jeder Mensch hat diese Hut und dieses Herrschertum nötig, mit sich selber fertig zu werden, weil dieses Selber die Summe seiner Triebe, Neigungen, Leidenschaften, Gedanken und Meinungen ist: wer keine Haltung seiner selber gewinnt, hat sein Menschentum vergeudet.
Wir wissen, daß Goethe die Haltung des »Olympiers« aus Italien mitbrachte. Der vereinsamt Heimgekehrte nahm die natürlichen Beziehungen zu seiner Umwelt in eine bewußte Behandlung, die nicht nur die andern, sondern auch sich selber betraf. Denn allem, was wir von seiner glücklichen Natur und der in ihr »prästabilierten Harmonie« glauben möchten, steht das erschütternde Wort an Eckermann vom 27. Januar 1824 entgegen, daß er in seinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt habe: »Es war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben sein wollte.«
Wenn er erklärend hinzu fügte, daß der Ansprüche an seine Tätigkeit, »sowohl von außen als innen«, zuviel gewesen seien, so hätte er das eine Wort »Verantwortung« noch sagen können, nicht zu diesem oder jenem, sondern zu dem Menschentum in sich selber. Dieses Menschentum war mit höchsten Gaben bedacht, aber eben darum mit höchster Verantwortung belastet. Es gibt keinen Menschen der neuen Zeit, der seine letzte Aufgabe so in sich selber sah, der sich sein eigenes Menschentum als »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, so aus der tiefen Gläubigkeit setzte, daß keine Macht und keine Zeit diese geprägte Form seiner selber »zerstückeln« könne. Der vermeintliche Heide trug eine Religion des Menschen in sich, die keine andere Erlösung sah, als sich »strebend« zu »bemühen« : er hatte das Kreuz seines Menschentums auf sich genommen.
Den Schlüssel zu diesem allen fand ich, als ich bei Grillparzer diese Worte »Halb wie ein König, halb wie ein Vater« las; deshalb verdanke ich ihm mein eigentliches Goethe-Erlebnis. Und nichts wünsche ich mehr, als daß ihm unsere Jugend, die sich so leichtfertig von seinem Vorbild abwendet, dieses Erlebnis verdanken möchte, zu ihrem Nutzen.